Eileen Rositzka
1.) Einleitung
Der Konflikt
Die folgenden Zeilen sind einem Dialog aus dem Hollywood-Kriegsfilm SANDS OF IWO JIMA (Allan Dwan, USA 1949) entnommen:
„All right, men, here it is!“ – „Hey, looks like a pork chop!“ – „What‘s its name? [...] – „Don‘t ask me how you spell it. You‘ll have to stick your faces into it, but you don‘t have to spell it."
Ohne Kenntnis der entsprechenden Filmszene könnte man meinen, es ginge hier um den zögerlichen Verzehr einer exotischen Mahlzeit. Tatsächlich haben wir es aber mit einem Gespräch zwischen ranghöheren und neu rekrutierten Soldaten über eine Pazifikinsel zu tun: Tarawa bietet sich den Männern auf einer Landkarte dar und erinnert der Form nach an ein Schweinekotelett. Doch so vertraut ihr Umriss anmuten mag – unklar bleibt, was die Soldaten dort konkret erwartet. Die Insel ist der mehr oder weniger definierte Ort eines sich noch ereignenden Kampfgeschehens. Und vor allem beherbergt sie das Fremde und Unbenennbare, mit dem die Truppe, und damit auch der Zuschauer, in Berührung kommen wird.
In dieser Szene von SANDS OF IWO JIMA kristallisiert sich der Grundkonflikt eines jeden Kriegsfilms heraus: Sehen vs. Nicht-Sehen, Wissen vs. Nicht-Wissen, Vertrautheit vs. Fremdheit; der Gegensatz also zwischen festen Koordinaten und ungewisser Erfahrung im durch sie bezeichneten Kriegsgebiet – und die Gewissheit, dass die Kehrseite eines jeden abstrakten Schaubilds durch den unsichtbaren Feind markiert ist. Auf Grundlage dieses Wechselspiels wird ein Bild des Krieges inszeniert, das sich in all seinen Facetten aus einem ambivalenten Verhältnis der Figuren zur sie umgebenden Landschaft konstituiert.
Mission und Ziel
Worin aber wird jenes Wechselspiel zwischen scheinbarem Überblick und dissoziierter Kriegserfahrung, jenes Kippbild, wenn man so möchte, als solches erfahrbar?
Eine Antwort darauf ist in der Kartografie zu suchen. Dass die Karte als strategisches Element des Krieges auch aus dem Kriegsfilm nicht wegzudenken ist, versteht sich vermutlich von selbst. Die folgenden Ausführungen sollen jedoch zeigen, dass sich die Dramaturgie des Kriegsfilms nicht nur motivisch, sondern auch narratologisch an der Karte abarbeitet. Im Besonderen soll greifbar werden, dass dieses narratologische Moment nicht nur für den klassischen Kriegsfilm der 1940er und 1950er Jahre gilt, sondern auch für dessen moderne Ausgestaltung von zentraler Bedeutung ist. Denn obwohl das Motiv der Karte als ein abbildhaftes Moment spätestens im Ende der 1970er Jahre aufkommenden Vietnamkriegsfilm kaum mehr eine Rolle spielt, bleibt die Karte doch virulent. Der kartografische Modus des Genres bezieht sich hier jedoch auf andere Elemente des Films: auf die Anordnung von Objekten, auf die Charakterisierung der Figuren, auf den Film selbst.
Die topografischen Strukturen sind demnach nicht mehr (nur) im Außen eines dargestellten Handlungsraums zu verorten; vielmehr verlagern sie sich ins Innere der Filmform. Hier erst wird offengelegt, dass Kartografie im Kriegsfilm eine topografische Erzählweise ist – ein Muster der Informationsführung, der ökonomischen Verteilung von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, aus deren Kontrast sich bestimmte affektive Dimensionen (Angst / Horror, Ich-Verlust, übersteigertes Selbstwertgefühl) überhaupt erst entwickeln.
Die Route
Anhand der Kartografie des Kriegsfilms lässt sich somit eine Transformation des Genres nachzeichnen, wobei der Vietnamkrieg einen entscheidenden Wendepunkt markiert. Vom klassischen Kriegsfilm ausgehend lohnt es sich daher, die Funktion der Karte in mehreren Schritten genauer unter die Lupe zu nehmen:
Zunächst wird sich dem Thema der Kartografie im Kriegsfilm theoretisch genähert (siehe Kap. 2). Dabei wird auch skizziert, inwiefern die Karte als ein Raumentwurf eine für das Kriegsfilmgenre entscheidende affektive Dimension in sich birgt.
Darauf aufbauend wird die Funktion der Kartografie im klassischen Hollywood-Kriegsfilm beleuchtet (siehe Kap. 3). Besonderes Augenmerk gilt hier der Inszenierung des Briefings, in welcher sich anhand der Karte eine doppelte Initiation ereignet: Zuschauer und Figuren werden gleichermaßen an die Erzählung des Films gebunden.
Anschließend werden die Veränderungen kartografischer Inszenierungsmodi im Zusammenhang mit dem Vietnamkrieg aufgezeigt (siehe Kap. 4).
Eine Detailanalyse von APOCALYPSE NOW (Francis Ford Coppola, USA 1979) vertieft schließlich die These, dass sich topografische Strukturen ins Innere der Filmform verlagern (siehe Kap. 5).
2.) Kartenraum / Erfahrungsraum
Eine vermessene Weltsicht
Karten begegnen uns im Film häufig als expositorische Elemente, die der Handlung, in die sie einführen, einen Ort zuweisen. Oftmals wird dieser Ort so auch in einem historischen Kontext situiert: Karten führen buchstäblich vor Augen, dass es sich im folgenden Film um die Geschichte eines bestimmten Raumes zu einer bestimmten Zeit handeln wird. In diesem Sinne sind sie Paratexte außerhalb des Films, die dem Zuschauer als nützliche Rahmeninformation dienen (1). Doch auch innerhalb der Diegese können kartografische Muster eine zentrale Rolle spielen und werden hierbei zur symbolischen Schnittstelle diegetischer und rezeptiver Raumerfahrung. Man denke an Szenen eines beliebigen Abenteuerfilms, in denen sich die Figuren mit Hilfe einer Karte ihrer momentanen Lage in fremden Gefilden versichern oder geheimnisvolle Symbole auf einer Schatzkarte mit ihrer tatsächlichen Umgebung abgleichen. So findet sich in der Karte ein kodifiziertes Konzept aus Zeichen und Texturen wieder, eine Raumrepräsentation im filmischen Bild, welches selbst schon einen Raumentwurf darstellt.
(1) Für eine ausführlichere Studie zu Karten als Paratexte des Films vgl. Böhnke 2007: 149–161.
Davon abgesehen, dass Kartentexte an sich eine stark vereinfachte Abstraktion dessen darstellen, was sie bezeichnen, nämlich eines realen (oder fiktiven) geografischen Raumes, konzentriert sich in ihnen die Frage der Sichtbarkeit, des Überblicks, der Spaltung der Perspektiven. Da sich Blick- und Standpunkt des Betrachters über dem Kartenobjekt befinden, begibt sich dieser im Akt des Schauens automatisch in die Position eines allsehenden, die Ganzheit der verzeichneten Landschaft erfassenden Subjekts. Eine Hybris des Blicks, welcher in diesem Zusammenhang auch als ikarisch bezeichnet werden kann, zurückgehend auf ebenjenen mythischen Helden, dessen Übermut ihn schließlich zu Fall brachte. Die innige Verflechtung zwischen diesem und dem kartografischem Blick stellt sich folgendermaßen dar:
Derselbe synoptische Fliegerblick, dieselbe Ortlosigkeit eines permanenten „Wo bin ich?“, dieselbe Detailversessenheit, derselbe Durchgangsraum, in dem sich die Orte in Wegstrecken verwandeln. Vor allen Dingen aber dieselbe Passion für ein visualisiertes und abstraktes Unendliches. (Buci-Glucksmann 1997: 32f.)
Die Bemächtigung der kartografischen Welt ist ein Ineinandergreifen und eine Multiplikation von Blicken auf eine Allegorie der Welt. Auf den ersten Blick erscheint es leicht, sich qua Karte durch ein territorialisiertes Gebiet navigieren zu können, definiert es sich doch lediglich über Verbindungslinien zwischen vereinzelten Wegmarkern. Genau hier liegt das affektive Scharnier zwischen einem Kartentext und der Mobilität im realen Raum, zu der er auffordert: Denn ebendiese Bewegung ist in ihrer Konzeption vor allen Dingen teleologisch. Sie ist, abgesehen von allen einkalkulierten Unterbrechungen, zielführend. Setzt man dieses Ziel gleich mit einer Form des Erfolgs, sind alle Bemühungen auf dem Weg dorthin darauf ausgerichtet und damit affektiv aufgeladen. Dies lässt sich durchaus auf den Abenteuerfilm oder den Kriegsfilm applizieren: Sei es die Abenteuerlust eines Expeditionsteams, im Urwald verborgene Schätze zu heben, oder die ungewisse Anspannung eines Soldatentrupps, der den Weg für seinen nächsten Vorstoß ins Kriegsgebiet plant. Diese Affekte im Bewusstsein drohender Gefahr intensivieren sich schließlich in der tatsächlichen Raumerfahrung; im Angesicht der Gefahr schlagen sie jedoch durchaus in ihr Gegenteil um: aus freudigem Übermut wird Angst und Zorn, die überwältigende Erfahrung des Verlassenseins und des Verlusts von Überblick und sinnstiftendem Ziel.
Dissoziierung des (Wahrnehmungs-)Raums im Kriegsfilm
Für die Übersicht des Geschehens innerhalb der Diegese eines Kriegsfilms hat dies zur Folge, dass sich eine Spaltung der Blickpunkte auf ein und dieselbe Situation ereignet. Denn die Kehrseite des distanzierten kartografischen Überblicks über ein bestimmtes Gebiet ist ein anfängliches Bild sensorisch motivierter Allmachtsphantasie, das sich angesichts des Exzesses der Eindrücke im tatsächlichen Kriegsgebiet schließlich doch als Ohnmachts-Imago erweist. Im Zuge dieser äußeren wie inneren Bewegungen innerhalb der topologischen Struktur des Films wird laut Georg Seeßlen der Krieg zu einer „zweiten Wirklichkeit“, die eine völlig neue ästhetische Wahrnehmung bedeutet (Seeßlen 1989: 19f.). Der Zuschauer wird dabei in einen Erfahrungsraum eingebunden, der sich in einer spezifischen Figurenkonstellation des Genres etabliert und erschließen lässt. So schreibt Hermann Kappelhoff:
Der Spähtrupp ist das epische Ich, das zur Gänze in ein Geschehen eingeschlossen ist, ohne dass es je eine Sicht auf dieses Ganze hätte. Der klassische Kriegsfilm Hollywoods handelt weit häufiger von dieser Erfahrung der Blendung als von den Triumphgefühlen des Actionkinos, der Illusion des Überblicks. Von den Filmen über den ersten Weltkrieg bis zu Filmen über Vietnam ist der Kriegsfilm durch zwei grundlegende Darstellungsmuster geprägt: die Dissoziierung des Wahrnehmungsraums in der Darstellung einer buchstäblich berstenden Erde und – damit korrespondierend – ein akustisches Tableau, das die Grenze zwischen Bild und Zuschauer auslöscht und die Zuschauer in den Raum der Darstellung einschließt. (Kappelhoff 2006: 75)
Wenn Kappelhoff hier von einer „Illusion des Überblicks“ spricht, so ist damit präzise der Ausgangspunkt einer Erfahrung von Desorientierung und Entfremdung bezeichnet, welcher die zentralen Figuren eines Kriegsfilms ausgesetzt sind. Der Verlust der Übersicht ereignet sich dabei in der Bewegung durch Feindesland, in der sinnlichen Überforderung des Schlachtgetümmels.
Es ist dies die zeitliche Empfindungsstruktur einer Fremdwerdung, die sich schließlich als Dominante der narrativen Logik realisiert und ausdekliniert: der Rekrut, das Individuum wird zunächst in eine militärische Körperschaft initiiert, wonach er mehr und mehr mit Gruppenkörper und der Kriegstechnologie verschmilzt – bis der Soldat an einen Punkt gelangt, an dem er nicht nur dem Gegner und der Natur, sondern auch dem Corps und sich selbst feindlich gegenübersteht. Diese Entwicklung ist eine für den Kriegsfilm fundamentale „melodramatische Figuration“ (Kappelhoff 2006: 75f.). Die Stufen dieser Entwicklung sind durch bestimmte affektive Dimensionen gekennzeichnet (Trennungsschmerz, Gemeinschaftsgefühl, Ich-Verlust, übersteigertes Selbstwertgefühl, Angst, Zorn) und können in ihrer Inszenierungsweise als Pathosformen des Kriegsfilm-Genres bezeichnet werden (2). Es sind Standardszenen, Handlungskonstellationen und audiovisuelle Ausdrucksqualitäten des Films, gebunden an bestimmte Affekte, die sich schließlich als Zuschauergefühl realisieren.
(2) Hier sei auf die Arbeit des DFG Forschungsprojekts „Inszenierungen des Bildes vom Krieg als Medialität des Gemeinschaftserlebens" verwiesen. www.empirische-medienaesthetik.fu-berlin.de/affektmobilisierung/index.html
Jene Empfindungsstruktur einer Fremdwerdung ist maßgeblich dem Antagonismus von Überblick und bruchstückhafter Realität geschuldet, welche Patrick Brunken in der kartografischen Perspektivierung der Erzählstruktur von Kriegsfilmen verortet:
Auf der Karte und in dem durch sie entfalteten diskursiven Feld kartographischer Kriegsnarration zeichnet sich mit dem derart vermessenen Bild der Kriegshandlung ein militärisches 'Weltbild' ab: eine entsprechend Logik und Logistik pragmatisch gerichtete Kampfhandlung mit klarem Ziel, deren deutlichster Ausdruck eben die Karte ist (Perspektive des Feldherrn bzw. des überzeugten Kartenbesitzers). Dagegen führt eine unzusammenhängend wahrgenommene Kampfhandlung tendenziell zu einer desillusionierten 'Anti'-Kriegsanschauung (Perspektive des einfachen Soldaten). (Brunken 2005: o. S.)
3.) Kartografie im klassischen Kriegsfilm
Die Demonstration von gezielter Planung und Überblick spielt eine wichtige Rolle innerhalb der Dramaturgie des Kriegsfilm-Genres.
Die Beschreibung einer Mission anhand örtlicher Koordinaten richtet sich nicht nur an die Figuren des Films, sondern zeichnet auch dem Zuschauer komprimiert vor, wie sich der Handlungsverlauf von dort aus gestalten wird. Dazu gehört, dass Start und Ziel eindeutig markiert und neuralgische Punkte der Route besonders hervorgehoben werden. Eine Karte ist folglich nicht einfach ein unkommentiertes Bild eines Terrains, sondern wird stets von Sprache begleitet und durch deiktische Gesten in Bewegung und Lektürerhythmus übersetzt. Dadurch wird die Karte in ein bestimmtes Verhältnis zu Narration und Zuschauer gesetzt. Denn durch die kartografische Beschreibung des Kriegseinsatzes wird ersichtlich, wie sich die folgende Filmerzählung zeitlich und topografisch gestalten wird.
Hervorgehobene Stationen werden erwartungsgemäß zu dramaturgischen Schlüsselmomenten und dienen somit zur Vorstrukturierung der Aufmerksamkeit des Zuschauers. Wenn zu diesem Informationsstand noch ein Mehrwissen über den realen, historisch belegbaren Ausgang eines Kriegsunterfangens hinzukommt, fundiert dies die Identität des Zuschauers außerhalb des Films. Tom Conley bezeichnet diese Zugehörigkeit und gleichzeitige Distanz zum Film als 'bilocation': „When a map in a film locates the geography of its narrative, it also tells us that we are not where it says it is taking place" (Conley 2007: 3f.).
Eine Frage der Sichtbarkeit
Die Karte steht ein für etwas, das für das Kriegsfilm-Genre von fundamentaler Bedeutung ist, sei es auch noch so skizzenhaft angedeutet: die Frage der Sichtbarkeit. Eine Sichtbarkeit, die gleichzusetzen ist mit Formen der Macht. Macht des Überblicks, Macht des Informationsbesitzes.
In OBJECTIVE, BURMA! (Raoul Walsh, USA 1945) wird diese kartografische Übersetzung von Sichtbarkeit dezidiert ausgestellt. Nach einer dokumentarischen Einführung beginnt die Handlung mit der Darstellung eines Flugzeuges, dessen Bewegung in die Animation einer Karte übergeht. Es kreist eine Weile über der stilisierten Landschaft, bevor letztlich wieder in die fotografische Abbildungsrealität des Filmbildes übergeblendet wird:
Hier wird bereits eine Symbolisierung vorgenommen, die zugleich ein Sichtbarkeitsspektrum markiert, über welches sich unentwegt Blick- und Größenverhältnisse relativieren. Der Dschungel, die unüberschaubare Landschaft, wird infolgedessen einer kontinuierlichen Visualisierung und Inspektion unterzogen – sei es durch Karten, Fotografien, Lupen oder dreidimensionale Modelle im Rahmen eines Briefings.
Die vermeintliche Macht der Karte besteht hierbei darin, durch die sich in ihr ereignende Materialisierung der Welt vornehmlich ein Gefühl der Bezwingbarkeit von Feind und Natur zu initiieren. Gerade im Umrisshaften, in der Ungewissheit über tatsächliche Erfahrungsräume liegt der Reiz des vermeintlichen Abenteuers, dem die noch unerfahrenen Soldaten erliegen – bereit, sich einer gemeinschaftlichen Herausforderung zu stellen.
Die klassische Inszenierung des Briefings
Das militärische Briefing ist für das Kriegsfilm-Genre zentral. Nicht nur wird damit Anschluss genommen an die Dramaturgie außerfilmischer Kampfhandlungen, denen stets eine Lagebesprechung vorausgeht. Vielmehr nimmt das Briefing auch eine wichtige Position innerhalb der filmischen Dramaturgie ein. Seine Platzierung am Anfang eines Kriegsfilms rahmt einen für dieses Genre typischen Szenenkomplex: die Eingliederung in eine übergeordnete Körperschaft (3). Üblicherweise zeichnet sich diese durch Inszenierungen des Drills und die Ritualisierung des militärischen Alltags aus. Doch die Wandlung unbedarfter junger Männer zur Armee geschieht nicht nur durch äußerliche Uniformierung, sondern auch durch die Ausrichtung aller auf die eine Mission.
(3) Ich beziehe mich hierbei auf die systematische Analyse des Hollywood-Kriegsfilms im Rahmen eines Forschungsprojekts unter Leitung von Hermann Kappelhoff. Die Affektpoetik des Kriegsfilms lässt sich demnach in Kategorien von Pathosszenen aufschlüsseln. Vgl. www.empirische-medienaesthetik.fu-berlin.de/emaex-system/affektdatenmatrix/index.html
Die typische Briefing-Inszenierung des combat movie ist eine weitere Etappe der Initiation in den militärischen Gruppenkörper, ist eine Affirmation der Rechtmäßigkeit des Kriegseinsatzes. Nicht zufällig erinnert die Einweisung in das anstehende kriegerische Unterfangen daher an eine Unterrichtssituation, wobei sich die jeweiligen militärischen Entscheidungsträger in einem ausgestellten deiktischen Modus befinden – erklärend, ein- und hinweisend, den Blick abwechselnd auf Karte und Soldaten fixiert.
Dieser Modus stellt zwar eine Form kommunikativer Annäherung dar. Es handelt sich aber stets um eine Demonstration von kartografischer Erkenntnis, die sich in diesem Moment nicht auf den unterwiesenen Marine/Infanteristen überträgt. Karte und Kartenwissen nehmen so einen Status der Exklusivität ein. Es ist nämlich die spezifische Präsentationssituation, die sowohl nach einem speziellen Ort der Zusammenkunft (beispielsweise dem briefing shack) verlangt als auch die scheinbare Identifikation der Obrigkeit mit der Karte verdeutlicht. Nur der Captain, der Sergeant oder der Colonel wissen hierbei Koordinaten und Routen zu deuten; sie gewähren Zugang zur Information, die zugleich alle folgenden Aktionen der Truppe bestimmen wird. Was aus diesem Zusammenspiel von Sammlungszeremonie und Exklusivität erwächst, ist ein Dualismus zwischen Hierarchie und Geschlossenheit des Corps. Die Vermittlung von kartografischem Wissen isoliert und eint zugleich Befehlshaber und die homogene Menge untergebener Soldaten.
Auf Ebene der Bildkomposition ist diese Gegenüberstellung bereits als statische Form auszumachen. Nie sind die Männer und ihre Vorgesetzten im selben Bild zu sehen und immer steht das kartografische Modell zwischen beiden Gruppen. Es ist sowohl zentraler Bezugspunkt als auch trennendes Element. Doch erst im bewegten Bild erschließt sich das Briefing als Figuration diverser Ausdrucksqualitäten. In OBJECTIVE, BURMA! wird besonders deutlich, wie die Situation des Briefings Einfluss nimmt auf Erwartungshaltung und -empfindung der Figuren als initiierendes Moment innerhalb der Affektpoetik des Kriegsfilm-Genres.
Clip 1: OBJECTIVE, BURMA! (Raoul Walsh, USA 1945), Min. 09:16–13:36.
In der Montage der Blicke und Gesichter intensiviert sich eine Spannung, die durch fragende Mienen und Äußerungen der jungen Soldaten gegenüber der bestimmten Reserviertheit ihrer Vorgesetzten getragen wird. Es sind dies Affektbilder im Sinne Deleuzes (vgl. Deleuze 1997: 123–170): reflexive Gesichter, in deren Form der Mobilisierungsmechanismus ins Stocken gerät. Fragen und Zweifel mischen sich in die Inszenierung dieser Briefings, indem die vermeintlich simple Lektüre der Karte angesichts ihrer Umsetzung doch Unbehagen hervorruft. Diese Ambivalenz zwischen Denken und Fühlen prägt auch die sich intensivierende Ausdrucksfiguration dieser Szene: Die verunsicherte Menge wird stets mit dem pragmatischen Landschaftsmodell gegengeschnitten, ein lockerer Kommentar des Captains löst für einen Moment die Anspannung der Soldaten in Gelächter auf – und doch bewirkt die nahe Untersicht auf ihre Gesichter nicht nur eine räumliche, sondern vor allem eine körperliche Bedrängnis, die sich ausgehend von und im Kontrast zum kartografischen Modus des Briefings entfaltet.
Die Interpretationsmöglichkeiten, die sich allein schon durch die Zeichenhaftigkeit der Karte ergeben, implizieren eben auch negative Phantasmen des verborgenen Unheils in der Tiefe des Raums. Denn da im Kartentext räumliche Eindrücke um ein Vielfaches reduziert und verallgemeinert werden, kann keine eindeutige Bedeutungszuschreibung vorgenommen werden. Zudem stellt auch der geübte Zuschauer bestimmte Erwartungen an die Entwicklung, den Leidensweg des Kriegshelden, der seine Glorifikation gerade dadurch erlangt, Stationen des Kampfes und des Schmerzes durchlaufen zu haben. Dies ist ein wichtiger zeitlicher Aspekt, der die Gegenwart von Filmhandlung und Zuschauerwahrnehmung auf eine definitive, doch in ihrem Verlauf unsichere Zukunft ausrichtet (4).
(4) Vgl. hierzu Lefebvre 1991: 336: „A strategy based on space, even if we leave military and political projects out of the picture, must be considered a very dangerous one indeed, for it sacrifices the future to immediate interests while simultaneously destroying the present in the name of a future at once programmed and utterly uncertain."
4.) Vietnam und die Zersplitterung der Perspektiven
Licht und Schatten
Der starke Kontrast zwischen kartografischer Übersicht und totaler Desorientierung im Feindesgebiet, welcher im klassischen Kriegsfilm ausschlaggebend ist, weicht im Genrefilm der 1960er und frühen 1970er Jahre der Darstellung eines durchgängig kohärenten Geschichtsbildes. Der Fokus verschiebt sich zusehends von der fragmentierten Soldatenperspektive hin zum strategischen Blick der Generalität. Zwar ist die Sicht des kämpfenden Infanteristen oder Marine durchaus präsent, steht aber nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem militärischen Planungspersonal. Letzteres zeichnet die jeweiligen Truppenbewegungen auf Karten vor. An diesem Denkprozess hat der Zuschauer teil, die Soldaten sind jedoch davon ausgeschlossen; vielmehr agieren sie als bloße Exekutive, realisieren jene Planung und sind Zeuge ihrer Auswirkungen. Dies wiederum ist eine Perspektive, welche die obersten Strategen nicht teilen können. Somit erscheint der Zweite Weltkrieg nun als effektive Umsetzung eines sich immer transformierenden Spielplans, den die Filme minutiös nachzeichnen.
Als der Vietnamkrieg Mitte der 1960er Jahre bereits in vollem Gange ist, besinnt sich Hollywood so zunächst auf die heroischen Taten der alliierten Vätergeneration, nicht ohne jedoch den sich intensivierenden Indochina-Konflikt allegorisch anzudeuten. THE GREEN BERETS (John Wayne / Ray Kellogg, USA 1968) bleibt der einzige Kriegsfilm dieser Dekade, welcher den Vietnamkrieg direkt thematisiert – dies allerdings im Inszenierungsmodus des Good War, der in Bezug auf das kriegsbegleitende Medienbild inadequat erscheint. Erst zehn Jahre später entstehen mit GO TELL THE SPARTANS (Ted Post, USA 1978) und THE DEER HUNTER (Michael Cimino, USA 1978) offen kritische Genrewerke.
Die Kriegsfilme der 1960er und frühen 1970er hingegen gestalten sich allein schon deshalb anders, weil sie zumeist einen topografisch weitaus kontexutalisierteren Repräsentationsraum behandeln. Zumindest im Falle von militärischen Operationen auf europäischem Territorium lassen sich zurückgelegte Wege und Stationen jetzt sehr genau an verzeichneten Orten oder geografischen Formationen nachverfolgen. Das klassische combat movie konfrontierte seine Figuren und Zuschauer immer wieder mit dem auch kartografisch unerschlossenen ursprünglichen Dschungel der Pazifikinseln. Nun geht es jedoch darum, diverse strategische Perspektiven von vornherein in eine Folge von Ereignissen zu überführen, in ein Ursache-Wirkungs-Prinzip militärischer Entscheidungen, welche das Geschichtsbild zu dem machen, was es ist und wie es überliefert wird.
In THE LONGEST DAY (Andrew Marton et al., USA 1962) beispielsweise bleiben die Figuren nicht nur Protagonisten des Films, sondern avancieren zu historisierten, beinahe musealen Objekten, die mit der ein oder anderen Starpersona verschmelzen. Personen, Orte und Daten gleichermaßen werden als Bildinszenierungen konkreter Kriegsschauplätze und -handlungen ausgegeben, statt das Phantasma einer undefinierten, ahistorischen Naturlandschaft zu illustrieren.
Zwar gab es neben zahlreichen Dokumentationen auch weit vor THE LONGEST DAY schon Filme über europäisches Kampfgeschehen des Zweiten Weltkrieges. Sie alle jedoch gestalteten sich weithin als Figurendramen bewährter Genreprägung, stellten die Perspektive des leidenden, sich von Dorf zu Dorf bzw. auch nur von einem Haus zum nächsten vorarbeitenden oder eingekesselten Soldaten dar.
Gerade im Vergleich mit früheren Kriegsfilmen wird deutlich, dass das Element der Karte in THE LONGEST DAY eine exponentielle Präsenz innerhalb des Bildraums entfaltet, dass die Karte an Größe und Prägnanz für den Fortgang der Ereignisse gewinnt. Erweitert um den Faktor historischer Textverweise ist jedoch auch dies nur eines von vielen Indizien historischer (Nach-)Lesbarkeit. Gerade die Zersplitterung der Perspektiven in omnipräsente Sichtbarkeit und Geschichtlichkeit – ein sich zwischen Deutschen, Briten und Amerikanern verschiebender Blick – bricht den kartografischen Feldherrenblick auf das Niveau chaotischer Feldwahrnehmung herunter und visuelle Hierarchien in Montagefolgen auf. Die ausgestellte Perspektivierung artikuliert sich als das Verlangen nach Sichtbarkeit, weniger jedoch als Sichtbarkeit selbst. So zelebriert der Film förmlich seine Zweidimensionalität und legt bereits jenen Typus schattenhafter Befehlsformationen an, der für spätere Kriegsfilme (insbesondere APOCALYPSE NOW) so wichtig werden wird: Menschen und Charaktere, die hinter ihrer militärsozialen Rolle zurücktreten und eine opake Scheinwelt repräsentieren.
Dass im Zuge der Genre-Filme über den Zweiten Weltkrieg das Augenmerk mitunter immer stärker auf führende Figuren des Armeecorps gelenkt wurde, um ihre Schwächen offenzulegen – man denke an PATTON (Franklin J. Schaffner, USA 1970) –, findet einen möglichen Anstoß in der realen Führungskrise des Vietnamkrieges und der sublimen Frage nach dessen Legitimation. Ein Umstand, der sich auch auf die Haltung des real kämpfenden Soldaten zu seinem Einsatz auswirkte:
So schreibt Georg Seeßlen, dass nun die Unfähigkeit der politischen Führung, die Lage richtig einzuschätzen, den Feind überhaupt zu kennen, sich verstärkt als Unfähigkeit jener Führung entwickelt habe, ihm zu begegnen. Und dies habe schließlich in der Unfähigkeit des GI geendet, zu verstehen, „was zur Hölle er eigentlich in diesem Dschungel verloren hatte" (Seeßlen 1989: 24f). Diese existenzielle Frage wird wiederum zum Grund-Topos des Vietnamfilms.
Mediale Fragmentierung und Kartenschwund
Allein die Allgegenwärtigkeit der Bilder des Vietnamkriegs in Presse und Fernsehen schließt ihn von einem Phantasma mythischer und triumphaler Schlachtenführung aus (wie sie jeden modernen Krieg genuin davon ausschließt). Denn militärische Strategie und Taktik muss sich nun einer öffentlich zugänglichen Informationsflut, einer Beobachtbarkeit ihrer Auswirkungen stellen, die sie permanent in die Situation einer Rechtfertigung bringt, und dies bereits während sie in die Tat umgesetzt wird. Es ist dabei keineswegs garantiert, dass eine Menge von Informationen das von ihnen Bezeichnete durchschaubarer machen könnte. Eher das Gegenteil ist der Fall, wenn Bilder und Texte umso mehr Undurchsichtigkeit schaffen, je fragmentierter und vieldeutiger sie aufscheinen.
Mit der medialen Fragmentierung des Krieges einher geht auch eine Veränderung des kartografischen Modus des Kriegsfilms. Ist er weiterhin naturgemäß topografisch strukturiert gewesen, verliert das Objekt der Karte im Vietnamkriegsfilm mehr und mehr an Bedeutung. In THE GREEN BERETS (John Wayne / Ray Kellogg, USA 1968) gerät das klassische Briefing zur Pressevorführung, in welchem die Karte Vietnams durch ein Tableau voll von Waffen aus den Arsenalen der kommunistischen Feindesländer ersetzt wird.
In GO TELL THE SPARTANS (Ted Post, USA 1978) schließlich ist eine auf Karten basierende Gefechtsstrategie der computergestützten Berechnung des jeweils nächsten Feindangriffs gewichen. Die Alarmstufen Rot, Orange und Gelb gelten je einem vom elektronischen System zugeordneten Ort und bestimmen die Priorität eines entsprechenden Kampfeinsatzes. Dies ist ein entscheidender Wandel im kartografischen Modus des Kriegsfilms: wohin es den Soldaten, den Spähtrupp, das Bataillon führt, hängt nicht mehr von einer vorgegebene Strecke durch ein bestimmtes Gebiet ab, sondern das Gebiet selbst gibt den Weg vor. Dabei ist die Streckenführung im Grunde ebenso arbiträr wie das Farbenspiel des Computer-Warnsystems. Die bunte Tafel ist vielmehr eine Metapher für die Beliebigkeit der Kriegsführung in Vietnam, für ihr Zufallsprinzip oder zumindest für eine Logik, die den Akteuren außerhalb des strategischen Systems verschlossen bleibt.
Karten und fehlende Evidenz
Noch Mitte der 1960er Jahre hatte die kartografische Informationsvermittlung bezüglich des Vietnamkriegs einen äußerst hohen Stellenwert. Im Rahmen des u.a. für das US-amerikanische Fernsehen produzierte Format THE BIG PICTURE (United States Army Signal Corps, Army Pictorial Service, 1951-ca. 1970) wurden nicht nur Landkarten und dokumentarisches Filmmaterial konsequent aufeinander bezogen; auch wurden Bilder des Krieges buchstäblich in einer festen Rahmung – in Form von gerahmten Bildern, Fotowänden oder typisierten Zeichnungen – präsentiert. Diese Form der Verortung hatte einen deutlichen historisierenden Effekt und abstrahierte die brisanten Bilder damit umso mehr von ihrer Aktualität. Hier zeichnet sich bereits eine topografische Inkongruenz ab.
Der Versuch US-amerikanischer TV-Nachrichten, das Kriegsgeschehen in Vietnam kohärent zu bebildern, scheitert schließlich an der Zuspitzung vager kartografischer Verortung, gipfelt in undefinierten Landschaftstexturen der Aufnahmen vor Ort: Aufnahmen, die oft nichts weiter zeigen als die Stagnation der eigenen Truppen, ineffektives Gefechtsfeuer oder scheinbar zielloses Patrouillieren durch den Dschungel. Ein sichtbarer Kriegsfortschritt, auf den eine Grafik verweisen könnte, blieb aus; ebenso werden auf Karten verzeichnete Highways oder Gebirgsformationen zu mehr oder weniger aussagekräftigen Wegmarkern eines zuortbaren Geschehens. Auf genau diese Diskrepanz zwischen Information, Fragmentierung und Perspektivierung in den Medien scheinen nun (beginnend drei Jahre nach Kriegsende) die Kriegsfilme über Vietnam zu reagieren.
5.) APOCALYPSE NOW
'Floating Signifiers'
Im Vietnamkriegsfilm ist es weniger der Krieg als vielmehr seine mediale Erfahrung, die zum Gegenstand des Wahrnehmungsraums wird. Dies meint jedoch nicht etwa Form und Inhalt der Fernseh- oder Pressebilder. Es ist die Wahrnehmung selbst, die nun problematisiert wird. Eine sinnliche Überforderung durch sämtliche von der Kriegssituation durchsetzte Bild- und Tonfragmente. Was hier einsetzt, ist eine mehrschichtige Medienkartografie, topografisch angeordnete Wahrnehmungsmuster, entlang derer sich die Poetik der Filme entfaltet. Um diese Schichtung diverser Form- und Inhaltsebenen zu veranschaulichen, bietet sich Coppolas APOCALYPSE NOW an – ein Film, der in einer Opulenz der Bilder, Klänge, Zeiten und Zeichen aufgeht.
Die Eröffnungssequenz steht paradigmatisch für die Ästhetik des gesamten Films. Es ist – bezogen auf die Handlung – die audiovisuelle Inszenierung eines Rauschzustandes der Hauptfigur. Captain Willard (Martin Sheen) wird in seinem Hotelzimmer in Saigon von Kriegsvisionen heimgesucht. Doch die Sequenz ist mehr als das. Denn sie mutet über die Erzählung hinaus wie eine lyrische Figur (5) des Verschwimmens von Raum und Zeit an; sie lässt Gegensätze ineinander aufgehen, zeigt zu viel und doch zu wenig, lässt offen, ob sie von Vergangenem oder Zukünftigem kündet und schließt vor allem den Zuschauer in jenen Rausch mit ein, den er nicht zuordnen, aber doch als solchen erfahren kann:
(5) Vgl. Kappelhoff 2004: 51–62 und 250–262, hier 59: „Das Pathos der lyrischen Figur des Empfindens bezieht sich stets auf die Grenze des Ich der dargestellten Person; es impliziert die Vorstellung eines übermächtigen Empfindens, welches das sprachliche Bewusstsein übersteigt."
Clip 2: APOCALYPSE NOW (Francis Ford Coppola, USA 1979), Min. 00:00–03:51.
Aus einem mit mechanisch verzerrtem Rotorengeräusch unterlegten Schwarzbild wird auf die Totale einer Dschungelfront geblendet. Eine Wand aus Palmen, die zu einem undurchsichtigen Grün verschwimmen, darüber nur der Himmel. Im Vordergrund schwebt ein Hubschrauber durch die Horizontale, kaum ist er als solcher zu identifizieren, ist er auch schon wieder im Off verschwunden.
Clip 3: APOCALYPSE NOW (Francis Ford Coppola, USA 1979), Min. 00:00–00:25.
Gelblicher Rauch steigt auf und erfüllt das Bild allmählich von unten nach oben, lässt den Wald verblassen, überlagert seine Konturen. Die Bilder beschreiben undefinierte Bewegungen ohne Ursprung und Ziel, die deutlich machen, dass dem Zuschauer in dieser Einstellung schlichtweg 'die Sicht versperrt bleibt': Einerseits ist die Kamera zu weit entfernt, um in den Dschungel oder das Gebüsch blicken zu können, andererseits ist sie zu nah an der Bewegung von Helikopter und Rauch, um einen nachvollziehbaren Bezug beider Elemente zum Bildhintergrund herstellen zu können. Zudem bleibt sie betont statisch, beharrt auf der Ausschnitthaftigkeit des Bildes.
Das Rotorengeräusch ist stets von Bildern seiner Quelle, des Helikopters, getrennt und wird allmählich zum Kontrapunkt der einsetzenden Musik, eines Gitarrenmotivs zu sanften Taktschlägen. Dann, mit einer plötzlichen Explosion, wird nicht nur der Palmenwall, sondern auch die Starre der Blickposition gesprengt.
Clip 4: APOCALYPSE NOW (Francis Ford Coppola, USA 1979), Min. 00:25–01:14.
Zeitgleich mit dem Bersten des Feuers, das sich abseits jeglicher Geräuschkulisse nur im Bild ereignet, setzt Gesang ein, der anstelle von diegetischem Sound das Sichtbare kommentiert: „This is the End.“ Doch genau mit diesem Ende löst sich die Kamera von ihrem festen Punkt und geht in eine Bewegung über.
Musik und Liedtext werden nun zur Dominante des audiovisuellen Gefüges. Als weitere Hubschrauber den Bildraum durchkreuzen, die ebenso geräusch- und ursprungslos bleiben, scheint ein zweites Bild auf – das Gesicht Willards, von oben gefilmt und auf den Kopf gestellt –, gefolgt von einem dritten: der Perspektive auf einen sich drehenden Deckenventilator.
Clip 5: APOCALYPSE NOW (Francis Ford Coppola, USA 1979), Min. 01:14–03:51.
Mit der Textzeile „Can you picture what will be?“ hält die Kamera der ersten Einstellung inne und schwenkt zurück nach links; das zweite, die erste Einstellung überlagernde Bild Willards leitet in einem den Ventilator imitierenden Kreisschwenk zu einer vierten Einstellung über, die sich eindeutig zur ersten ins Verhältnis setzt. Dschungel als topografische Textur und Gegenstände auf einem Nachttisch verschmelzen zum gleichen undeutbaren Dickicht.
Das Problem der Sichtbarkeit potenziert sich also nicht nur durch die Wahl des Bildausschnitts, sondern darüber hinaus durch die Überlagerung mehrerer nicht zuordenbarer Darstellungsebenen. Weder Ort noch Zeit sind eindeutig auszumachen, zudem ist unklar, ob die anfängliche Urwaldszenerie als Introspektion Willards oder als Illustration einer entrückten Zeit zu werten ist.
So im Raum reiner Perzeption flottierend, verwehrt sich APOCALYPSE NOW generell von Beginn an einer Wertung und singulären Interpretation, indem sein Überfluss an Zeichen signifikante Hohlräume generiert. Was sich aber festsetzt, ist der Eindruck einer Egalisierung von Landschaft und Persönlichkeit, vom scheinbaren Versuch, die Geschichte einer Figur wie eine topografische Struktur lesbar zu machen. Allein das Arrangement aus augenscheinlich sinntragenden Gegenständen in Willards Hotelzimmer folgt diesem Prinzip: denn die Objekte liegen nicht einfach zufällig im Raum verstreut, sondern werden in ihrer topografischen Beziehung zueinander examiniert. Die Kamera gleitet an einer Art Route entlang, deren Verlauf jene Objekte säumen; eine Route, die im schweifenden Blick erst hervorgebracht wird. Doch ausgehend von diesen und ähnlichen fokussierten Zeichenfolgen lässt sich nichts weiter ablesen als ihre ausgestellte Typografie selbst. Eine Brieftasche bleibt eine Brieftasche, das Foto einer Frau vielleicht ein Foto von Willards Frau, mehr jedoch nicht. Jede Bildebene verschmilzt mit der nächsten darüberliegenden, diffundiert in immer neue mögliche audiovisuelle Kombinationen.
Briefing und Figurenkartografie
Im Laufe des Films wird schnell klar, dass weder die Bekanntgabe von Willards Mission noch der Verlauf seiner Reise selbst sich auf eine Form kartografischer Gewissheit stützt, wie es im klassischen combat movie noch der Fall ist. Dem Genre gemäß gibt es auch hier eine Briefing-Szene, doch sie ist als solche kaum noch zu erkennen. Weder wird die Besprechung in irgendeiner Form als Strategiegespräch angekündigt, noch weisen größere Karten auf ein Kriegsgebiet hin. Vor allem sind es keine Rekruten oder potentiellen Truppenführer, die hier belehrt werden, sondern ein einzelner desillusionierter Captain. Ein Mann, der, einmal aus seiner Trance gerissen, nicht weiß, wie ihm geschieht.
Die Situation gestaltet sich als seltsam deplatzierte Nebensächlichkeit: Bedeutungsvoll werden nichtssagende Indizien im Stil einer Hard-boiled Detective Story mit einem informellen Mittagessen verwoben. Im Zwielicht des Raumes halten sich Wohnzimmeratmosphäre und militärisches Offiziell die Waage, Nahrungsmittel und Objekte mechanischer Reproduktion drängen sich in gleichwertigen Nahaufnahmen auf. So mag ein Tape-Rekorder ebenso bedeutsam sein wie ein Teller voller Garnelen – oder auch nicht.
Clip 6: APOCALYPSE NOW (Francis Ford Coppola, USA 1979), Min. 10:50–18:05.
Miriam Hansen spricht in ihrer Analyse von APOCALYPSE NOW von 'floating signifiers', deren Spuren sie vom Anfang des Films über die Dauer der ihn bestimmenden Flussreise hinweg verfolgt:
Coppola, with all the imaginary potential of mechanical reproduction at his disposal, uses it to exalt the materiality of those exemplary signifiers over their hidden / illusory signified, thereby raising the issue for his own images as well [...] these 'floating signifiers' may also just be a parodistic homage to semiotic theory. (Hansen 1980: 125)
Was in APOCALYPSE NOW vorgenommen wird, ist jedoch nicht nur eine parodistische Hommage an die semiotische Theorie, sondern eine Invertierung ihrer Prinzipien, mithin auch eine Applizierung potentieller Bedeutung auf andere Lektüreprozesse des Films. Es ist durchgehend zu verfolgen, dass Mise-en-Scène und Montage Bedeutungspotenziale initiieren, die sich niemals ein-, geschweige denn auflösen. Sämtliche vermeintliche Informationen laufen ins Leere, sind nicht mehr sinn- und zweckgebunden. Der Zuschauer wird zwar demonstrativ zum Lesen und Interpretieren der Indizien aufgefordert, doch lösen sich keine der möglichen Erwartungen ein. In dieser Inszenierung findet darüber hinaus eine spezifische Verschiebung statt: Das Verhältnis von Kamerabewegung zu gegenständlichen Indizien lässt sich als ein topografisches beschreiben.
Für die Transparenz von Strecken und Räumen dagegen ist dieses in APOCALYPSE NOW mehr oder weniger unerheblich. Die Landkarte kann in diesem Fall nicht als Mittel der Übersicht und der Auslotung territorialer Aktionsmöglichkeiten dienen, denn Willards Reise muss sich einzig nach dem Verlauf des Flusses richten. Kurz gesagt: Nicht die Karte, sondern die Natur gibt die Bewegung vor. Da die Mission von Beginn an ebenso opak ist wie der den Flusslauf einfassende Dschungel, Willard diese im Gegensatz zur Landschaft jedoch zu verstehen sucht, konzentriert sich die Lesetätigkeit stattdessen auf damit verbundene Dokumente. Nicht länger wird von einer Karte auf unbekanntes Terrain geschlossen – die Figuren selbst, ihre Gründe und Abgründe werden zum Gegenstand der Erkundung. Wir haben es hier also vielmehr mit einer Kartografie der Figuren zu tun. Der investigative Schwerpunkt verlagert sich dahingehend sehr schnell von Willard zu Kurtz, welcher dementsprechend auf die von Hansen bereits erwähnten Objekte mechanischer Reproduktion reduziert wird: Mithilfe von Fotografien, Berichten, Tonbandaufnahmen und persönlichen Briefen soll der Versuch unternommen werden, ein kohärentes Bild von Kurtz herzustellen, den Grund für seinen Wahnsinn an einer Stelle seines Lebenslaufs aufzuspüren.
Diese Ambition scheitert jedoch daran, dass die Dokumente unvereinbar sind mit einer Idee, oder besser einem Bild der Person Kurtz‘, einem Bild, dass auf Wahrnehmung beruht. Beginnend bei der Frage „You‘ve heard of Col. Walter E. Kurtz?“, wobei Willard ein Foto desselben gereicht wird, findet eine Dissoziation von Hören und Sehen statt, die sich noch in dieser Szene mehrfach fortsetzt. Während beispielsweise ein Tonbandgerät im Close-Up zu sehen ist, ist Kurtz‘ Stimme (überlagert von technischen Störgeräuschen) zu hören; wobei noch hinzukommt, dass diese Stimme, lediglich eine Spur seiner Existenz, von visueller Traumwahrnehmung spricht („I watched a snail, crawling on the edge of a straight razor ... That‘s my dream ... That‘s my nightmare ...“). Die buchstäbliche Tonspur legt sich über eine Bildmontage aus beschämten und staunenden Gesichtern und Detailaufnahmen von Essbesteck und Händen. Betont konfiguriert und doch zusammenhangslos gipfelt diese Kombinatorik in der Betrachtung ebenjenes Fotos durch den General, welches innerhalb der Szene durch mehrere Hände gegangen ist. Als das Tonband verstummt, bekommt Kurtz vom General zunächst hervorragende Qualitäten attestiert, bevor er einräumt, dass dessen Ideen schließlich zu kranken begonnen haben. In englischer Sprache ist diese Formulierung gleichzusetzen mit einer Negierung des Tons: „[...] his ideas ... methods ... became ... unsound“.
6.) Resümee
Miriam Hansen zufolge bewegt sich APOCALYPSE NOW in diversen Modi der Transgression, Inszenierungen von Grotesken und Phantasmagorien, die sich gleichwertig und doch voneinander unabhängig überlagern. Jedwede moralische Grenzüberschreitung ist dabei vor allem bereits in der Bildkomposition angelegt. Hansen macht dies beispielsweise an der Szene fest, in der Lt. Col. Kilgore ein lebhaftes Gespräch über mögliche Surfplätze führt, während um ihn herum Chaos und Leid herrschen. Mittels Belichtung und Fokus wird das Bild in zwei Flächen geteilt, wobei keine der anderen gegenüber privilegiert wäre und sich beide in einem unsichtbaren Collage-Effekt vereinen. Unkoordinierte Aktionen im Vor- und Hintergrund (über)fordern die Aufmerksamkeit des Zuschauers, die Szenerie strotzt vor grotesken Elementen und Theatralität, doch immer wieder wird der Schein einer perfekten Inszenierung durchbrochen und verweist auf ebendiese: Ein Kamerateam gerät ins Bild, die Versorgung eines Verwundeten wird abrupt abgebrochen, Hubschrauber umkreisen scheinbar ziellos eine Kirchenfassade, die eben nur eine Fassade ist. Für Hansen wird so der Krieg erst erfahrbar, indem er nicht repräsentiert, sondern in der Rezeption des Zuschauers erst produziert wird:
Breaking up the unity of cinematic space and continuity of style within a single plane of presentation, Coppola renders visible the split levels of consciousness and action. He does not unveil them as something given, but rather produces them: thus the scene enacts the contradictions of the war in the ruptures of the spectacle as we witness it. [...] The war is not some quasi-natural event that happened "once upon a time" and "out there" [...] but is being produced as we are perceiving it. (Hansen 1980: 127)
„Vietnam, the Movie“, wie es etwa auch in FULL METAL JACKET (Stanley Kubrick, USA / GB 1987) heißt, stellt sich also nicht als eine Kette von Kriegsereignissen dar, die es zu reproduzieren gälte. Vielmehr ist es das Bemühen, Spuren eines Krieges ausfindig zu machen und aus ihnen dessen mediales Bild zu erschaffen, mit der Abwesenheit des Krieges im Krieg umzugehen. Nur, dass dieses Bemühen nicht darauf ausgelegt ist, eine veritable ästhetische Illusion zu kreieren, sondern sich selbst inszeniert und somit eine doppelte Abwesenheit innerhalb des filmischen Dispositivs artikuliert.
Ist der Vietnamkrieg also eine Apokalypse der Darstellungsformen, der Wahrnehmung?
Was zumindest APOCALYPSE NOW zeigt, ist eine eindeutige Bewegung seiner Inszenierung ins Innere der Formen und Repräsentationen. Man könnte sagen, dass in der Verlandschaftung des combat movies eine Projektion eines Feindbilds auf ein topografisches Außen vorgenommen wird – sei es im Modus der sichtbaren Beherrschbarkeit (kartografisch) oder im Modus unkontrollierbarer Naturerfahrung (subjektive Raumwahrnehmung). Der Vietnamkriegsfilm dagegen verlagert jene Verlandschaftung in das Innere der Filmform, kartografiert Zeichen und Bewegungen für Raum, Figuren, Kamera und Sound gleichermaßen und wendet diese Spielform der dispositiven Introspektion in eine transgressive, affektive Zuschauererfahrung.
Betrachtet man abschließend die Entwicklung des Hollywood-Kriegsfilms hinsichtlich kartografischer Inszenierungsmodi, ist festzustellen, dass sich diese durchaus als Reaktion auf die mediale Repräsentation des jeweiligen Krieges lesen lassen. So verhält sich das Genre gegenüber dem aus US-amerikanischer Perspektive rechtmäßig geführten Zweiten Weltkrieg, indem es dessen Legitimation und Wahrheitsanspruch über eine kohärente (Geschichts-)Kartografie einholt. Im Zuge des fragmentierten Medienbildes des Vietnamkrieges, welches massiv an dessen Sinnstiftung zweifeln lässt, geraten die Filme zur Suchbewegung, zum Denk- und Sinnbild für den Verlust räumlicher und zielführender Koordinaten. Zu prüfen wäre, wie sich die Kartografie des Kriegsfilms in Bezug auf andere Kriege (den Ersten Weltkrieg, den Koreakrieg oder die Golfkriege) gestaltet.
Doch nicht nur für Genre ist eine derartige Untersuchung interessant. Auch im Polit- oder Psychothriller, im Horrorfilm oder im Fantastischen Film lassen sich gerade in den letzten Jahren signifikante Veränderungen festmachen, die eindeutig an die mehrdimensionale Modellierung kartografischer Modi gebunden sind. Kartografie kann hier als Motiv, als Montagetechnik, als narrative Strategie und visuelles Stilmittel begriffen werden. Meist stellen sich die Verbindungen zwischen diesen Ebenen als mediale Schnittstellen her.
Die Interdependenzen herauszupräparieren, eröffnet eine fruchtbare Forschungsperspektive, gerade wenn man die affektive Dimension mitbedenkt, die der Kartografie innewohnt. Ein solches Vorgehen böte eine film- und medienwissenschaftliche Verflechtung von textueller und affektiver Lesart von Genrefilmen.
Literatur
Böhnke, Alexander: Paratexte des Films. Über die Grenzen des filmischen Universums. Bielefeld 2007.
Brunken, Patrick: Krieg à la carte. kartographische Erzählstrategien verfilmter Kampfhandlung in Raoul Walshs OBJECTIVE, BURMA! (USA 1945). Nach dem Film (2005). In: http://www.nachdemfilm.de/content/krieg-à-la-carte (letzter Zugriff: 17. April 2016).
Buch-Glucksmann, Christine: Der kartographische Blick der Kunst. Berlin 1997.
Conley, Tom: Cartographic Cinema. Minneapolis 2007.
Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild. Kino 1. Frankfurt am Main 1997.
Foucault, Michel: Andere Räume. In: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, hg. von Karlheinz Barck et al. Leipzig 1992, S. 34–46.
Hansen, Miriam: Traces of Transgression in Apocalypse Now. Social Text 3 (1980), S. 123–135.
Kappelhoff, Hermann: Matrix der Gefühle. Das Kino, das Melodrama und das Theater der Empfindsamkeit. Berlin 2004.
Kappelhoff, Hermann: Shell Shocked Face. Einige Überlegungen zur rituellen Funktion des US-amerikanischen Kriegsfilms. In: Nicola Suthor, Erika Fischer-Lichte (Hgs.): Verklärte Körper. Ästhetiken der Transfiguration. München 2006, S. 69–89.
Lefèbvre, Henri: The Production of Space. Cambridge 1991.
Seeßlen, Georg: Von Stahlgewittern zur Dschungelkampfmaschine. Veränderungen des Krieges und des Kriegsfilms. In: Kino und Krieg. Von der Faszination eines tödlichen Genres. Frankfurt am Main 1989, S. 15–32.
Filmografie
A WALK IN THE SUN. Lewis Milestone. USA 1945.
APOCALYPSE NOW. Francis Ford Coppola. USA 1979.
BATTLEGROUND. William A. Wellman. USA 1949.
FIXED BAYONETS! Samuel Fuller. USA 1951.
GO TELL THE SPARTANS. Ted Post. USA 1978.
GUADALCANAL DIARY. Lewis Seiler. USA 1943.
OBJECTIVE, BURMA! Raoul Walsh. USA 1945.
PATTON. Franklin J. Schaffner. USA 1970.
SANDS OF IWO JIMA. Allan Dwan. USA 1949.
THE DEER HUNTER. Michael Cimino. USA 1978.
THE GREEN BERETS. John Wayne / Ray Kellogg. USA 1968.
THE LONGEST DAY. Andrew Marton et al. USA 1962.
THE THIN RED LINE. Andrew Marton. USA 1964.
TO HELL AND BACK. Jesse Hibbs. USA 1955.