mediaesthetics : Visionen in der Krise

Deutsche Spitzenkandidat:innen zur Europawahl 2024


Dorothea Horst

Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Thomas J. J. Scherer

Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)
MORES – Moral Emotions in Politics


Das Europa-Parlament genießt in der politischen Öffentlichkeit Deutschlands traditionell einen zweifelhaften Ruf: Resterampe für ausgediente Bundespolitiker:innen und bürokratisches Monstrum, das entweder nichts vollbringt oder zu einschneidende Detailregelungen in Kraft setzt. Und dieses zweifelhafte Image schlägt sich – neben „eine[m] größeren Anteil von ungültigen Stimmzetteln, mehr Stimmen für kleine oder neue Parteien sowie häufige[n] Verluste[n] für die jeweiligen nationalen Regierungsparteien“ (Müller 2016: 53) – auch in der Wahlbeteiligung nieder (Europawahl 2019: 50,6%, Bundestagswahl 2021: 76,4% (Europäisches Parlament 2019; Bundeswahlleiter 2024 (1)). Schon die erste Europawahl 1979 zeitigte die Begriffsprägung einer „Nebenwahl“ oder „second-order election“ (Reif&Schmitt 1980) im Vergleich zu Wahlen im nationalen Kontext. Dieses Bild hat sich bei der Europawahl 2019 allerdings umgekehrt: Erstmalig gaben mehr als die Hälfte der deutschen Bürger:innen (57%) die europäische Politik als ausschlaggebend für ihre Entscheidung an (38% votieren für die nationale Politik; Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. 2019: 5). Seitdem haben die großen Krisen unserer Zeit nicht abgenommen: von der globalen Erderwärmung und dem Artensterben bis hin zum Krieg Russlands gegen die Ukraine. Sie stellen täglich aufs Neue unter Beweis, dass viele der drängendsten Herausforderungen konzertiertes Handeln auf europäischer Ebene erfordern, das jedoch mühsam ausgehandelt werden muss. In der Wahlwerbung der Parteien zur anstehenden Europawahl werden die dafür notwendigen konkurrierenden Deutungsangebote den Wähler:innen unterbreitet. Was Europa ist, worauf es sich gründet, wofür es (ein)steht, womit es nicht vereinbar ist, wer dazugehört und wer nicht, entwerfen die Parteien und ihre Kandidat:innen turnusmäßig in Programmen, Reden, auf Plakaten, in Posts – und in Wahlwerbespots und inszenieren sich dort als evidente Manifestationen dieser aktualen Entwürfe. Es sind gesellschaftliche Verständigungsprozesse und Kämpfe um Deutungshoheit unter politischen Akteur:innen gegenüber Bürger:innen, die hier stattfinden, und sie werden „auf ästhetischer Ebene ausgetragen“ (Scherer 2024: 4).







(1) Allerdings verzeichnet die Europawahl 2019 im Vergleich zur Europawahl 2014 einen deutlichen Wahlbeteiligungszuwachs von 42,6% (2014) auf 50,6% (2019); in Deutschland sogar von 48,10% (2014) auf 61,4% (2019) (Europäisches Parlament o.J.).


 Aus medien- und sprachwissenschaftlicher Sicht eröffnen die Europawahl-Kampagnen der Parteien, insbesondere die audiovisuellen Vorstellungen der Spitzenkandidat:innen, Einblick in einen gesellschaftlichen Diskurs, in dem Europa buchstäblich ‚zur Debatte steht‘ – ästhetisch, sprachlich, bildlich. Welche Sinnhorizonte bieten deutsche Parteien in ihren Spots im Angesicht von Klimakrise, politischem Rechtsruck, des Kriegs Russlands gegen die Ukraine und weiterer multipler Krisen? Wie adressieren sie die Zuschauer:innen und potenziellen Wähler:innen über ihre audiovisuelle Inszenierung und (Bild-)Sprache? Und welche ästhetische Gemeinschaftserfahrung des Publikums, welches Gefühl von (welchem) Europa entsteht dabei? Im Folgenden möchten wir die audiovisuellen Selbstinszenierungen der Spitzenkandidat:innen des deutschen Europawahlkampfs 2024 genauer in den Blick nehmen und untersuchen, mit welchem Bild einer Volksvertreterin/eines Volksvertreters um Zustimmung geworben wird. Uns geht es dabei nicht um eine Prognose über die Qualität oder Erfolgsaussichten einzelner Kampagnen, sondern darum, die audiovisuelle Herstellung von Protagonist:innen in Kandidat:innen- und Wahlwerbespots der Europawahl 2024 genauer zu beleuchten.


Aktuelle Umfragen und Prognosen für die Europawahl am 9. Juni 2024 deuten auf einen deutlichen Stimmenzuwachs rechtspopulistischer und euroskeptischer Parteien hin (Cunningham et al. 2024). Da das Europäische Parlament für alle Entscheidungen einem fraktionsübergreifenden Kompromisszwang unterliegt, ist eine Ersetzung der unliebsamen Regierung durch die Wahl einer Opposition, wie auf nationaler Ebene, nicht ohne Weiteres möglich: „Die europäischen Entscheidungsverfahren erzwingen eine Art permanente Große Koalition, die faktisch nicht abwählbar ist.“ (Müller 2014) Populistische und extremistische Parteien mit einer ablehnenden Haltung zur europäischen Integration scheinen hier für frustrierte Wähler:innen den einzig spürbaren Impact zu verheißen. Im 32. Jahr ihres Bestehens hat die EU somit ein Legitimitationsproblem. Die Aufstellung von Spitzenkandidat:innen eröffnet den Parteien eine Strategie der „europäischen Personalisierung“, die das abstrakte politische Geschehen durch die parteiliche Bindung und die Kandidat:innen greifbarer machen soll. Mit Bezug auf Karl Rohe verkörpern Wahlen laut Christina Holtz-Bacha (2000: 17) auf diese Weise politische Kultur, weil sie Politik einen sinnlichen Ausdruck geben und „Bezugspunkte für die emotionale Bindung der Mitglieder eines politischen Systems“ liefern. Um diese Bindung zu stärken und in ihrer Legitimität beständig zu halten, muss politische Kultur fortwährend aktualisiert werden. (2) In den diversen Formen und Formaten von Wahlwerbung der Parteien zur Europawahl wird der Legitimationsprozess der Institution EU exemplarisch als miteinander konkurrierende Deutungsangebote an die Wähler:innen greifbar.


Die Tendenz zur Personalisierung prägt sich auch in den audiovisuellen Inszenierungen der deutschen Parteien im aktuellen EU-Wahlkampf aus. Hierfür haben wir uns die zum Stichtag 01.05.2024 erschienenen audiovisuellen Kandidat:innenvorstellungen und Wahlkampfspots (3) der im Bundestag vertretenen Parteien SPD, GRÜNE, FDP, CDU/CSU (4) und DIE LINKE genauer angeschaut. Aufgrund des Spionageskandals um einen Mitarbeiter des AfD-Spitzenkandidaten Maximilian Krah sind bis dato keine Spots der AfD erschienen. Alle von uns betrachteten Parteien haben weibliche Spitzenkandidat:innen – bei der LINKEN gibt es eine weiblich-männliche Doppelkandidatur. Ein „Europawahlkampf der Frauen“, konstatierte die taz (2024). Mit diesem Augenmerk auf den Genderaspekt kommt die Frage auf, ob dieser auch in der audiovisuellen Inszenierung der Kandidatinnen eine Rolle spielt.






(2) Rohe (1987: 41–44, 1990: 340–342) bezeichnet das als Deutungskultur.

(3) Nach dem 01.05.2024 wurden weitere Wahlkampfspots veröffentlicht, auf die wir wo möglich ergänzend eingehen. Ausschlaggebend für unsere Überlegungen sind die audiovisuellen Kandidat:innenvorstellungen, die bereits vorab auf den Parteitagen als Wahlkampfauftakt präsentiert wurden.

(4) Aufgrund des deutschen Parteienföderalismus gibt es 16 Spitzenkandat:innen der Unions-Landeslisten. Wir haben uns dazu entschieden, diese nicht einzeln zu betrachten, sondern uns auf Ursula von der Leyen als von der CDU/CSU ausgerufene nationale Spitzenkandidatin zu konzentrieren, obwohl sie selbst faktisch nicht direkt wählbar ist. Auf den regionalen Spot der CSU wird nicht gesondert eingegangen.



Europäische Identitäten?

Hinsichtlich der Inszenierungen der Kandidatinnen von GRÜNEN und SPD fallen zuvorderst retrospektive audiovisuelle Ich-Erzählungen auf. Mit Katarina Barley und Terry Reintke erhalten die 2024er Kandidatinnenvorstellungen einen erkennbar persönlich-biografischen Zuschnitt, der an Spots vergangener Bundestagswahlen erinnert. (5) Der eineinhalbminütige Spot beginnt jeweils mit Familienfotos, der sich gleichermaßen in der Familienalbum-Ästhetik von geteilten Erinnerungen des Aufwachsens im Deutschland des 20. Jahrhunderts als auch geographisch „im Herzen Europas“ verortet – nicht irgendwo, sondern in einer spezifischen Region, die in Landschaftsaufnahmen explizit ausgestellt wird. Doch diese Utopie eines europäischen Regionalismus ist bedroht – Bilder des Krieges drängen sich in den Vordergrund und treiben die Handlung des Spots voran, und die Spitzenkandidatin nach Brüssel ins Europaparlament. Ausschnitte aus Parlamentsreden zeigen sie als emphatische Verteidigerin europäischer Werte und liefern im selben Zuge einen Arbeitsnachweis über die auslaufende Legislaturperiode. Die Kamera begleitet die Kandidatin auch hinter die Kulissen in stillen Momenten der Einkehr vor den ikonischen Fassaden des Europaparlaments und bei der Arbeit im Abgeordnetenbüro und im Bürger:innenkontakt, während auf der Tonebene die Eckpunkte der politischen Agenda knapp erläutert werden. Cameos bekannter Parteigenoss:innen aus der Bundespolitik führen die Nähe zu den nationalen politischen Diskursen vor Augen. Zuletzt blickt die Kandidatin direkt in die Kamera, appelliert an die Wähler:innen sie zu unterstützen und nennt dabei zur Erinnerung nochmals den eigenen Namen. Als Schlussbild erscheint dann das Parteilogo auf einer monochromen Farbfläche – so lassen sich sowohl der Vorstellungsspot von Katarina Barley (SPD) als auch von Terry Reintke (GRÜNE) zusammenfassen. Gibt es ein ‚europäisches Personalisierungs‘-Playbook der Marketingagenturen, das die Spots ununterscheidbar werden lässt? Welche Unterschiede lassen sich auf affektrhetorischer Ebene feststellen, und wie werben andere Kandidatinnen um die Gunst der Wähler:innen?

(5) Bspw. der SPD-Spot für Olaf Scholz oder der Beginn des CDU-Spots für Armin Laschet im Rahmen der Bundestagswahl 2021.




Clip 1: Vorstellungsvideo der SPD-Spitzenkandidatin Katarina Barley: „Wir kämpfen für EUROPA – Katarina Barley ist SPD-Spitzenkandidatin für die Europawahl 2024“. 1:29 Min. YouTube: spdde. Hochgeladen: 25.09.2023. Zuletzt abgerufen: 27.05.2024.
Clip 2: Vorstellungsvideo der Grünen-Spitzenkandidatin Terry Reintke: "Unsere Spitzenkandidatin für die Europawahl 2024: Terry Reintke" 1:30 Min. YouTube: BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN. Hochgeladen: 13.12.2023. Zuletzt abgerufen: 27.05.2024.

Der Unterschied zwischen den Selbstinszenierungen Barleys und Reintkes, der sich über die inhaltliche Zusammenfassung der beiden Spots nur schwer greifen lässt, wird deutlich, wenn man sich die Inszenierung genauer ansieht. Anhand des rhythmischen Profils, das basal anhand von Schnittfrequenz und Lautstärke visualisiert werden kann, zeigt sich bereits auf den ersten Blick, mit welchen unterschiedlichen Tempi und Intensitäten gearbeitet wird: Der Spot von Terry Reintke hat doppelt so viele Schnitte wie der von Katarina Barley (88 vs. 44) und unterlegt diese schnelle Montage mit einer lauteren und dichteren Tonspur aus Musik und Stimme (siehe Abb. 1).


Abb. 1: Schnittfrequenz und Lautstärke der beiden Kampagnenspots in der AdA-Timeline visualisiert. Höhe und Breite der Balken zeigen die Dauer jeder Einstellung in Millisekunden an. Die Höhe der Ausschläge in der Wellenform zeigt die Lautstärkedynamiken auf der Tonspur an. Für eine einfachere Übersicht wurden die jeweiligen Spuren in den Parteifarben der Kandidatinnen eingefärbt.
 Den affektiven Wendepunkt bildet in beiden Spots der Einbruch von Krisen in die zuvor aufgebaute Vision eines friedlichen, freien und wohlhabenden Europas. Katarina Barley inszeniert sich als Kind Europas, das sich nun im Dreiländereck rund um Trier niedergelassen hat, wo sich die Utopie Europa realisiert zu haben scheint: fruchtbare Weinberge, freie Bewegung zwischen friedlichen Nachbarstaaten und idyllische Kleinstädte. Doch als die EU als Friedensprojekt thematisiert wird, verändert sich der bisher angeschlagene Ton: Barley schreitet in einer Totalen in der bisher längsten Einstellung des Spots über einen weitläufigen Friedhof, den zahllose gleichförmige, schlichte Steinkreuze in engen Reihen bilden. Sie spricht aus dem Off von den Lehren der Geschichte, während sie sich in einer Halbtotalen bückt, um vor einem Grabstein einen Blumenstrauß niederzulegen. Dann ein, für den Spot einzigartiger Jumpcut, der nun Barley in stiller Einkehr vor dem Grabstein zeigt, während sie auf der Tonspur von der Notwendigkeit spricht, europäische Werte vor den Feinden der Demokratie zu verteidigen. Die Leichenberge der europäischen Geschichte werden in dieser kurzzeitigen Stillstellung der Protagonistin zur Zäsur im politischen Denken Barleys, die über die audiovisuelle Zäsur in der Inszenierung des Spots unterstrichen wird (siehe Abb. 2 in rot). Das Kind eines international-europäischen Paares, das in Frankreich studiert hat (wie uns der anfängliche Blick durch das Fotoalbum verrät), erhält so seine Politisierung, seinen Antrieb für das politische Engagement in der SPD. Neue Fotos erscheinen auf dem zuvor begonnenem Stapel persönlicher Erinnerungen, die nun Barleys politischen Werdegang illustrieren. Von hier nimmt der Spot seinen eingangs etablierten Rhythmus wieder auf, begleitet Barley nach Brüssel ins Europaparlament und kehrt zuletzt wieder in die provinzielle Idylle Südwestdeutschlands mit seinen Fahrradwegen und Wochenmärkten zurück. Hier sind die drohenden Krisen noch nicht eingetreten und dafür, dass es so bleibt, wie es ist, sorgt die Kandidatin mit ihrem politischen Engagement.



Abb. 2: Schnittfrequenz und Lautstärke der beiden Kampagnenspots in der AdA-Timeline visualisiert. Hervorhebung der audiovisuellen Einschnitte, die mit der Inszenierung politischer Krisen einhergehen.

Im Spot von Terry Reintke erfüllt die Bedrohung der Europäischen Union eine ähnliche dramaturgische Funktion: Nach etwa einem Drittel des Spots verändert sie den Ton der Ansprache und leitet von der persönlichen Geschichte und regionalen Verortung hin zu ihrem politischen Engagement in Brüssel über (siehe Abb. 2 in grün). Der Einschnitt sind hier sehr schnell geschnittene Aufnahmen in TV-Ästhetik, die die Zuschauer:innen blitzlichtartig mit Aufnahmen von Überschwemmungen, Protesten, dem Konterfei Vladimir Putins, militärischen Operationen und brennenden Hochhäusern konfrontieren. Gerahmt wird diese Krisenerfahrung durch die Massenmedien von zwei deutlich längeren Einstellungen, die das Gesicht der Spitzenkandidatin zeigen: zunächst das ernst-nachdenkliche Gesicht Reintkes, während sie zu Fuß zielstrebig durch das graue Brüssel läuft. Als Übergang zum Schnittgewitter dann kurz eine Halbnahe von Reintke, wie sie am Schreibtisch sitzend ernst in ihr iPad blickt und so die nachfolgenden Aufnahmen als Point-of-View-Aufnahmen fokalisiert – die Kandidatin blickt, so wie wir Fernsehzuschauer:innen, auf die beängstigende Nachrichtenflut. Nach den Bildern dann die demonstrativ lange Einstellung der nachdenklichen Politikerin am Fenster, die gedankenverloren über das unscharfe Häusermeer blickt, während sie aus dem Off darüber sinniert, dass es eine große Herausforderung sei, in solchen unsicheren Zeiten Sicherheit zu erhalten. Das Tempo der Inszenierung zieht nun wieder an, und in schnellen Schnitten werden die Katastrophenbilder von Bildern der intensiven parlamentarischen Zusammenarbeit abgelöst, die die Energie der Verunsicherung in Betriebsamkeit überführen sollen. So als ob man den Stammtisch-Vorwürfen, dass es sich bei den GRÜNEN um bildungsbürgerliche Utopisten handele, die keine Ahnung von echter Arbeit und den Errungenschaften des Wirtschaftsstandorts Deutschland hätten, zuvorkommen will, inszeniert sich die aus dem Ruhrgebiet stammende Reintke als stolzes Kind der (zu Unrecht?) in die Kritik geratenen Boomergeneration, die das harte Arbeiten und den Respekt vor dem erwirtschafteten Wohlstand in die Wiege gelegt bekommen hat. Zwar finden sich grüne Kernthemen (wie Umweltschutz und die Transformation hin zu einer nachhaltigen Wirtschaft) am Rande immer wieder, doch der Tenor des Spots ist eine konservativere Botschaft: „Wir müssen hart arbeiten um unseren Wohlstand zu erhalten“, und Reintke ist jemand, die das versteht und umsetzen kann. Inszeniert wird das als ein atemloses Staccato der Betriebsamkeit, das immer weiter anschwillt und erst in den Schlusseinstellungen, in der die Kandidatin sich direkt an das Publikum wendet, etwas zur Ruhe kommt. Im Blick zurück auf traumatische Geschichtslehren und gegenwärtige Krisen gegenüber einer verklärten landschaftlichen (Barley) oder kindlichen Idylle (Reintke) entfalten sowohl der SPD- als auch der GRÜNEN-Spot ein Europa in ästhetischen Schablonen und gängigen Narrativen: Standardszenen von Bürger:innennähe und parlamentarischem Engagement, Europa als Garant von Sicherheit und Wohlstand.


Von Vätern, Wohlstand und Sicherheit

Auch der Spot der CDU zeichnet sich durch eine retrospektiv geprägte Inszenierung weiblicher Macht aus. Allerdings kommen zwei entscheidende Unterschiede hinzu: Ursula von der Leyen tritt als sich wiederbewerbende Amtsinhaberin auf. Zudem bekommt sie bereits bei der Kandidatinnenvorstellung zur grundsätzlichen Legitimierung und rhetorischen Verstärkung einen Mit-Protagonisten an die Seite gestellt, der sich bei der Gelegenheit auch gleich als Spitzenkandidat für die nationale Politik in Stellung bringt. Wenig überraschend beschwört die CDU in ihrem Kampagnenvideo, wie der GRÜNEN-Spot, die Europäische Union als eine konservative Wertegemeinschaft: Die Spitzenkandidatin und amtierende Präsidentin der Europäischen Kommission, von der Leyen, eröffnet den Spot (wie schon Reintke und Barley) mit einem Verweis auf ihren familiären Hintergrund: „My father often spoke about Europe just as it was part of our family.“ Dazu werden Retortenbilder von familiärer Nähe zu sanfter Klaviermusik mit dem Gesicht der Kandidatin gegengeschnitten, die sinnierend von einem Bürofenster sanft lächelnd ihren Blick über die Skyline einer Stadt schweifen lässt. Ursula von der Leyen tritt so nicht als mächtigste Politikerin Europas in Erscheinung, sondern als Kind ihres Vaters, ebenfalls CDU-Politiker, der seine politische Karriere bei der Montanunion begann. Wie die Stock-Footage-Familienbilder sind auch die Stadtaufnahmen an keinen konkreten Ort gebunden, sondern setzen auf Repräsentation und Synthese, indem sie weniger bekannte Bauwerke aus unterschiedlichen Städten kombinieren (Mae-West-Skultpur aus München, der Glaskubus vor dem Berliner Hauptbahnhof und die Seine in Paris). In der indirekten Rede ihres Vaters mahnt die untertitelte von der Leyen im deutsch eingefärbten Englisch dazu, dass wir auf das wertvolle Europa achtgeben müssen, da es alles ist, was wir haben. Die Rede des Vaters wird so zur Doppeladressierung: Einerseits sind damit wir Wähler:innen angesprochen und andererseits Ursula von der Leyen und ihre Geschwister in der intimen wie unverfänglichen persönlichen Erinnerung der Spitzenkandidatin. In dieser Doppeladressierung richtet sich das paternalistische väterliche Mahnen also auch an die Zuschauer:innen, die nach der ästhetischen Logik des Spots gemeinsam mit von der Leyen als ‚brave‘ demütige Kinder(bürger:innen) entworfen werden.

Die Montage beschleunigt, und das Bildfeld teilt sich immer wieder in unterschiedliche Split-Screen-Anordnungen auf. Dazu ist eine glatte junge Männerstimme zu hören, die nun auf Deutsch die Europa-Vision der CDU zusammenfasst: Ein Europa, das „uns Deutschen“ Sicherheit bietet, das sich verteidigen kann, das eine „gewichtige Stimme in der Welt ist“, „wirtschaftlich stark und souverän ist“ und das Klima schützt. Dazu wieder Retortenbilder von gleitenden Autos auf Landstraßen, Datenautobahnen in Rechenzentren, Arbeiter:innen in den Fabriken der Zukunft und Wissenschaftler:innen bei ihrer Forschung. Nur bei der Forderung, dass Europa eine gewichtige Stimme in der Welt haben solle, werden Archivaufnahmen von Friedrich Merz und an zweiter Stelle von Ursula von der Leyen gezeigt. Auf das Schlagwort „Klima“ verdunkelt sich der Himmel, und ein Mann blickt in extremer Nahaufnahme besorgt nach oben – „aber wir leben in unruhigen Zeiten“. Der Donnerknall auf Tonebene wird durch den Bildumschnitt zur Explosion einer in ein Gebäude einschlagenden Rakete, die aus der militärischen Aufklärungsvogelperspektive den Einsatz von Waffen kühl dokumentiert. Der Spot belässt es bei diesen sehr vagen und kurzen Anspielungen auf Klimawandel und Angriffskrieg, und eine neue Stimme sorgt für Beruhigung. Zu Bildern freier Autobahnen und fröhlich kreisender Menschen auf Wiesen und in Innenstädten ist nun Friedrich Merz zu hören, der versichert, dass „das geeinte Europa“ das beste sei, „was uns Deutschen passieren konnte“. In rasanter Montage werden dutzende Gesichter unterschiedlichen Geschlechts und mit unterschiedlicher Hautfarbe mit der Europafahne überblendet. Kurz wird der Tonfall des Spots noch einmal ernst, wenn Merz anmerkt, dass Europa der Beweis sei, dass Menschen aus der Geschichte lernen können und dazu historische Bilder von Kriegszerstörungen des Zweiten Weltkriegs und der Berliner Mauer im Split Screen gezeigt werden. Europa sei der Beweis, dass ein Leben in Frieden und Freiheit möglich sei, aber dass „wir Europäer“ (!) uns darauf vorbereiten müssen, in den nächsten Jahren mehr für unsere Freiheit, Sicherheit und unseren Wohlstand tun zu müssen, als wir es in der Vergangenheit getan hätten. Die drei kampagnenleitenden Kernbegriffe werden dabei über den Bilderreigen gelegt und mit einem entschlossenen Punkt versehen. Über einen letzten Vierfach-Split-Screen glücklicher Familien ermahnt Merz, dass es bei der kommenden Wahl um viel ginge, nämlich „unsere“ Art zu leben, bevor zuletzt der Wahlkampfslogan – „IN FREIHEIT. IN SICHERHEIT. IN EUROPA.“ – und das Parteienlogo eingeblendet werden.



Clip 3: Vorstellungsvideo der CDU-Spitzenkandidatin Ursula von der Leyen: „🔴🎥 Live_Präsentation der Kampagne zur Europawahl“. 27:08 Min., daraus 00:00-01:40 Min. YouTube: CDUtv. Hochgeladen: 19.04.2024. Zuletzt abgerufen: 27.05.2024.

Der Spot nimmt so eine mehrfache Verschiebungsbewegung vor – zum einen von der Präsidentin der Europäischen Kommission und Spitzenkandidatin hin zum Bundesvorsitzenden der CDU und Kanzlerkandidaten in spe. Zum anderen wechselt er von einer deutschen Identität zu einer europäischen Verantwortung. Ursula von der Leyen, die mit Abstand mächtigste Kandidatin dieser Wahlen, wird durch ihren englischen Wortbeitrag in der Sphäre internationaler Politik verortet. Im Spot spricht sie jedoch nicht über die Errungenschaften und Herausforderungen ihrer laufenden Legislaturperiode, sondern tritt ausschließlich als Tochter in Erscheinung, die sich an das proeuropäische Plädoyer ihres Politikervaters erinnert. Sinnierend am Fenster blickt sie auf ein Europa, das in der Montage aus Stock-Footage-Stadtansichten und -Familienbildern collagiert wird und so trotz der emotionalisierenden Inszenierung auf werbeästhetischer Distanz zu den Lebenswelten der Zuschauer:innen bleibt (siehe Abb. 3).



Abb. 3: Europa aus der Bildretorte: Menschen- und Stadtansichten. „🔴🎥 Live_Präsentation der Kampagne zur Europawahl“ YouTube: CDUtv. 01:21 Min.

Die Kernpunkte des CDU-Programms werden den beiden Männerstimmen überlassen, die grundlegende Ziele der CDU auf europäischer Ebene benennen und die aktuellen Herausforderungen mahnend einordnen. Sie sprechen Deutsch und werden nicht durch die Einblendung von Untertiteln visuell von den Zuschauer:innen abgeschirmt. Auf inszenatorischer Ebene erscheint von der Leyen so als Abgesandte, während der namenlose Sprecher und Friedrich Merz die Sprache des Publikums sprechen und keiner Übersetzungsleistung bedürfen. Die Vermutung liegt nahe, dass man sich vom Oppositionsführer Friedrich Merz einen größeren Anklang beim Zielpublikum verspricht als von der amtierenden Präsidentin. Durch die Aufgabenteilung innerhalb des kurzen Spots entsteht so jedoch das Bild einer passiven Spitzenkandidatin, die von dominanten Männerfiguren umringt ist. Während Reintke und Barley bemüht darum sind, sich auf unterschiedliche Weise als Macher:innen zu inszenieren, entwickelt der CDU-Spot das Europabild einer patriarchalen Ordnung, die sich auf die Weisheit der Nachkriegsgeneration beruft und auf mahnende, starke (männliche) Stimmen in der Gegenwart angewiesen ist. Die Wähler:innen werden dabei primär als Deutsche adressiert, deren wirtschaftliche Stärke und politische Souveränität am besten in der Europäischen Union gedeihen könne. Das „Wir“ der Europäer:innen wird erst bemüht, als es um die erhöhten Anstrengungen geht, die ab jetzt erforderlich sind, um „unseren“ Wohlstand, „unsere“ Sicherheit und „unsere“ Freiheit zu erhalten (wobei die Referenz dieses wohlfeilen Wirs durch die inszenatorische Verschiebung des Spots von EU- auf Bundespolitikebene evident uneindeutig ist – ‚Wir Europäer [sic!]‘ oder ‚Wir Deutschen [sic!]‘?). Merz bringt sich so auch als Mahner innerhalb der EU in Stellung, der andere Mitgliedsstaaten in die Pflicht nimmt, ebenso ihren Anteil zu leisten. Eine Mahnung, die aufgrund der vage gehaltenen Bedrohung unserer Zeit notwendig geworden ist. Worin aber genau die Bedrohung unserer Lebensweise besteht, die zuletzt aufgerufen wird, und was es dementsprechend zu tun gilt, bleibt im Spot gänzlich undefiniert. Ob es beispielsweise der Klimawandel oder die Klimaschutzpolitik der anderen Parteien ist, die „unsere Art zu leben“ bedroht, wird der Interpretation der Zuschauer:innen überlassen. Es geht also auch in diesem Spot nicht um konkrete Haltungen gegenüber strittigen Themen der Europapolitik, sondern um ein affektiv aufgeladenes Bekenntnis zu Europa und um die Herstellung eines Bildes dieses so schwer greifbaren Europas in Zeiten der globalen Krisen. Ein Gefühl für Europa als von unseren Vätern ersonnene Zweck- und Arbeitsgemeinschaft, die Deutschland dabei hilft, seinen privilegierten Platz in der Welt beizubehalten.

Während die Spots von CDU, GRÜNEN und SPD so auf sehr ähnliche Weise ihre Spitzenkandidatin in einem Europa verorten, das sich auf die traumatischen Erfahrungen zweier Weltkriege gründete und nun im einundzwanzigsten Jahrhundert vor neuen, umfassenden Herausforderungen steht, wählen DIE LINKE und die FDP spürbar andere Zugänge:


Streitlust als Profil

Der Spot der FDP offenbart sich den Zuschauer:innen zunächst als Rätsel: In Grußkartenoptik animierte politische Sinnsprüche werden in etwas zu langen Einstellungen von einer hellen Frauenstimme vorgelesen. Dann bricht der langsame getragene Rhythmus schlagartig ab, ein treibender Elektrotrack setzt ein, und kurz flackert das Bild nur schwarz-weiß. Der Beat gibt so einen vielfach schnelleren Schnittrhythmus vor und die geschmacklosen Motive werden von minimalistischen Schlagworten abgelöst, mit denen die zentralen Wahlkampfthemen der Liberalen angesprochen werden (siehe Abb. 4). „Lassen wir Europa wieder für etwas streiten in der Welt. Freiheit. Demokratie. Innovation. Wirtschaft. Sicherheit. Weltoffenheit. Rechtsstaat. Streitbar in Europa. (Marie Agnes) Strack-Zimmermann.“



Clip 4: Vorstellungsvideo der FDP-Spitzenkandidatin Agnes Strack-Zimmermann: „Kampagnenpräsentation zur Europawahl 2024 der Freien Demokraten.“ 49:42 Min., daraus 00:00-00:52 Min. YouTube: FDP. Hochgeladen: 11.03.2024. Zuletzt abgerufen: 27.05.2024.

Das Image der Spitzenkandidatin als diskussionsfreudige Politikerin, die auch bei sensiblen Themen starke Meinungen vertritt, wird so durch eine audiovisuelle Komposition sinnlich erfahrbar. Das zähe und wohlfeile politische Bla-Bla wird durch erfrischend klare, moderne und prägnante Schlagworte durchbrochen, die schwarz-auf-weiß und weiß-auf-schwarz Klartext verheißen. Die ästhetische Intervention der audiovisuellen Zäsur (siehe Abb. 5) wird zur sinnlichen Erfahrbarmachung von Politik als Streit und Politikmachen als beherztem Streiten.



Abb. 4: Die kampagnenleitende Streitbarkeit als ästhetisches Vergnügen: Der Bruch mit Kitsch-Floskeln durch augenscheinlich klare Positionierungen. „Kampagnenpräsentation zur Europawahl 2024 der Freien Demokraten.“ 00:00-00:52 Min. YouTube: FDP.

Abb. 5. Schnittfrequenz und Lautstärkeprofil des FDP-Spots. Bruch vom audiovisuellen Schwelgen zu einem atemlosen Staccato. Die inhaltliche Positionierung wird so in nur 15 Sekunden auf den Punkt gebracht.


Das Streiten tritt dabei im Hinblick auf Europa in doppelter Hinsicht auf: zunächst als das Streiten Europas in der Welt für seine Werte und dann zugespitzt auf die Kandidatin als „streitbar in Europa“. Der Spot bleibt dabei rein grafisch, und keine fotografische Repräsentation der Kandidatin (oder bekannter Bundespolitiker:innen) ist in dem Spot zu sehen. Diese Form der Präsenz ist in anderen Kanälen der Kampagne dafür umso präsenter, insbesondere im sehr persönlich gehaltenen TikTok-Kanal der Kandidatin und auf Wahlplakaten, auf denen sie als „Oma Courage“ bezeichnet wird oder fordert: „Migration steuern. Sonst tun es die Falschen.“ Im Vergleich dazu suggeriert der Spot zwar Streitlust und klare Kante zu zeigen auf ästhetischer Ebene, die benannten Inhalte sind jedoch weitgehend politische Allgemeinplätze unter demokratischen Parteien. Der Spot setzt so deutlich weniger auf die narrative Ebene als die vorangegangenen Spots, sondern fungiert vielmehr als affektiver Stimulus, der ein bestimmtes Gefühl für die Kandidatin erzeugt, indem er deren öffentliches Image aufgreift und weiter zuspitzt. Im Hinblick auf die audiovisuelle Rhetorik lässt sich jedoch festhalten, dass durch die abweichende Adressierungsform eine andere Arena eröffnet wird, als bei den Kandidat:innen von CDU, SPD und GRÜNEN. Die Eigenheit der Kandidatin wird nicht biografisch begründet und erzählt, sondern auf einen Punkt verdichtet und als audiovisuelles metaphorisches Wahrnehmungsszenario erfahrbar gemacht.

Die Vorstellung der Kampagne sorgte dann auch, anders als bei den anderen Parteien, für einen öffentlichen Eklat. Denn das Oma-Courage-Plakat wurde nicht nur als Hinweis auf eine mutige Frau im fortgeschrittenen Alter gelesen, sondern der Bezug zu Brechts „Mutter Courage“ wurde als ironischer Bezug zu Strack-Zimmermanns zeitweiligen Mitgliedschaften in den rüstungsindustrienahen Förderkreis Deutsches Heer und der Deutschen Gesellschaft für Wehrtechnik verstanden. Ob bewusstes Kokettieren mit dem Image als Hardlinerin in Sachen Verteidigungspolitik oder peinliche Bildungslücke im neoliberalen Wahlkampfteam – zahlreiche kritische Stimmen meldeten sich im öffentlichen Diskurs zu Wort. Ob das der Kandidatin letztlich schadet oder ihre Streitbarkeit nur anschaulich unter Beweis stellt, ist zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Textes vor den Europawahlen nicht zu sagen.


Außerparlamentarische Opposition und Parteikader zugleich

Carola Rackete, als eine Hälfte der LINKEN-Doppelspitze, entwirft zu Beginn ihres Kandidatinnen-Spots kein affektives Europabild, sondern wendet sich im Stile einer bebilderten, elliptischen Parteitagsrede mit ihrem zentralen Anliegen an ihr Publikum: die Verbindung von Klima- und Sozialpolitik. Dabei wird sie als Quereinsteigerin in die Politik inszeniert – es ist so nicht der Gestus der mit allen Wassern gewaschenen Berufspolitikerin, sondern der der Aktivistin, die nur in die Politik geht, um konkrete Anliegen zu verwirklichen (siehe Abb. 6 oben). Rackete verortet sich jedoch eingangs auch kurz biografisch und verweist andererseits darauf, dass sie aus einem Dorf in NRW stamme, in dem sie auch heute noch lebe. Gleichzeitig erwähnt sie jedoch, dass ihre Politisierung stark von Reisen geprägt war, die sie als nautische Offizierin mit Forschungsschiffen unternahm. Weltgewandtheit und regionale Verankerung werden so zu zwei Pfeilern der Kandidat:innenbiografie erhoben. Das Engagement Racketes für die Wahrung von Menschenrechten Geflüchteter, das 2019 europaweit durch ihr untersagtes Ansteuern des Hafens in Lampedusa Medienaufmerksamkeit erfuhr, wird im Spot nicht direkt thematisiert. Es tritt nur in Form von „Seebrücke“-Bannern im Hintergrund in Erscheinung und wird vage als „Engagement auf dem Mittelmeer“ bezeichnet. Der Fokus gilt stattdessen der Klimakrise als globaler ökologischer Bedrohung und sozialem Problem, inszeniert als brennende ‚Blue Marbel‘, die in ihrer gigantischen Größe den Rahmen des Bildes zu sprengen droht.

Als Vorbild und Lösungsansatz wird Rosa Parks von Rackete benannt, die durch ihren zivilen Ungehorsam unter Beweis gestellt habe, wie kollektives Handeln gesellschaftliches Zusammenleben nachhaltig verändern könne. Im Hinblick auf Europa spitzt die Kandidatin im Schlussplädoyer ihres Spots zu, dass man vor der Wahl stehe zwischen einem gutem Leben für alle und Faschismus. DIE LINKE sei die einzige Partei, die keine Spenden von Konzernen annehme und für ein Europa der Solidarität streite. Der Spot kompiliert so Kernthemen von DIE LINKE und inszeniert das Jetzt des Europawahlkampfs als Moment der Entscheidung – Gut gegen Böse. Europa als Solidargemeinschaft wird dabei nicht ins Bild gesetzt, sondern die Inszenierung kombiniert Auszüge aus Reden und einem Interview mit persönlichen Erinnerungsfotos sowie Archivaufnahmen von Rosa Parks und der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Das Kampagnenvideo mutet so eher wie ein Kurzvortrag an, der audiovisuell argumentiert und sich durch seine ästhetische Hemdsärmeligkeit von den professionell produzierten Kampagnen der anderen Parteien abhebt.




Clip 5: Vorstellungsvideo der DIE LINKE-Spitzenkandidatin Carola Rackete: „Carola Rackete: Spitzenkandidatin zur Europawahl“ 1:36 Min., YouTube: DIELINKE. Hochgeladen: 12.04.2024. Zuletzt abgerufen: 27.05.2024.




Abb. 6: Die Doppelspitze als Kombination: Aktivistin als Quereinsteigerin und Berufspolitiker mit Ost-Biografie. Oben: „Carola Rackete: Spitzenkandidatin zur Europawahl“ 1:36 Min., YouTube: DIELINKE. Unten: „Martin Schirdewan: Spitzenkandidat zur Europawahl.“ 02:20 Min. YouTube: DIELINKE.

Als zweiten Spitzkandidaten und Listenplatz 1 schickt DIE LINKE den Co-Parteivorsitzenden Martin Schirdewan in den Wahlkampf. Er setzt in seinem Kandidaten-Spot auf seine Ostberliner Politisierung und streicht besonders sein Gerechtigkeitsempfinden bei sozialen Belangen und sein antifaschistisches Engagement heraus, das ihn politisch unausweichlich zur LINKEN geführt habe. Dieses Interesse an der Genese des Kandidaten geht mit der ausgiebigen Verwendung historischen Bildmaterials einher: das alte Ostberlin, Demonstrationskultur, die Nacht des Mauerfalls, NPD-Neonazis aus den 1990er Jahren. Auch bei Schirdewan wird die eigene Familie als entscheidender Einfluss auf das eigene Welt- und Politikverständnis explizit hervorgehoben. In der zweiten Hälfte des Spots rücken dann seine bisherigen Aktivitäten als Abgeordneter des Europaparlaments in den Fokus, und er tritt als professioneller Berufspolitiker in Brüssel in Erscheinung, der die Mächtigen mit unbequemen Fragen konfrontiert. Als er zuletzt nach Vorbildern gefragt wird, weigert er sich „Big Shots“ der Politik zu nennen, sondern verweist auf die zahlreichen Menschen, die im Alltag für soziale Gerechtigkeit einstehen. Damit geht Schirdewan zwar inhaltlich auf Distanz zu den anderen Bundestagsparteien, ist aber bildsprachlich deutlich näher an den Politiker:innenbiografien von SPD, GRÜNEN und CDU. Die Co-Kandidatur Racketes wird so nach der Neuaufstellung der LINKEN, im Zuge der Abspaltung des Flügels Wagenknecht, durch einen klassischen Kandidaten vertreten, der die Kernthemen der Parteibasis repräsentiert (siehe Abb. 6 unten). Es scheint so, als würde DIE LINKE mit diesem Kandidat:innenduo ein Gleichgewicht zwischen Neuanfang und Besinnung auf alte Grundtugenden suchen, um auf diese Weise unterschiedliche Parteiflügel anzusprechen.



Clip 6: Vorstellungsvideo des DIE LINKE-Spitzenkandidaten Martin Schirdewan: „Martin Schirdewan: Spitzenkandidat zur Europawahl.“ 02:20 Min. YouTube: DIELINKE. Hochgeladen: 18.04.2024. Zuletzt abgerufen: 27.05.2024.


Der lange Arm des Bundestagswahlkampfs

Kurz vor Abschluss der Arbeiten an diesem Text veröffentlichen die analysierten Parteien nach und nach ihre Fernseh-Wahlwerbespots. Besonders auffällig ist dabei, dass die Personalisierung des audiovisuellen Wahlkampfs, und damit die Rolle der Spitzenkandidat:innen, deutlich zurückgedrängt wird.

Am markantesten zeigt sich das wohl im Spot der SPD: Das bürger:innennahe Europa ohne Grenzen weicht einer kühlen Bebilderung der wenig originellen Metapher von Politik als bedrohlicher Schachpartie. Hinter dem Schachbrett sitzen Olaf Scholz und Katarina Barley, wobei jedoch der Kanzler als der eigentliche, kühle Stratege inszeniert wird, der maßgeblich die Figuren vorausschauend bewegt und damit die ‚Bedrohungen in Schach hält‘. Es geht hier also im reichweitenstärkeren Spot nicht mehr um die Gefühls- und Wertegemeinschaft Europas, sondern darum, die starke Hand zu wählen, die das drohende Chaos im Zaum hält. Zwar bezeichnet der Kopf der „Kanzlerpartei“ in seinem Schlusssatz Barley als „die starke Stimme in Europa“, doch die Spitzenkandidatin bleibt auffällig passiv. Sie darf selbst nur noch einen vagen Aufruf zur Wahl von „Frieden und Sicherheit. Gerechtigkeit und Zusammenhalt“ in die Kamera sprechen, ohne ein eigenes Profil zeigen zu dürfen. Der Spot stellt so eine 180°-Wendung in der audiovisuellen Präsentation der Spitzenkandidatin dar und wirkt, als wäre Barley eher zufällig in einen Bundestagswahlkampfspot geraten, der ganz auf Scholz’ öffentliches Image zugeschnitten ist.



Abb. 7: Europapolitik als strategisches Schachspiel. „Bedrohungen in Schach halten - SPD wählen! | Wahlspot Europawahl 2024“ 1:00 Min., hier 00:46. YouTube: spdde. Hochgeladen: 25.04.2024. https://www.youtube.com/watch?v=12hFnjv6EKc (zuletzt abgerufen: 27.05.2024).

Ähnliches lässt sich für den CDU-Spot und die Rolle von der Leyens konstatieren: Der Spot reduziert zunächst die Stock-Footage-Bilder von familiärer Intimität und europäischen (Stadt-)Landschaften etwas und lässt dafür (weiße) Bürger:innen auf der Straße zu Wort kommen, die in die Kamera erzählen, warum die EU für sie wichtig ist. Merz insistiert, dass Europa das Beste sei, was „uns Deutschen“ hätte passieren können, und ein Versprechen unserer Eltern und Großeltern an uns. Doch dann werden die Bedrohungen unserer Zeit als audiovisuelle Unruhe inszeniert, die ihren Gegenpol im selbstsicheren Auftreten von Merz finden. Von der Leyen tritt ab und zu als Nebenfigur in Erscheinung, doch die Kamera präferiert eindeutig den Kanzlerkandidaten. Es entsteht so durch die Bildrhetorik ein hierarchisches Verhältnis zwischen den Politiker:innen, das Merz als Kontrollinstanz und Machtpol erfahrbar werden lässt (siehe Abb. 8). Wie schon bei Barley zuvor, erhält die Spitzenkandidatin nur ganz am Schluss des Spots das Wort und den visuellen Erscheinungsraum und richtet einen sehr allgemeinen Wahlappell an ihr Publikum, nur um dann den Slogan der CDU – „In Freiheit. In Sicherheit. In Europa“ – als Schlusspunkt zu setzen. Es bleibt jedoch der Eindruck, als würden die beiden Spitzenkandidatinnen durch die männlichen Bundespolitiker in Abseits gedrängt.



Abb. 8: Fokusverlagerung auf Friedrich Merz. 
„Europawahl 2024: In Freiheit. In Sicherheit. In Europa“ 1:17 Min., hier 00:34. YouTube: CDUtv. Hochgeladen: 04.05.2024. https://www.youtube.com/watch?v=JN0MQtHNSUo (zuletzt abgerufen: 27.05.2024).

Im Spot der GRÜNEN treten zwar ebenso die Bundespolitiker:innen Habeck und Baerbock ausgiebiger in Erscheinung als zuvor, doch Reintke bleibt Dreh- und Angelpunkt der Inszenierung. Ihre Stimme führt die Zuschauer:innen durch das Kampagnenvideo. Sie behält das Bild des Machens und Anpackens als den Kern ihrer Kampagne, was sich unter anderem in dem prominenten Greenscreen als Requisit äußert, der Teilen des Spots den Anschein eines Making-Ofs verleiht. Heterogenes Bewegt- und Standbildmaterial fügt sich zu einer audiovisuellen Rede, die im Slogan „DAGEGEN sein ist keine Lösung. MACHEN WAS ZÄHLT.“ gipfelt und so retrospektiv die Inszenierungen politischen Handelns hervorhebt: Habeck als einsamer strategischer Denker nachts am Laptop, Baerbock, die aufrecht dem projizierten Bild Putins entgegentritt und schließlich die Point-of-View-Aufnahme eines Tabletts mit Lebensmitteln als soziale (Essensaus-)Gabe. Zuletzt finden die drei Stimmen der Politiker:innen metaphorisch aufgeladen in einem Chor zusammen: Baerbock: „Für Gerechtigkeit und Freiheit.“, Habeck: „Für Wohlstand und Klimaschutz.“, Reintke: „Für Deutschland.“, Gemeinsam: „FÜR EUROPA“ (siehe Abb. 9). Die GRÜNEN setzen so auf ein harmonisches und wenig (be-)merkenswertes Bild einer ausbalancierten Europa- und Bundespolitik.



Abb. 9: Balance zwischen Bundes- und Europapolitik. 
„Machen, was zählt! – Wahlwerbespot zur Europawahl von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN“ 1:00 Min., hier 00:47 und 00:49 Min. YouTube: DieGruenen. Hochgeladen: 03.05.2024. https://www.youtube.com/watch?v=jkqjuv7vvgs (zuletzt abgerufen: 27.05.2024).

Der Fernsehspot Strack-Zimmermanns zielt auf ehrliche Authentizität ab, will weniger den Eindruck von Wahlkampfrhetorik als vielmehr intimer Selbstreflexion wecken. Der Monolog der Kandidatin wird von Schwarz-Weiß-Bildern unterlegt, die stets ihre Haptik und Materialität ausstellen: zu Beginn etwa ihre Stirnfalten in extremer Nahaufnahme und ihr graues Haar, das mit den Stacheln eines Stachelschweins parallelisiert wird. Die Spitzenkandidatin greift einen kritischen Kommentar auf – „Boah, die Alte nervt!“ – und wendet ihn über den Verlauf des Spots ins Positive. Das Alter wird zur politischen Reife und das Nerven zur moralisch motivierten politischen Streitfreudigkeit umgewidmet, die sie nicht in den Ruhe- bzw. Stillstand gleiten lassen. Im Vergleich zu GRÜNEN, SPD und CDU zieht die FDP so ein ganz anderes ästhetisches und affektives Register. Die Spitzenkandidatin muss sich die Bühne hier auf repräsentativer Ebene mit keinem übermächtigen Bundespolitiker teilen, sondern ihr gebührt die alleinige Aufmerksamkeit. Dass die Kampagne eins-zu-eins die Stilistik der ‚ehrlichen Authentizität‘ der Lindner-Spots von 2017 und 2021 kopiert (siehe Abb. 10), wird den meisten Zuschauer:innen nicht entgehen – ob das der Wirkung des Spots Abbruch tut, bleibt abzuwarten.



Abb. 10: Selbstreflexion im Stile Lindners (links): „Streitbar in Europa - Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann Spitzenkandidatin der Freien Demokraten“ 1:30 Min., hier 00:08 Min. YouTube: FDP. Hochgeladen: 07.05.2024. https://www.youtube.com/watch?v=dgL7fzwkrcU (zuletzt abgerufen: 27.05.2024).
Reflexionsmomente im Politikbetrieb (rechts): „Wahlspot zur Bundestagswahl 2021 Nie gab es mehr zu tun“ 01:30, Min., hier 00:10 Min. YouTube: FDP. Hochgeladen: 01.09.2021. https://www.youtube.com/watch?v=ADq6Hmvx5cA (zuletzt abgerufen: 27.05.2024).

Wie bereits die CDU beginnt DIE LINKE in ihrem TV-Spot mit einer Aneinanderreihung von Bürger:innenstimmen. Doch hier werden nicht die Vorzüge der EU hervorgehoben. Stattdessen stellen auf unterschiedliche Weise benachteiligte Bürger:innen mit direktem Blick in die Kamera die rhetorische Frage, ob die verfehlte Sozialpolitik, bei der nur die großen Konzerne profitieren, gerecht sei. Schirdewan (alleine) bestärkt zuletzt diesen Unmut, unterstreicht die Ungerechtigkeit und bemerkt, dass Gerechtigkeit „nur mit Links“ möglich sei (siehe Abb. 11). Von der zweiten Spitzenkandidatin fehlt jede Spur, und es entsteht der Eindruck, als hätte sich in der Zwischenzeit ein Flügelkampf innerhalb der LINKEN einseitig entschieden. Statt Neuanfang und der Verbindung von Sozial- und Klimagerechtigkeit bleibt ein ‚konservativer‘ linker Wahlkampfspot, der nicht zum politischen Aufwind abseits eines Protestparteistatus beitragen wird. Der Bezug zu Europa bleibt vage und, bis auf einen kurzen Verweis auf die Wahlen am 9. Juni, könnte er genauso für Wahlen auf Bundes- und Landesebene verwendet werden.



Abb. 11: Halbes Spitzenduo. „Gerechtigkeit geht #nurmitlinks: Am 9. Juni Die Linke wählen!“ 01:10 Min. hier 00:54 Min. YouTube: DIELINKE. Hochgeladen am 09.05.2024. 
https://www.youtube.com/watch?v=8E2SHNWHgm4 (zuletzt abgerufen: 27.05.2024).


Bilderkanon statt Bilderstreit

„EU-Wahlkampf in Deutschland: Es geht um viele Themen, aber selten um Europa“ konstatiert der Tagesspiegel gut zwei Wochen vor der Europawahl. Dabei zeigen die analysierten Spots interessante thematische Parallelen auf: Vor allem die autobiografischen Bezüge der Kandidatinnen stechen hier ins Auge, die sicherlich den Anspruch erheben, Europa den Bürger:innen auf eine persönliche Art und Weise näher zu bringen. Auch die angesprochenen Herausforderungen und Krisen, die es zu bewältigen gilt, ähneln sich: Klimakatastrophe, russischer Angriffskrieg, Rechtsruck. Nichtsdestotrotz verbleiben die Spots hinsichtlich ihrer Begründung von, und Haltung zu, Europa in einer Aneinanderreihung von Schlagworten, die sich zu keinem stimmigen Narrativ fügen wollen. Stattdessen: große Begriffe, wie Freiheit, Wohlstand, Sicherheit usw., die einerseits unpräzise bleiben, weil sie viel beinhalten und gleichzeitig vage Abgrenzung (zu einer pauschalen Gegenposition) bieten. Narrative, sofern überhaupt vorhanden, sind einzig traditioneller Provenienz und werden als ästhetische Klischees reproduziert. Dabei wird vor allem auf die Autorität der (männlichen) Eltern- und Großelterngeneration, auf Verantwortung und Errungenschaften zurückgegriffen, die sich in ihrer immer gleichen Wiederholung in einen etablierten Begründungskanon für die EU einfügen: Friedenssicherung, Reisefreiheit, Demokratie, Binnenmarkt und Wohlstand.(6)

(6) Obendrein wird der EU-Bezug bei SPD, CDU und GRÜNEN durch die dominante Präsenz bundespolitischer Akteur:innen („der Kanzler“, Friedrich Merz und Baerbock/Habeck) verwässert.

Möglich, dass medienspezifische Aspekte hierfür eine nicht unwesentliche Rolle spielen. Die Spots zeichnen sich in ihrer audiovisuellen Inszenierung als fernsehtauglich aus und adressieren ein Publikum höheren Alters: beispielsweise in der Ansprache der Boomergeneration sowie in der Thematisierung der Nachkriegszeit und des Erbes der Eltern und Großeltern.(7) In keinem der analysierten Spots erfolgt eine Ansprache der historisch jungen Erstwähler:innen, ihrer Errungenschaften oder besonderen Rolle bei zukunftsweisenden Entscheidungen. Interessanterweise sind es die Kleinparteien, die bei nationalen Wahlen mit der Fünfprozenthürde kämpfen müssten (FDP, DIE LINKE), die hiervon am ehesten abweichen. Da die beiden Parteien bei der Europawahl aber wohl selbst in den niedrigen Prozentbereichen rangieren werden, ist kein markanter Einfluss auf die Wahlergebnisse zu erwarten. Sie positionieren sich stärker in ihren audiovisuellen Wahlkampfauftritten und setzen die mediale Aura ihrer Spitzenkandidat:innen markanter ein. Die FDP inszeniert sich hier als streitlustiger (Bundespolitik-) Juniorpartner, während DIE LINKE mit Carola Rackete versucht, die außerparlamentarische Opposition ins Parlament zu holen und mit Rosa Parks ein historisches Vorbild aus einem antirassistischen, dekolonialen Kontext bemüht. Allerdings bleibt die Abweichung in beiden Fällen formal. Bei der FDP stehen zwar Kritik und Streitlust im Zentrum und die Forderung, es müsse anders werden – auf welche Weise, bleibt jedoch offen. Im Falle der LINKEN bleiben sowohl Rosa Parks als auch Carola Rackete als alternative Formen der Machtkritik und politisches Potenzial lediglich oberflächlich, denn sie finden im TV-Spot keinerlei Erwähnung. Der ‚Europawahlkampf der Frauen‘ erhält so spätestens mit der Veröffentlichung der zeitlich nachgelagerten Fernsehspots einen faden Beigeschmack. Barley und von der Leyen werden dort zu wortkargen Beisitzerinnen der männlichen Prominenz aus der Bundespolitik, und DIE LINKE unterstreicht durch die Aussparung Racketes, dass diese nicht nur symbolisch auf Listenplatz 2 steht. Am eigenständigsten, und audiovisuell ambitioniertesten, tritt Strack-Zimmermann in Erscheinung, bis sich nach und nach der Verdacht erhärtet, dass ihr Spot stilistisch die Lindner-Kampagne der letzten Bundestagswahlen bis ins Detail kopiert. Es scheint so, auch audiovisuell, keine signifikante Tonveränderung in der deutschen Europapolitik anzustehen.

(7) Spots in den sozialen Medien, beispielsweise bei TikTok, haben keinen Eingang in unsere Untersuchung gefunden. Die Strategien sind dort deutlich divergenter. Es scheint grundsätzlich so zu sein, wie es medial bereits aufgegriffen wurde: Während CDU, SPD und GRÜNE haben eine deutlich geringere Reichweite in den sozialen Medien, während FDP und AfD sich dort deutlich mehr zu Hause fühlen.

Wichtige Themen der EU-Politik bleiben also weitgehend ausgespart – insbesondere die Spots von CDU, SPD und GRÜNEN fallen diesbezüglich ins Auge. Sie verpassen es, parteispezifische Akzente zu setzen, sondern ziehen sich auf Allgemeinplätze eines vagen europäischen Patriotismus zurück. Ästhetisch manifestiert sich das in altem Wein in aktuellen Schläuchen – Inszenierungen einer historischen Freiheits-, Demokratie- und Friedensverantwortung im Angesicht gegenwärtiger multipler Krisen werden zu Bekenntnissen zu Demokratie und zur Vermeidung von Kriegen in Europa. Wäre anstelle eines vagen Lippenbekenntnisses gegen rechtsextreme Positionen eine Belebung des demokratischen Diskurses zwischen den Parteien als aktives Aushandeln und Streiten um die wesentlichen Dinge nicht eine deutlich effektivere Strategie, faschistischen Tendenzen in Europa entgegenzuwirken? In den analysierten Spots gibt es hingegen keinen Platz für heikle und schwer zu lösende Konflikte. Vielmehr wird Europa zusammengesetzt als Mosaik etablierter ästhetischer Schablonen und bildlicher Vergegenwärtigungen, die anderen Kontexten entlehnt werden und auf Distanz zu den Lebenswelten der Zuschauer:innen bleiben. Europa erhält damit kein eigenes aktuelles Bild. Es wird beliebig, und zwar für beide Seiten: für die Parteien und die Wähler:innen. Im Gegensatz dazu könnten Positionen, die Ungemütliches ansprechen, einen demokratischeren Anschein erwecken und Wähler:innen deutlich effektiver adressieren.

In ihrer medienästhetischen Ähnlichkeit verweisen die Spots auf ein tieferliegendes Defizit, das über die anstehende Europawahl hinausgeht. Ihre Homogenität und Kanonisierung ist ein Indikator für den politischen Diskurs um Europa, dem es erkennbar an Visionen für den Staatenverbund mangelt. Dies wird evident an der fehlenden Multiperspektivität auf ästhetischer Ebene: Die Spots entsprechen sich zu sehr. Vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher Spannungen, Konflikte und Krisen, die grundlegend medial ausgetragen werden, ist eine audiovisuelle Medienkompetenz hinsichtlich ästhetischer Formen von zentraler Relevanz. Als Medienwissenschaftler:innen nehmen wir hier eine zuschauer:innenorientierte kritische Perspektive ein, die darauf abzielt, „die Mittel zu dekonstruieren, mit denen in diesem Genre Vorstellungen einer gemeinsam geteilten Welt von Zuschauer*innen und Film hervorgebracht werden“ (Scherer 2024: 8). Indem wir politische Implikationen audiovisueller Inszenierungen der Kritik zugänglich machen, wollen wir zuvorderst einen Beitrag zur allgemeinen politischen Bildung leisten. Wahlkampfspots sind wichtige Schnittstellen zwischen Bürger:innen und Parteien, an denen Gefühle und Verständnisse von politischen Möglichkeitsräumen hervorgebracht werden (Horst 2018: 215). Die fehlende Multiperspektivität auf Ebene der Spots geht aus unserer Sicht Hand in Hand mit einem evidenten Mangel an politischem Profil, Streit und, letztlich, an spezifischen Visionen auf europäischer Ebene. Als Barometer für die zeitgenössische Krise parlamentarischer Demokratien gilt es die audiovisuellen Präsentation der Parteien bei den kommenden Landtags- und Bundestagswahlen in Deutschland im (medienwissenschaftlichen) Blick zu behalten.



Bibliografie

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Filmografie

Bedrohungen in Schach halten - SPD wählen! | Wahlspot Europawahl 2024“ 1:00 Min., hier 00:46. YouTube: spdde. Hochgeladen: 25.04.2024. https://www.youtube.com/watch?v=12hFnjv6EKc (zuletzt abgerufen: 27.05.2024).

„Carola Rackete: Spitzenkandidatin zur Europawahl“ 1:36 Min., YouTube: DIELINKE. Hochgeladen: 12.04.2024. https://www.youtube.com/watch?v=12hFnjv6EKc (zuletzt abgerufen: 27.05.2024).

„Europawahl 2024: In Freiheit. In Sicherheit. In Europa“ 1:17 Min., hier 00:34. YouTube: CDUtv. Hochgeladen: 04.05.2024. https://www.youtube.com/watch?v=JN0MQtHNSUo (zuletzt abgerufen: 27.05.2024).

„Gerechtigkeit geht #nurmitlinks: Am 9. Juni Die Linke wählen!“ 01:10 Min. hier 00:54 Min. YouTube: DIELINKE. Hochgeladen am 09.05.2024. https://www.youtube.com/watch?v=8E2SHNWHgm4 (zuletzt abgerufen: 27.05.2024).

„Kampagnenpräsentation zur Europawahl 2024 der Freien Demokraten.“ 49:42 Min., daraus 00:00-00:52 Min. YouTube: FDP. Hochgeladen: 11.03.2024. https://www.youtube.com/watch?v=aWKRdX4reS8 (zuletzt abgerufen: 27.05.2024).

„🔴🎥 Live_Präsentation der Kampagne zur Europawahl“. 27:08 Min., daraus 00:00-01:40 Min. YouTube: CDUtv. Hochgeladen: 19.04.2024. https://www.youtube.com/watch?v=LdiBvt0Snww (zuletzt abgerufen: 27.05.2024).

„Machen, was zählt! – Wahlwerbespot zur Europawahl von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN“ 1:00 Min., hier 00:47 und 00:49 Min. YouTube: DieGruenen. Hochgeladen: 03.05.2024. https://www.youtube.com/watch?v=jkqjuv7vvgs (zuletzt abgerufen: 27.05.2024).

„Martin Schirdewan: Spitzenkandidat zur Europawahl.“ 02:20 Min. YouTube: DIELINKE. Hochgeladen: 18.04.2024. https://www.youtube.com/watch?v=sNbVF9xEA0w (zuletzt abgerufen: 27.05.2024).

„Streitbar in Europa - Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann Spitzenkandidatin der Freien Demokraten“ 1:30 Min., hier 00:08 Min. YouTube: FDP. Hochgeladen: 07.05.2024. https://www.youtube.com/watch?v=dgL7fzwkrcU (zuletzt abgerufen: 27.05.2024).

„Unsere Spitzenkandidatin für die Europawahl 2024: Terry Reintke.“ 1:30 Min. YouTube: DieGruenen. Hochgeladen: 13.12.2023. https://www.youtube.com/watch?v=m3VneHBWimE (zuletzt abgerufen: 27.05.2024).

„Wahlspot zur Bundestagswahl 2021 Nie gab es mehr zu tun“ 01:30, Min., hier 00:10 Min. YouTube: FDP. Hochgeladen: 01.09.2021. https://www.youtube.com/watch?v=ADq6Hmvx5cA (zuletzt abgerufen: 27.05.2024).

„Wir kämpfen für EUROPA – Katarina Barley ist SPD-Spitzenkandidatin für die Europawahl 2024“. 1: 29 Min. YouTube: spdde. Hochgeladen: 25.09.2023. https://www.youtube.com/watch?v=LdiBvt0Snww (zuletzt abgerufen: 27.05.2024).



Förderung


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