Vorwort

Es ist inzwischen über 40 Jahre her, dass Raymond Bellour den Film als „unauffindbaren Text“ bezeichnete, und mehr als 25 Jahre, dass er die „Analyse in Flammen“ aufgehen ließ (1). Seitdem haben sich nicht nur die technischen Bildmedien radikal verändert, sondern auch die Ansprüche an die film- und medienwissenschaftlichen Methoden.

Der rasante Medienwandel, der mit der fortschreitenden Digitalisierung eingesetzt hat, führt zu einer Verschmelzung verschiedenster medialer Formen. Die Medienkonvergenz, die in den sogenannten neuen Medien immer neue Blüten treibt, bringt Text, (Bewegt-)Bild und akustische Medien in ständig neue Versuchsanordnungen. Das betrifft nicht nur jüngere Formate wie Vine oder Snapchat, auch der Film hat sich verwandelt: Fragmente werden in Videoplattformen geteilt, geremixed und diskutiert, die Screens verlagern sich zunehmend von vertikalen Wänden in ‚handhabbare‘ Formate, in denen das Bild auf die Berührung durch den Rezipienten reagiert und künstliche Intelligenzen Genrelandschaften erschaffen, um Nutzerempfehlungen aussprechen zu können. Als Mediennutzer begeben wir uns tagtäglich auf die ein oder andere Weise in ein Netzwerk sich aufeinander beziehender Texte, Bilder und Töne, erhalten und gestalten immer neue, mediale Weltzugänge. Doch audiovisuelle Medien sind und waren nie bloße Mittel der Kommunikation oder Repräsentation gegebener Sachverhalte. Sie verändern und erweitern die dynamischen Bedingungen unseres Verstehens und Urteilens, Empfindens und Imaginierens – sie sind also selbst Akteure in diesen Verständigungsprozessen.

 

(1) Raymond Bellour (1975) 'Le texte introuvable', Ça/Cinéma, 2,7-8, 77-84. Raymond Bellour (1988) 'L’analyse flambée (Finie, l’analyse de film?)', CinémAction, 47, 168-170.

Wenn wir über filmische Bilder nachdenken, befragen wir also immer zuallererst ein Denken der Bilder selbst. Auf diese Annahme gründet sich die Arbeit der Kolleg-Forschergruppe Cinepoetics – Poetologien audiovisueller Bilder, aus der mediaesthetics hervorgeht: Denn trotz der mannigfaltigen Möglichkeiten multimodaler Medienkommunikation, die zu Beginn dieses Textes skizziert wurden, ist die Frage weiterhin unbeantwortet, wie angemessene Formen des akademischen Publizierens aussehen können, die diesen Bedingungen und Möglichkeiten Rechnung tragen.

Gerade im Bereich der Medien- und Filmanalyse sind bestimmte Beobachtungen und Inhalte nur in der engen Vernähung von Text und (Bewegt-)Bild adäquat vermittelbar. Was in Tagungspräsentationen mühelos gelingt – Text, Bild und Klänge miteinander in Dialog zu bringen – ist in Printpublikationen schlichtweg unerreichbar. Die Alternative, Blogbeiträge zu verfassen, in denen Videos, Audiodateien und Standbilder mühelos eingebettet werden können, bietet zwar technisch eine Lösung für die angesprochenen Probleme, eignet sich aber kaum als wissenschaftliches Publikationsforum – die Stichworte sind hier u.a. Qualitätssicherung und persistente Zitierbarkeit. Zu flüchtig scheint das Netz, um wissenschaftlichen Standards zu genügen.

 

mediaesthetics möchte genau in diese Lücke stoßen. Wir verfolgen die Idee einer open-access Online-Publikation, deren Aufgabe es sein soll, der Methode und Praxis film- bzw. medienwissenschaftlicher Forschungsbeiträge eine Gestalt zu verleihen, die das wissenschaftliche Schreiben, Beschreiben, Zitieren und Argumentieren mit der Dynamik und Zeitlichkeit des audiovisuellen Bildes und mit den dynamischen Möglichkeiten digitaler Veröffentlichungsformate verschränkt.

 

mediaesthetics ist somit nicht nur der Versuch einer anderen Form des Publizierens und Darstellens, die gleichwohl die Ansprüche eines peer-reviews sowie der Archivierung und Auffindbarkeit gewährleistet. Die Zeitschrift will auch eine andere Art des Schreibens und Denkens befördern, deren konkrete technische und gestalterische Ausprägungen individuell angepasst und experimentell erprobt werden können. Hier stehen wir erst am Anfang eines Prozesses, dessen Ziel es ist, bereits im Schreibprozess (Bewegt-)Bilder und Text wie selbstverständlich zusammendenken, Film- und Medienanalyse am und mit dem Material anschaulich und nachvollziehbar zu machen.

Neben einem Fokus auf interdisziplinären Dialog und Mehrsprachigkeit geht es uns um die mehrdimensionale Interaktion zwischen Text, Bewegt-Bild, Bild, Ton, Diagramm sowie anderen multimodalen Ausdrucks- und Darstellungsmitteln. Aber auch über die Frage der Darstellung wissenschaftlicher Analysen hinaus erhoffen wir uns neue methodologische und theoretische Erkenntnisse, die aus dem bisher in dieser Form nicht verwirklichten Austausch zwischen einem Nachdenken über Medien, den Denkbewegungen der Medien und dem Nachdenken mit Medien entstehen können.

 

mediaesthetics ist als Stein des Anstoßes für eine Diskussion über textgeleitetes multimodales Publizieren in der Film- und Medienwissenschaft gedacht.

Mit der ersten Ausgabe möchten wir den derzeitigen Entwicklungsstand von mediaesthetics präsentieren, die Potentiale dieses Publikationsformats aufzeigen und Film- und Medienwissenschaftler_Innnen dazu einladen, sich an diesem Unterfangen zu beteiligen und es weiter zu entwickeln.

 

 

Affektmobilisierung

 

Dazu haben wir für die erste Ausgabe Autor_Innen aus dem Umfeld der Kolleg-Forschergruppe Cinepoetics und dem Seminar für Filmwissenschaft an der Freien Universität Berlin versammelt und setzen einen Schwerpunkt auf die Analyse von Kriegsbildern und deren ästhetischer Erfahrungsmodi. Mit diesem Fokus soll die These evident gemacht werden, dass die medialen Praktiken und symbolischen Formen, in denen sich eine Gesellschaft ihres politischen Zusammenhalts versichert, geprägt sind durch Erfahrungsmodalitäten der Kunst und Unterhaltungskultur.

Vier der sechs Beiträge gehen aus der Forschungsarbeit des DFG-Projekts „Inszenierungen des Bildes vom Krieg als Medialität des Gemeinschaftserlebens“ hervor, das sich in systematisch vergleichenden Analysen mit verschiedenen audiovisuellen Kriegsdarstellungen der Kunst, der Unterhaltungs- und der Informationsmedien befasste. Den Autorinnen und Autoren geht es jeweils um die Frage, wie sich grundlegende Emotionalisierungsstrategien über verschiedene Medienformate und Medienkonzepte hinweg vergleichen lassen. Anhand eines affekttheoretischen Zugangs zum Kriegsfilmgenre wird auf exemplarische Weise die Dynamik der Transformationen ausgearbeitet, in denen das Genresystem Hollywoods auf die Krisenerscheinungen einer Demokratie im Krieg reagierte.

 

Der Beitrag von Hermann Kappelhoff, Matthias Grotkopp und David Gaertner dient dabei als allgemeine Einführung in die Überlegungen zu einer systematischen Analysemethode, die Genrepoetik und Affekttheorie verknüpft. Mit dem Beispiel GUNG HO! – THE STORY OF  CARLSON’S MAKIN ISLAND RAIDERS stellt er einen Archetypus pathetischer Adressierung und Mobilisierung vor, der als Affektdramaturgie im Folgenden über die wechselnden Kriegseinsätze und die wechselnden Formen affektiver Kollektivierung – von der Mobilisierung über die Trauer zu Kritik und Protest – zum Gegenstand permanenter medialer Re-inszenierungen wird.

 

Die anschließenden Beiträge von Hermann Kappelhoff und David Gaertner widmen sich der Verortung des Genres in seiner historischen Ursprungskonstellation. Beide zeigen, wie sich der Kriegsfilm als Genre aus dem Kriegseinsatz der Filmindustrie, d.h. aus den Propaganda- und Informationsfilmen im staatlichen Auftrag, und den audiovisuellen Modalitäten der Unterhaltungsfilme Hollywoods heraus entwickelte. Während Kappelhoff dabei darauf zielt, das Verhältnis von Politik und Poetik im Begriff des „Sense of Community“ neu zu denken, entwirft Gaertner ein Model der „moviegoing experience“, das die Mobilisierung der US-amerikanischen Öffentlichkeit während des Zweiten Weltkriegs auf die konkrete Erfahrung im Kinosaal hin untersuchbar macht: Was bedeutet es für die ästhetische Erfahrung der Kinozuschauer und für das Kino als öffentlichen Raum, wenn Kriegsnachrichten und fiktionale Kriegsfilme im Rahmen ihrer Zusammenspiels in der Kinoprogrammierung gesehen werden?

 

Die Beiträge von Eileen Rositzka und Cilli Pogodda präsentieren zwei Fallstudien zum Vietnam- bzw. zum Irak-Kriegsfilm, die je anhand eines spezifischen Aspektes der medialen Kriegsinszenierung zeigen, wie das Genre als ein Netzwerk beständiger Neu-Perspektivierungen auf die Veränderungen der Kriege und der Vorstellungen politischer Gemeinschaft reagierte. Rositzka macht nachvollziehbar, wie sich mit APOCALYPSE NOW die immer schon hoch prekäre Frage, wie man sich denn ‚im’ Krieg orientieren könne, nicht mehr zu trennen ist von der Frage, wie man sich mit, in und durch Medien ver-ortet. Pogodda untersucht anhand von THE WAR TAPES, wie sich die heikle Frage nach dem Wirklichkeitsbezug und der ‚Authentizität’ der Bilder aus den Kriegsgebieten neu stellt, wenn man sie nicht als Gegensatz zur Genrepoetik des Unterhaltungsfilms begreift sondern beschreibt, wie sie aus den Inszenierungsmustern und affektdramaturgischen Logiken des Genrekinos hervorgehen.

 

Mit dem Beitrag von Naomi Rolef erweitern wir schließlich den Blick auf eine andere Kinematographie, auf einen ganz anderen Krieg: der Yom-Kippur-Krieg 1973. Aber auch ihre Beschäftigung mit JUDGMENT DAY/YOM HADIN (George Obadiah, Israel 1974) zeigt, dass das Politische der medialen Kriegsinszenierung nicht zu trennen ist von Genrepoetiken und dass sich weniger in den dargestellten Fakten als vielmehr im melodramatischen Modus der emotionalen Zuschaueradressierung zeigt, wie der Krieg die Weisen des Zusammenlebens und die Praktiken der Vergemeinschaftung formt.

 

Dem Schwerpunktthema zur Affektpoetik der Kriegsinszenierung ist ein Aufsatz vorangestellt, der auf ganz spezifische Weise die Notwendigkeit eines neuen, anderen Denkens des filmischen Bildes herleitet und verdeutlicht: Hauke Lehmann präsentiert mit dem Begriff des Textur-Werdens und am Beispiel der Schlussszene aus Robert Altmans MCCABE & MRS. MILLER (USA 1971) den Versuch, eine Zeitlichkeit des filmischen Bildes zu beschreiben, die zwar in gewisser Weise „narrativ“ funktioniert, die aber dezidiert nicht die repräsentierte Handlung und den Handlungsraum meint. Damit zielt er auf eine audiovisuelle Dynamik, die sich weder an eine einzelne Dimension von Bewegung im Bild noch des Bildes binden lässt, sondern die sich als Erfahrung nicht ohne die Aktivität von Zuschauer_Innen zu denken ist. In seiner Konsequenz zu Ende gedacht, eröffnet dieser Ansatz einen Zugang zu einem völlig neuen Verständnis der eigenen Diskursivität und Geschichtlichkeit filmischer Bilder.