Cilli Pogodda
- 1.) Einleitung
- 2.) Die Modulation des Gefühls und die Affektpoetik des Kriegsfilms
- 3.) THE WAR TAPES und die Pathosszenen des Kriegsfilms
- 4.) Symmetrische Figurenkonstellation: die "Home Stories"
- 5.) Strom der Kriegsbilder: die Montage auf der Mikroebene
- 6.) Der Unfall: die melodramatische Leidensszene
- 7.) Zusammenfassung
- Literatur
- Filmografie
1.) Einleitung
Man ist sich in der Film- und Medienwissenschaft weitgehend darüber einig, dass Dokumentarfilme nicht einfach ungestellte Wirklichkeit repräsentieren (vgl. Hohenberger 1998, Niney 2012). Sie selektieren, konstruieren und subjektivieren. Auch gesteht man ihnen Emotionalisierung zu. Doch nach wie vor wird ihre kulturelle Funktion hauptsächlich in der Informationsvermittlung gesehen. Affektive Dimensionen werden in der Regel nur als Nebeneffekte der dargestellten Ereignisse selbst oder der narrativen Umsetzung betrachtet: Ein Dokumentarfilm ist so spannend, traurig oder lustig wie die Geschichte, die er erzählt. Affizierende Inszenierungsstrategien werden kaum berücksichtigt, und wenn doch, dann meist in Hinblick auf ihr referenzielles Verhältnis zur dargestellten Wirklichkeit, also darauf, wie sehr sie perspektivieren, verfälschen oder authentifizieren. Nach wie vor bleibt also das jeweilige Verhältnis zur außerfilmischen Wirklichkeit die Richtschnur, ja sogar das eigentliche Erkenntnisinteresse in den Untersuchungen der Filme: Die Inszenierungen werden als subjektive Interpretationen der Wirklichkeit verstanden und auf genau dieses Verhältnis hin untersucht.
Während in Bezug auf den fiktionalen Film in den letzten Jahren immer mehr die Phänomenologie der Filmerfahrung, die Frage nach den affektiven und verkörperten Wahrnehmungserfahrungen des Zuschauers ins Zentrum des Interesses gerückt ist (vgl. Kappelhoff / Bakels 2011), wird der Dokumentarfilm zumeist an seinen Darstellungsleistungen auf Ebene narrativer Dramaturgien und der Repräsentation von Wirklichkeit gemessen (1). Das gilt vor allem in Bezug auf Filme, die sich mit historischen und politischen Ereignissen befassen: Hier scheint der Anspruch auf scheinbar objektive Darstellungsformen derart ausgeprägt, dass affizierende Inszenierungsstrategien an sich, genauso wie die Frage danach, immer schon unter dem Verdacht des Manipulativen stehen (vgl. Tumber / Palmer 2004). Historie, so lässt sich die damit einhergehende Haltung zusammenfassen, ist schließlich eine ernsthafte und infolgedessen mit Affizierung unvereinbare Angelegenheit. Denn die Intention der Affizierung erscheint automatisch ideologisch motiviert, sie wird disqualifiziert als eine schlechte Eigenschaft, die von den Unterhaltungs- auf die Informationsmedien abfärbt.
(1) Einen Ansatz zu einer Phänomenologie des Dokumentarischen hat Vivian Sobchack vorgestellt, nicht zuletzt auch in Bezug auf Fragen der Referenz und der Darstellung des Todes (Sobchack 1998; 1999).
Gerade für Dokumentarfilme gilt die Erwartung, sie sollten Kriegsereignisse objektiv sichtbar machen, frei von Ideologie und staatlichen Regulationsmechanismen, wie sie etwa mit der Strategie des embedded journalism durch das US-Militär im Irakkrieg gegeben sind. Was dabei nicht in den Blick kommt, ist der Umstand, dass in sämtlichen audiovisuellen Informationsmedien Strategien der Affektmobilisierung zum Tragen kommen, die auch für die Unterhaltungsmedien und, bezüglich der Kriegsberichterstattung, vor allem für das Genrekino Hollywoods kennzeichnend sind.
Dies lässt sich schon aus der Produktionsgeschichte des Kriegsfilm-Genres schließen. So kann man für den Hollywood-Kriegsfilm und die Berichterstattung zum Zweiten Weltkrieg in den 1940er Jahren einen gemeinsamen Ursprung geltend machen: Die newsreels und combat reports, mit denen sich die Bevölkerung über das Kriegsgeschehen im Kino informierte, stammen von den selben Regisseuren wie die fiktionalen Genrefilme, die im Anschluss gezeigt wurden (2). Gerade im Hinblick auf die amerikanische Kriegsführung seit dem Zweiten Weltkrieg ist zu bemerken, dass sämtliche Formen informativer Kriegsberichterstattung, ja sogar der Kriegsführung selbst, nicht getrennt zu denken sind von audiovisuellen Unterhaltungsmedien. Nicht nur beziehen sich beinahe alle fiktionalen Kriegsfilme der 40er und 50er Jahre auf dokumentarisches Bildmaterial aus den Reportagen, auch umgekehrt sind in diesen sehr offensichtlich Inszenierungsstrategien aus dem Genrekino zu verzeichnen, die auf die Mobilisierung von Affekten ausgerichtet sind (vgl. Kappelhoff 2016a).
(2) Zu nennen sind hier u. a. Frank Capra, John Ford, William Wyler oder John Huston (vgl. Kappelhoff 2016a, Gaertner 2013).
Dies deutet darauf hin, dass die Funktion von Dokumentarfilmen und Berichterstattungen über den Krieg innerhalb gesellschaftlicher Verständigungsprozesse nicht nur in der Informationsvermittlung zu suchen ist. Beide Formen sind vielmehr Teil einer kulturellen Imaginations- und Erinnerungstätigkeit, die auf Ebene der Zirkulation medialer Erfahrungsmodalitäten und Modi der Affizierung operiert. Man mag entgegnen, dass diese These für den Fall der Berichterstattung zum Zweiten Weltkrieg seinen Grund allein in der institutionellen Verzahnung und Monopolisierung der Studios hat und für die Bildproduktion spätestens seit ihrer Ausdifferenzierung in Zeiten des Internets nicht mehr haltbar sei. Die folgende Studie veranschaulicht jedoch anhand einer exemplarischen Analyse eines Dokumentarfilms über den Irakkrieg 2003, dass dieses Prinzip der ständigen Zirkulation und Verzweigung verschiedener ästhetischer und affektiver Modalitäten ein grundlegendes Charakteristikum der audiovisuellen Inszenierung von Krieg darstellt.
Gerade die Möglichkeiten der mobilen und digitalen Kommunikation scheinen als Garant für authentische Kriegsdarstellungen zu dienen: Was könnte schon realistischer sein als das Bild einer Handykamera, das ein Soldat selbst aufgezeichnet hat – ein ungestelltes Ereignisprotokoll, frei von institutioneller Einflussnahme oder Intention (vgl. Barker 2011). Die Filme, die sich solche Aufzeichnungstechniken zunutze machen, scheinen an diesem Authentizitätsversprechen zu partizipieren – so auch der Dokumentarfilm THE WAR TAPES (Deborah Scranton, USA 2006), dessen gesamtes im Irak entstandenes Material von den Soldaten selbst gedreht wurde. Dies brachte ihm das Attest höchster Authentizität ein (3). Die folgende Analyse macht jedoch deutlich, dass der Film seine Überzeugungskraft nicht aus dem Realismus des Materials gewinnt, sondern aus der Art und Weise, wie er dieses zeitlich anordnet und nach einem spezifischen affektdramaturgischen Muster organisiert. Die folgende Studie soll am Beispiel von THE WAR TAPES zeigen, welche affizierenden Inszenierungsstrategien in Kriegs-Dokumentarfilmen zu finden sind und in welchem Verhältnis sie zu fiktionalen Genres – dem Hollywood-Kriegsfilm, aber auch dem Melodrama oder Horrorfilm – stehen.
(3): Tribeca Film Festival Film Guide Archive. https://tribecafilm.com/filmguide/archive/512cf49f1c7d76e0460019ca-war-tapes. Abgerufen am 10.05.2016.
Zu diesem Zweck wird sich die Untersuchung ein filmanalytisches Konzept zunutze machen, das Hermann Kappelhoff in seinen Studien zum Melodrama und zum Hollywood-Kriegsfilm erarbeitet hat (vgl. Kappelhoff 2004, Kappelhoff / Bakels 2011). Dieses ermöglicht es, die Inszenierungen von Filmen als audiovisuelle Kompositionen zu beschreiben, die darauf abzielen, das Wahrnehmungserleben und affektive Empfinden des Zuschauers in seinem zeitlichen Verlauf zu strukturieren. Die zugrundeliegende Annahme ist, dass dieses Konzept, das anhand von Darstellungsformen des Genrekinos erarbeitet wurde, auch auf den Dokumentarfilm applizierbar ist. Kompositorische Prinzipien und inszenatorische Strategien der Affizierung werden somit filmanalytisch greifbar.
Des Weiteren wird ein affektpoetisches Konzept des Kriegsfilm-Genres in Anschlag gebracht, das auf dieser Analysemethode aufbaut und es ermöglicht, in medienübergreifenden Untersuchungen auf ästhetischer Ebene korrelierende Inszenierungsmuster herauszuarbeiten (vgl. Kappelhoff 2013; 2016a). Im Folgenden sollen diese Konzepte und die angewendeten Analysemethoden kurz skizziert werden, bevor sie in der Untersuchung des Films THE WAR TAPES zur Anwendung kommen.
2.) Die Modulation des Gefühls und die Affektpoetik des Kriegsfilms
Ausdrucksbewegung und Zuschauergefühl
Ebenso wie fiktionale Filme sind Dokumentarfilme audiovisuelle Formen, die sich als zeitliche Kompositionen entfalten: Sie bringen Bildkomposition, Kamerabewegung, Montage und Musik in eine zeitliche Ordnung und geben auf diese Weise dem Gezeigten eine Form, welche die Wahrnehmungserfahrung des Zuschauers adressiert. Es wird hier deshalb ein filmanalytisches Konzept in Anschlag gebracht, das Hermann Kappelhoff unter dem Begriff der „Ausdrucksbewegung“ entwickelt hat. Dies ermöglicht es, eine spezifische Expressivität dieser zeitlichen Kompositionen der Filme in den Blick zu bekommen (Kappelhoff 2004, Kappelhoff / Müller 2011).
In Anlehnung an die neo-phänomenologische Filmtheorie von Vivian Sobchack (1992), die Theorie des Affektbildes bei Gilles Deleuze (1989; 1991) sowie klassische psychologische, linguistische und anthropologische Theorien des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts (vgl. Kappelhoff 2004, Kappelhoff / Greifenstein 2014) werden Filme als multimodale, audiovisuelle Kompositionen von expressiven Raum-Zeit-Schemata verstanden. Diese strukturieren die unmittelbare Zuschauerwahrnehmung über die temporale Orchestrierung ihrer gestalterischen Mittel – Montage, Kamerabewegungen, Farb- und Lichtgestaltung, Ton, Figurenchoreographien, Gestik. Sie bilden dabei gestalthafte, zeitlich-räumliche Figurationen aus, die bestimmte perzeptive Qualitäten und Affektbereiche adressieren: das Klaustrophobische von engem Bildraum, unruhiger Kamera, eingeschränkter Sicht und dissonanter Musik etwa – ein inszenatorisches Muster, das vor allem im Genre-Kino als Ausdruck einer subjektiven Empfindung von Angst und Verunsicherung zu beobachten ist.
Das Zusammenwirken der einzelnen inszenatorischen Elemente verfährt wie die Töne in einem Musikstück: Die Melodie ist nicht in den einzelnen Noten gegeben, sondern nur in der zeitlichen Entfaltung und Verknüpfung im Prozess des Hörens. Der Zuschauer nimmt eine subjektive Erfahrungsperspektive ein, die jedoch nicht einer bestimmten Figur der Darstellung zuzuschreiben ist. Es handelt sich, entsprechend der neo-phänomenologischen Definition Sobchacks, um eine a-personale Erfahrung einer je spezifischen Art des In-der-Welt-Seins, die der Zuschauer als Gefühl am eigenen Leibe realisiert. Auch die darin artikulierten affektiven Dimensionen sind nicht als distinkte Emotionen einzelner Figuren zu verstehen, sondern realisieren sich als eine Ausdrucksqualität der gesamten filmischen Inszenierung, die der Zuschauer im Moment der Wahrnehmung gewissermaßen als am eigenen Leibe verkörperten Affekt austrägt. In ihrer temporalen Entfaltung synchronisieren sich die kompositorischen Muster der filmischen Inszenierung mit dem Wahrnehmungsprozess des Zuschauers und strukturieren seine perzeptiven, affektiven und kognitiven Operationen (Kappelhoff 2004, Kappelhoff / Bakels 2011).
Dieses Konzept filmischer Expressivität wurde am fiktionalen Genrekino, vor allem an den Hollywood-Genres des Melodramas und des Kriegsfilms entwickelt. Es ist jedoch darauf angelegt, für die Analyse aller Formen audiovisueller Medien in Anschlag gebracht zu werden.
Eine Methode zur Analyse der Affektpoetik des Kriegsfilm-Genres
Um die kompositorischen Prinzipien des Dokumentarfilms THE WAR TAPES zu den Inszenierungsmustern des Kriegsfilm-Genres ins Verhältnis zu setzen, ist zunächst zu bestimmen, wie diese Muster des Genres überhaupt gefasst werden können. Hier kann auf ein affektpoetisches Genrekonzept von Hermann Kappelhoff zurückgegriffen werden (Kappelhoff 2013; 2016a). Dieses Konzept geht zunächst davon aus, dass die wiederkehrenden Muster des Genres nicht nur auf Ebene narrativer Motive zu definieren sind, sondern dass es sich dabei vor allem um pathetische Komplexe handelt, die das affektive Erleben des Zuschauers adressieren. Das Anliegen der Filme ist demnach nicht, historische Ereignisse darzustellen, sondern den Zuschauer innerhalb einer gemeinschaftlich geteilten Wahrnehmungs- und Empfindungswelt zu verorten. Im Zentrum ihrer Inszenierungen stehen bestimmte mythopoetische Komplexe, die in der kulturellen Auseinandersetzung mit dem Ereignis prägend sind:
Der "Krieg" im Kriegsfilm ist stets mehr als nur ein narratives Sujet. Diesem sind immer die tatsächlichen historischen Erfahrungen als medialer Bildbestand persönlicher wie kollektiver Erinnerungen eingeschrieben. Zugleich sind mit diesem Sujet in hohem Maße phantasmatische Elemente verbunden. Die militärischen Initiationsriten, die tragische Schuld und die heroische Tat, das Opfer der Einzelnen für das Leben der Gemeinschaft, die Konfrontation mit dem Bewusstsein des eigenen Todes, der gesellschaftliche Ausnahmezustand, der alle Formen zivilen Lebens zerstört oder doch unter eine terroristische Ordnung zwingt: die einzelnen Narrative dieses Sujets stecken den Parcours eines mythologischen Komplexes ab. Man könnte diesen die "kulturelle Phantasie" des Krieges nennen. (Kappelhoff 2013, 188)
Entsprechend haben sich innerhalb des Genres eine begrenzte Anzahl wiederkehrender pathetischer Komplexe herausgebildet, die in fast allen Filmen zu finden sind. Sie realisieren sich einerseits als narrative Stereotype, erhalten ihre spezifische Funktion jedoch stets über die Entfaltung spezifischer, inszenatorisch ausgeprägter Erfahrungsmodalitäten und Affektbereiche. Aufgrund dieser affektiven Prägung wird dafür der Begriff der "Pathosszenen" verwendet. In systematischen Untersuchungen des klassischen Hollywood-Kriegsfilm-Genres wurden acht wiederkehrende Typen dieser Pathosszenen identifiziert, auch "Pathoskategorien" genannt (5):
(5): Diese Untersuchungen wurden durchgeführt im DFG-Projekt "Affektmobilisierung und mediale Kriegsinszenierung" am Exzellenzcluster "Languages of Emotion" der Freien Universität Berlin unter der Leitung Hermann Kappelhoffs. http://www.empirische-medienaesthetik.fu-berlin.de/emaex-system/affektdatenmatrix/kategorien/index.html. Abgerufen am 17.05.2016.
Narrative Stereotypen
Affektbereiche
Detaillierte Beschreibung
1.) Übergang zwischen zwei Gesellschaftsformen
Trennungsschmerz / Gemeinschaftsgefühl
Diese Pathosszenen rücken den Prozess der Initiation in die militärische Ordnung und die Differenz zwischen der alltäglichen Sozialität des zivilen Lebens und der militärischen Sozialität im Ausnahmezustand des Krieges ins Zentrum. Insbesondere werden hier Aspekte und Vorgänge des Übergangs zwischen diesen beiden Sphären, der Variation und Modifikation ziviler Sozialität mit dem Ziel der Etablierung einer militärischen Sozialität inszeniert. Innerhalb dieses Übergangs spielt oftmals das Zerfallen der Gemeinschaft in Männlichkeit und Weiblichkeit eine wesentliche Rolle, realisiert sich die militärische Gemeinschaft doch als eine rein männliche. Betont wird hier gerade das "Zwischen", die Schwellenphase nach der Herauslösung aus der alten Gesellschaftsform und vor der Eingliederung in die neue. Ihr affektives Potential gewinnen diese Pathosszenen primär aus der Inszenierung des Verlusts ziviler Gemeinschaftlichkeit einerseits, Momenten des Aufgehens innerhalb einer neuen Gemeinschaft andererseits.
2.) Formierung eines Gruppenkörpers (Corps)
Ich-Verlust (Angst) / übersteigertes Selbstwertgefühl
Die abschließende Phase dieses Initiationsprozesses besteht in der Integration in die Armee, welche das Verhältnis des Individuums zur militärischen Körperschaft in all seinen Variationen inszeniert. Betont wird in diesen Szenen die individuelle Körperlichkeit, die explizit nicht oder noch nicht im Gruppenkörper der Truppe aufgeht bzw. aufzugehen vermag. Es geht um den Prozess der Überführung individueller Körperlichkeit in einen ebenfalls als physisch konkret inszenierten Gruppenkörper. Dieser Verschmelzung wohnt stets eine zeitliche Dimension inne – als ihr Ausgangspunkt wird das Individuum betont, vor allem in Bildern einer physisch drängenden Enge. Bildkompositorisch – etwa im Motiv des Drills – mündet die geglückte Verschmelzung oftmals in geometrischen Figurationen des Gruppenkörpers. Das affektive Potential dieser Pathosszenen gründet sich auf die Erfahrung des Ich-Verlusts einerseits sowie die der euphorischen Entgrenzung individueller Körperlichkeit innerhalb des Gruppenkörpers andererseits.
3.) Kampf und Natur
Horror (Angst) / Feindseligkeit
In diesen Pathosszenen wird die Auseinandersetzung mit der Natur an Stelle bzw. als Erlebnisform des Kampfes mit dem Feind gesetzt. Die affektive Dimension der Pathosszenen "Kampf und Natur" leitet sich aus dem Inszenierungskonzept des klassischen Horrorfilms her: Die unheimliche Ungewissheit über das, was man sieht oder hört, die Angst vor dem Verlassensein, vor dem Verlust der individuellen Gestalt und des Ichs im Chaos. Gegen diese Angst stellen sich der individuelle Mut aus Verzweiflung und die aggressive Selbstbehauptung des militärischen Ordnungssinns.
Die Natur wird als Wirkungsmacht des Chaos inszeniert, die sich sowohl auf die Wahrnehmung und Orientierung des Einzelnen bezieht, als auch auf die Anstrengungen des Corps, jene Ordnung aufrechtzuerhalten, auf der seine Handlungsfähigkeit beruht. Die Soldaten erscheinen als Bund gegen die Natur, der sowohl ordnend als auch zerstörend eingreift. Die audiovisuelle Steigerung der chaotischen Wirkungsmacht ist dann paradoxerweise das Ereignis der Natur-Explosion, ihre Zerstörung durch die Waffen des Militärs. Die grundlegende Ambivalenz dieses Verhältnisses zeigt sich zuletzt darin, dass die Soldatenkörper der Natur immer zum Schutz und zur Tarnung angeglichen werden. Dieser Angleichungsprozess, das Verschwimmen physischer Gestaltgrenzen, wird als Kristallisationspunkt der Bedrohung sowie der Verwundbarkeit inszeniert.
4.) Kampf und Technologie
(All-)Macht(s)gefühl / Ohnmachtsgefühl
Über das Vorführen von Waffentechnologie wird eine Erfahrung des Übermächtigen vermittelt. Die affektive Dimension liegt in der Illusion, beide Komplexe – die Kampferlebnisse der Protagonisten und das kinematografische Wahrnehmungserleben des Kriegsgeschehens – als Bild triumphaler Verschmelzungslust zu realisieren. Diese Allmachtsphantasie droht jedoch jederzeit in ein Bild der Überwältigung und der Ohnmacht umzuschlagen.
Den ersten Komplex bilden die Verschmelzung von Menschen- und Maschinenkörper und die Inszenierung der Waffentechnologie als ein ins Unendliche verlängerter, übermächtiger Gesamtkörper. Der zweite Komplex dieser Pathosszenen rückt das besondere Verhältnis von Waffentechnik und Kinotechnik ins Zentrum. Im Vordergrund steht hier ein spezifischer Genuss des Zuschauers, der vor allem in einem Zuschauerstandpunkt begründet ist, dessen Potential es ist, Wahrnehmungs- und Empfindungsräume eines filmischen Kampfgeschehens beschreiten zu können, ohne einen Kratzer davon zu tragen. Die alltägliche Wahrnehmung wird so um die technischen Fähigkeiten des Kinos erweitert.
5.) Heimat, Frau, Zuhause
Trostgefühl (Heimweh) / Verlustschmerz (Heimweh)
Diese Pathosszenen legen den Fokus auf den Austritt aus der sozial grundierten militärischen Ordnung; dabei inszenieren sie stets auch einen Erinnerungsbezug. Das affektive Potential dieser Pathosszene entwickelt sich in der ersten Variante aus der tröstenden Sehnsucht nach der zivilen Sozialität mitsamt ihren Merkmalen und Komponenten. Hier ist die Anwesenheit zuvor abwesender Merkmale des vorkriegerischen zivilen Alltags für den Erinnerungsbezug maßgeblich, oft inszenatorisch übermittelt durch innerfilmisch medialisierte Bezüge zur zivilen Gesellschaft – etwa Fotografien oder Radiomusik.
Die zweite Variante zeigt den vollzogenen Austritt aus der militärischen Ordnung und damit die Rückkehr in eine zivile Sozialität. Sie inszeniert die Erschöpfung angesichts des Erinnerungsbezugs zum Krieg und einem damit verbundenen schmerzhaften Verlust der Bindung an die zivile Gesellschaft.
6.) Leiden / Opfer
Agonie / Trauer
Hier stehen die Erfahrung des körperlichen Schmerzes des Soldaten, die Verletzbarkeit und das Sterben im Zentrum. Das Motiv des Leidens tritt in drei Varianten auf: das victim, das sacrifice und die Leidensszene. Im Bild des Opfers als victim handelt es sich um die Bewusstwerdung von Verletzbar- und Sterblichkeit, die sich inszenatorisch meist in einem unvermittelten Moment des Todes realisiert. Das Opfer als sacrifice verbindet das Sterben des Soldaten inszenatorisch mit einem höheren Sinn, gebunden an die Ideale der Armee und der Nation. Der Opfertod realisiert sich als Heldentod – meistens in Verbindung von Tod und Begräbnis mit einer Erneuerung der Gemeinschaft. Im Zentrum der Leidensszene steht das leidende Individuum, das sich als verwundbarer und sterblicher Körper erfährt. Die Innenansicht einer unauflösbaren, unversöhnlichen Leidenserfahrung bezeichnet das zentrale Pathos des US-Kriegsfilms.
7.) Unrecht und Demütigung / moralische Selbstbehauptung
Zorn / Schuldgefühl
Die Rückkehr des Soldaten zu einer moralisch wertenden Ich-Position zeigt sich in der Reaktion auf Unrecht und Demütigung, die innerhalb der militärischen Strukturen erfahren werden, entweder als Figuration des Zorns oder des Schuldgefühls. Die Inszenierung dieser Figurationen macht ein spezifisches Empfinden greifbar, das ein subjektives Ich-Erleben als moralisches Verhältnis zu den Gesellschaftsformen Militär und Nation artikuliert. Die affektive Dimension dieser Pathosszenen beinhaltet einerseits den Zorn als Umschlag moralischen Urteilens in die Lust am Körperlichen, welche sich zuspitzt in der Raserei, der Rebellion und im explosiven Zorn des Berserkers. Andererseits beinhaltet sie Schuldgefühle als Konsequenz der Mitverantwortung für das zugefügte Leid in der Betonung kollektiver Identität und Gruppenzugehörigkeit. Die Rückkehr zur unabhängigen, individuellen Selbstbehauptung ist auch gekennzeichnet durch den trotzigen oder anklagenden Austritt aus der militärischen Gesellschaftsform.
8.) Gemeinschafts-
gefühl als eine medial geteilte Erinnerung an geteiltes Leid
Gemeinschaftsgefühl
Auf den ersten Blick definieren sich diese Pathosszenen schlicht über den Einsatz von Dokumentarmaterial in inszeniertes Geschehen. Dies umfasst tatsächliches Kampfgeschehen und die Bilder nach den Schlachten, die Verwundeten und Toten, aber auch die Rituale des Drills und des militärischen Alltags. Die Geschichtlichkeit sowie der Dokument- oder Zeugencharakter stellen dabei eine spezifische Relation zwischen Film und Zuschauer her. Es geht um eine affektive Teilhabe an genau diesen dokumentarischen Bildern im Modus der Erinnerung an die Nachrichtenbilder der Kriegsjahre und um die Inszenierung geteilter Erinnerung an kollektiv erlittenes Leid.
Die Dokumentarbilder oder Bilder, die explizit auf diese verweisen, operieren sowohl in einem darstellenden Modus als auch in einem Modus des Appells jenseits von Narration und Figurenkonstellation, der sich als Montage verdichteter Erinnerungsbilder an das Gedächtnis der Zuschauer und ihre leibliche Gegenwart richtet. Dabei halten diese Szenen der Fiktion nicht einfach einen Modus von Faktizität oder Authentizität entgegen. Stattdessen geht es um eine Referenz des inszenierten Geschehens auf jene dokumentarischen Bilder, die dabei fiktional aufgeladen werden. Oftmals werden die fiktionalen Figuren selbst als Zuschauende oder Zeugen inszeniert. Durch ihre Reaktionen entstehen Formen, die der Unfassbarkeit der Bilder begegnen und ein Verhältnis zu ihnen gewinnen, das individuelle, menschliche Gefühle und Handlungen wieder möglich macht.
Mithilfe dieser Definitionen der Pathosszenen können Filme des Kriegsfilm-Genres also zum einen in ihrem Gesamtverlauf, ihrer affektdramaturgischen Makrostruktur, untersucht und verglichen werden, zum anderen können in der Analyse einzelner Szenen auf Grundlage der oben skizzierten Analysemethode spezifische inszenatorische Muster und affektive Ausprägungen herausgearbeitet werden. Auf diese Weise können die Filme in einen historischen Vergleich gebracht und je unterschiedliche Zuschaueradressierungen evident gemacht werden, die Rückschlüsse auf sich wandelnde gesellschaftliche Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster zulassen.
Die Definition der Pathosszenen ermöglicht zudem, Interferenzen mit anderen Medienformaten in den Blick zu bekommen. So sind die Pathosszenen größtenteils selbst als generische Formen zu identifizieren, die auf eine Einbettung des Kriegsfilm-Genres in ein übergreifendes Genresystem verweisen: Die Pathoskategorie Kampf und Natur (3. Kategorie) etwa weist inszenatorische und affektive Modalitäten auf, die auch dem Genre des Horrorfilms zu eigen sind, während die Kategorie Leiden / Opfer (6. Kategorie) eine Affektdomäne markiert, die für das Melodrama charakteristisch ist.
Darüber hinaus stehen die Pathosformen des Genres in einem engen Wechselverhältnis mit der Kriegsberichterstattung, wie vor allem an den Filmen zum Zweiten Weltkrieg deutlich wird (6). Für den Irakkrieg bleibt dieser Umstand noch nachzuweisen, und genau dazu möchte die folgende Analyse einen Beitrag leisten. Es ist nun also zu untersuchen, welche spezifischen Formen der Affizierung in THE WAR TAPES zu identifizieren sind und in welchem Verhältnis sie zur Affektpoetik des Kriegsfilm-Genres stehen.
(6) Vergleiche den Aufsatz von David Gaertner in dieser Ausgabe.
3.) THE WAR TAPES und die Pathosszenen des Kriegsfilms
THE WAR TAPES ist ein Dokumentarfilm von Deborah Scranton aus dem Jahre 2006, der schon durch die Umstände seiner Entstehung Aufmerksamkeit erregt: Das gesamte im Irak gedrehte Material wurde von den Soldaten selbst aufgenommen. Insgesamt wurden 21 Soldaten mit miniDV-Kameras ausgestattet; davon filmten fünf das gesamte Jahr ihres Einsatzes über. Diese Entstehungsgeschichte brachte dem Film das Attest tiefster Authentizität ein. Ein ganzer Film buchstäblich durch die Augen der Soldaten gesehen: Endlich sei der Krieg so zu sehen, wie er wirklich ist. Einen wesentlichen Anteil daran hat die digitale Aufzeichnungstechnik selbst: Sie ermöglicht ein solches Vorhaben nicht nur logistisch, sondern ist durch den ausgedehnten Einsatz von Mobiltelefonkameras und Camcordern sowie den Verbreitungsmöglichkeiten des Internets längst zum ästhetischen Kennzeichen ungestellter Wirklichkeiten dieses Krieges geworden.
Bei genauerem Blick offenbart sich jedoch, dass der Film seine Spezifik und Überzeugungskraft weniger aus dem Realitätsversprechen der verwackelten Camcorderaufnahmen erzeugt, sondern vielmehr darüber, wie er dieses Material zeitlich und inszenatorisch organisiert. Die Dramaturgie des Films bestimmt sich keineswegs über die Chronologie realer Ereignisse oder am Maßstab eines besonders "wahren" Kriegsbildes, sondern über die kompositionelle Entfaltung sehr subjektiver und sinnlich-affektiver Erfahrungsmodalitäten. Von Anfang bis Ende ist er nach einer ganz eigenen Logik komponiert, die sich maßgeblich an inszenatorischen Mustern des fiktionalen Genres orientiert.
Dies lässt sich zunächst anhand des Diagramms der affektdramaturgischen Makrostruktur des Films veranschaulichen (7). Bei der Analyse des Films war als erstes die Frage zu klären, ob Pathosszenen des fiktionalen Genres identifiziert werden können. Das Diagramm zeigt das Ergebnis dieses ersten Untersuchungsschritts, eine Visualisierung der Anordnung der Pathosszenen im Filmverlauf, und lässt erkennen: Die affektpoetische Makrostruktur des Films ähnelt dem klassischen Muster früher Genrefilme – mehr als es bei manch fiktionalem Film der Gegenwart, wie etwa JARHEAD (Sam Mendes, USA 2005), der Fall ist (vgl. Pogodda 2013).
(7) Für eine ausführliche Darstellung der systematischen Erstellung dieser affektdramaturgischen Makrostruktur siehe Hermann Kappelhoff et al.: eMAEX – Ansätze und Potentiale einer systematisierten Methode zur Untersuchung filmischer Ausdrucksqualitäten, http://www.empirische-medienaesthetik.fu-berlin.de/media/emaex_methode_deutsch/eMAEX-_-Ansaetze-und-Potentiale-einer-systematisierten-Methode-zur-Untersuchung-filmischer-Ausdrucksqualitaeten.pdf?1401464494.
Die Makrostruktur des Films ist also darauf angelegt, den Zuschauer in ganz ähnlicher Weise in eine Affektdramaturgie einzubinden, wie es bei frühen fiktionalen Filmen des Kriegsfilm-Genres der Fall ist. Dabei sind gerade Anleihen an den Urtypus dieser Affektdramaturgie zu verzeichnen, wie er in Filmen wie etwa GUNG HO! (Randolph Scott, USA 1943) vertreten ist, denen eine klar mobilisierende Intention zugeschrieben werden kann (8). Dies lässt sich an einigen zentralen Merkmalen festmachen:
(8) Vergleiche die Beiträge von Kappelhoff, Grotkopp und Gaertner in dieser Ausgabe.
Am Anfang ist eine starke Ausprägung des Übergangs zwischen zwei Gesellschaftsformen und der Formierung eines Gruppenkörpers (Kategorien 1 und 2) zu verzeichnen. Auch hier stehen also das Ritual der Initiation und die Integration des Individuums in die übergeordnete Körperschaft am Beginn des Films.
Im mittleren Teil des Films tritt die Inszenierung des Komplexes von Heimat, Frau, Zuhause (Kategorie 5) hinzu, gepaart mit einer ersten Szene von Leiden / Opfer (Kategorie 6): Dies entspricht in klassischen Kriegsfilmen einer ersten Phase der sehnsuchtsvollen Imagination der Heimat und erster Leidenserfahrungen.
Im letzten Drittel folgt dann eine Gefechtssequenz, in der die Inszenierung des Kampfgeschehens und der Waffentechnik zu einem Höhepunkt kommt und zugleich in dieser Steigerung mit einer weiteren Leidensszene kombiniert wird.
Sogar die abschließende Wiederkehr eines Übergangs zwischen zwei Gesellschaftsformen (Kategorie 1) ist zu beobachten, mit der eine Reintegration in die zivile Gesellschaft und die moralische Legitimierung der Kriegserfahrung vonstatten geht – in diesem Fall handelt es sich um eine sehr konventionelle homecoming-Szene. Daran schließt sich eine Art Epilog an, der die Soldaten wieder in ihrer Heimat zeigt.
Es zeigt sich also, dass das Bildmaterial der Soldaten in eine affektdramaturgische Ordnung gebracht wird, die sich stark an denen des fiktionalen Genres orientiert. Im weiteren Verlauf der Studie wird zu untersuchen sein, wie sich diese hier identifizierten Pathosszenen inszenatorisch aus dem dokumentarischen Material heraus realisieren und was ihre spezifischen affektiven Prägungen sind. Hierzu kann bei einem signifikanten Merkmal angesetzt werden, das ebenfalls aus dem Makrodiagramm abgeleitet werden kann, nämlich das verstärkte Auftreten von Kategorie 5, Heimat, Frau, Zuhause:
Wenn man bedenkt, dass die Besonderheit des Films daran festgemacht wird, dass das Material aus dem Kriegsgebiet ausschließlich von den Soldaten selbst stammt, dass also der Krieg zu sehen ist, wie er wirklich ist, dann ist es doch bemerkenswert, dass ausgerechnet die Sequenzen der Kategorie 5, in denen es um die Imagination der Heimat geht, derart stark ausgeprägt sind. Die weitere Analyse wird deshalb an dieser Stelle ansetzen und zunächst herausarbeiten, was die Spezifika dieser Sequenzen sind.
4.) Symmetrische Figurenkonstellation: die "Home Stories"
Sieht man sich die Sequenzen, die sich dem Komplex der Heimat und der zurückgelassenen Frauen und Familien widmen, über den Filmverlauf hinweg genauer an, wird klar, dass diese stark an die drei Hauptfiguren gebunden sind. Obwohl der Film von vielen Soldaten gefilmt wurde, stehen drei davon im Mittelpunkt und werden als Figuren ausgebaut. Dies sind Steve Pink, Mike Moriarty und Zack Bazzi. Jeder der drei wird sowohl narrativ als auch inszenatorisch als Persönlichkeit mit je spezifischen Eigenschaften charakterisiert.
Steve Pink ist ein beredsamer Schreiner mit Interesse am Journalismus, der Englisch studiert hat und gerne filmt und schreibt. Immer wieder sehen wir ihn Dinge aufschreiben, die er gleichzeitig im Voice-over verbalisiert.
Mike Moriarty ist ein mustergültiger Patriot; ihm geht es unaufhörlich um Werte wie Familie und Stolz aufs Vaterland. Der Kriegsdienst ist für ihn eine ehrenvolle Pflicht, die in seinem Fall mit den Bildern von 9/11 assoziiert wird: Wir sehen seine eigenen Aufnahmen von Ground Zero kurz nach dem 11. September 2001, sehen seine Hand, die den Staub auf den Straßen berührt und erfahren, dass er extra dorthin gefahren ist, um "die Wunde" mit eigenen Augen zu sehen. Er wird als nicht sehr gebildeter, aber nachdenklicher Typ beschrieben, der mit Depressionen zu kämpfen hat und oft in dunklen Nachtaufnahmen gezeigt wird.
Zack Bazzi ist ein libanesisch-stämmiger Einwanderer, der arabisch spricht und sich vor allem durch eine recht pragmatische Haltung gegenüber der Kriegserfahrung auszeichnet. Den Kriegsdienst betrachtet er als eine Art berufliche Verpflichtung gegenüber der Nation, die ihn freundlich aufgenommen hat. Er verdient sich damit seine Staatsbürgerschaft, die er am Ende des Films verliehen bekommt. Er hat bereits in früheren Konflikten gedient und verfolgt neben seinem Militärdienst mit Ehrgeiz ein Politikstudium.
All dies wird im Voice-over der Figuren selbst oder durch Erzählungen der Angehörigen vermittelt. Es gibt keinen Off-Kommentar durch einen Sprecher. Über den gesamten Filmverlauf hinweg stehen diese drei Figuren im Mittelpunkt und kommen immer wieder in "Talking-Head"-Passagen zu Wort.
Die Charakterisierungen der Figuren richten sich jedoch nur auf den ersten Blick nach deren außerfilmischen Persönlichkeiten. Denn eigentlich werden sie vielmehr als drei Typen definiert, die eine stellvertretende Rolle einnehmen, und die mit stereotypen Merkmalen und Attributen ausgestattet werden, die sich auch im Genre des Kriegsfilms finden. Ein skeptischer Schreiberling wie Pink ist zum Beispiel auch in der Figur des George Beckworth in THE GREEN BERETS (John Wayne / Ray Kellogg / Mervyn LeRoy, USA 1968) vertreten, und Moriarty trägt als patriotischer und pflichtbewusster Familienvater Merkmale, die zur Grundaustattung vieler Figuren des klassischen Kriegsfilms gehören (9). Besonders greifbar wird dies jedoch an Bazzi: Er verkörpert den Typ des Zuwanderers, der ebenfalls in vielen Kriegsfilmen vertreten ist und die Idee der amerikanischen Gemeinschaft zum Ausdruck bringt, die sich nicht über ethnische Zugehörigkeit bestimmt (10). Dass dieses Moment für den Film eine Rolle spielt, wird spätestens klar, wenn wir Bazzi am Ende bei seiner Einbürgerungszeremonie begleiten.
(9) Vergleiche etwa die väterlichen Führungsfiguren in GUNG HO! oder BATAAN (Tay Garnett, USA 1944).
(10) Auch hierfür ist BATAAN exemplarisch, eine besondere Variation in einem klassischen Kriegsfilm bietet SAHARA (Zoltan Korda, USA 1943)
Während bei den im Irak gedrehten Aufnahmen nur teilweise klar ist, welcher Figur sie jeweils zugeordnet werden können, also welche der Figuren sie mit ihrem Camcorder aufgezeichnet hat, sind die Szenen, in denen es um das Verhältnis zu Heimat, Frau und Zuhause (Kategorie 5) geht, jeweils ganz klar einer der drei Hauptfiguren gewidmet. Diese sind, anders als das Material aus dem Irak, von professionellen Fernsehteams gedreht und zeigen uns Heim, Familie oder Freunde der Figuren. Das ist zunächst eine Passage am Anfang des Films, in der alle drei Figuren nacheinander eingeführt werden. Dann folgt über den Filmverlauf hinweg für jede Figur eine Szene, die als eine Art "Homestory" beschrieben werden könnte. Am Ende steht ein Epilog, in dem noch mal alle drei eine je sehr ausgedehnte Passage haben. In der Länge und Ausprägung sind diese personalisierten Szenen einander je sehr ähnlich. Das heißt, der Film stellt eine Art Symmetrie zwischen seinen drei Figuren her.
Einzig eine zusätzliche Home Story von Mike Moriarty gegen Ende des Einsatzes bildet eine Ausnahme. Dem lassen sich mehrere Gründe bzw. Funktionen zuschreiben; hierauf wird später zurückzukommen sein.
Zunächst soll in einer Detailanalyse veranschaulicht werden, wie die Heimat-Sequenzen grundsätzlich in das Filmmaterial aus dem Kriegsgebiet eingebunden und über die Montage in einen affektdramaturgischen Fluss gebracht werden.
5.) Strom der Kriegsbilder: die Montage auf der Mikroebene
Abgesehen von den Home Stories sind alle Passagen des Films von den Soldaten selbst gedreht und im Irak situiert. Auch in diesen Passagen stehen die drei etablierten Figuren im Mittelpunkt. Immer wieder weisen Einblendungen wie "Steve Pink's camera" am unteren Bildrand darauf hin, wer von ihnen die Bilder aufgezeichnet hat, die gerade zu sehen sind. Allerdings geschieht dies nicht durchgängig: Die Einblendungen erscheinen nur sporadisch, oft ist nicht zu erkennen, wessen Bild wir gerade sehen. Immer wieder kommt es vor, dass wir eine durch Einblendung einer Figur zugeschriebene Einstellung sehen, bald darauf die Kamera jedoch wieder davon ablässt, ohne dass wir wissen, welche Perspektive wir nun eingenommen haben. Auf diese Weise fügen sich die Aufnahmen zu einem Bilderstrom, aus welchem sich die Subjektiven der drei Figuren immer wieder für einen Moment herausschälen, um sich dann wieder darin aufzulösen.
Clip 1: THE WAR TAPES (Deborah Scranton, USA 2006), Min. 18–19.
Zuerst fahren wir gewissermaßen mit Moriarty mit, deutlich markiert durch eine Einblendung und sein Voice-over. Dann folgt die Aufnahme der Explosion, in der nicht mehr klar ist, durch wessen Kamera wir gerade sehen. Markant wird das dann, wenn plötzlich ein verwackeltes Close-up von Pink einmontiert wird und zu merken ist, dass wir definitiv nicht mehr bei Moriarty sind.
Während des Kampfgeschehens löst sich die Perspektive dann völlig auf, wir sehen nur noch lautes verwackeltes Chaos, in dem keine Orientierung mehr gegeben ist und der Blick förmlich auseinanderbricht.
Auf diese Weise verfährt die Montage in den im Irak gedrehten Passagen über den gesamten Film hinweg. Daraus entsteht eine sehr subjektive Erfahrungsperspektive, die gleichwohl keinen konkreten Individuen zugeordnet werden kann. Vielmehr handelt es sich um die geteilte Perspektive einer imaginären Gruppe, die aber nie als solche ins Bild gesetzt wird, sondern nur über die zwischen den verschiedenen Subjektiven changierenden Kameraperspektiven greifbar ist. Die drei Hauptfiguren fungieren mit ihren klar markierten Subjektiven gewissermaßen als Kristallisationspunkte innerhalb dieses changierenden Stroms, aus welchem sie immer wieder hervortreten, um sich gleich darauf wieder aufzulösen.
Direkt im Anschluss an die hier beschriebene Einsatzszene wechselt der Modus jedoch völlig: Plötzlich sehen wir beschriebenes Papier, hören Pinks Stimme als Voice-over, sehen nur seine Augen im Close-up – ein Moment der Verinnerlichung, in welchem ein subjektiver Bildraum geschaffen wird, der uns für einen Moment ganz an die Figur Pink bindet. Hier wird die verstörende affektive Qualität der Kampfaufnahmen zuvor in einen anderen Modus überführt, der etwas Ordnendes hat. Entscheidend ist, dass es nicht so sehr der Inhalt der Worte ist, der diese Szene prägt, sondern der Akt des Niederschreibens selbst. Er ist für den Zuschauer als eine gänzlich sinnliche Erfahrung gegeben: Die Detailaufnahmen des Papiers und des Gesichts lassen die Strukturen der Oberflächen erkennen, während das Voice-over den Eindruck vermittelt, man könne Pinks Gedanken wärend des Niederschreibens hören. Zugleich wird Pinks Eigenschaft als Hobby-Journalist ausgebaut als intimer Persönlichkeitszug, der ihm allein eigen ist.
Clip 2: THE WAR TAPES (Deborah Scranton, USA 2006), Min. 19–20.
Damit ist das prägende Kompositionsprinzip dieses Films angedeutet: Die Erfahrungsperspektive, die er schafft, ist einerseits extrem subjektiviert, andererseits gerade dadurch geprägt, dass sie keinem bestimmten Subjekt zugeordnet werden kann und ständig zwischen den drei Figuren – und potentiell noch anderen – changiert. Aus diesem Fluss "wachsen" die drei Figuren gewissermaßen heraus, gewinnen an Kontur, bis die Perspektive wieder zerbricht. Gleichzeitig werden die Figuren aber nach und nach mit Attributen ausgestattet, die sie immer deutlicher als Typen charakterisieren. Dies wird noch anschaulicher in der anschließenden Szene, einer Home Story Moriartys, die unmittelbar an Pinks Tagebuch-Passage anschließt.
Clip 3: THE WAR TAPES (Deborah Scranton, USA 2006), Min. 20–23.
Der dunkle Innenraum eines Zeltes ist zu sehen, leise Gitarrenklänge ertönen und es entsteht der Eindruck einer bedächtigen, sentimentalen Stimmung. Daraus tritt Moriarty hervor, in grünlichen Close-ups mit Restlichtverstärker, wie sie für ihn sehr typisch sind. Fotos seiner Kinder sind zu sehen, danach sein Haus in den USA. Hier beginnt die Home Story mit seiner Familie. Im Gegensatz zu den Passagen im Irak wurden die Home Stories von professionellen Kamerateams gedreht. Entsprechend zeigen sie sich in einem völlig anderen Modus, in ruhigen sauberen Kamerabewegungen und Montagen. Interessant ist vor allem, wie der Figur Moriartys hier auf narrativer Ebene persönliche Attribute verliehen werden, ohne dass er selbst anwesend ist: Wir erfahren von seinem Familienglück, seinem Pflichtbewusstsein, seinen Depressionen und dem Stolz seines Sohnes.
Die Home-Story-Szenen funktionieren wie eine Art Negativabdruck der Figuren, die keinen anderen Zweck haben, als ihren Status als Figur auszubauen. Sie werden den Bildern aus dem Irak, in denen die Perspektive ständig changiert und zersplittert, entgegengesetzt wie eindeutige Anker, an denen sich die Figuren als Typen herauskristallisieren.
Die spezifische Affektpoetik dieses Films ist geprägt von eben dieser Wechselbewegung. Die Inszenierung der Irak-Passagen buchstabiert einen Erfahrungsmodus aus, der schon den Bildern selbst zueigen ist und den wir auch von vielen Amateurvideos aus dem Internet kennen: die ungewisse Zeitlichkeit, das Nichtwissen und Erwarten dessen, was vielleicht als nächstes zu sehen sein wird, die ungebundene Perspektive, die dauernd zersplittert, aber trotzdem so radikal subjektiv ist. Dieser Modus wird noch verstärkt, indem betont wird, dass sich der hier konstruierte, subjektive Blick nicht auf ein reales Ereignis oder eine konkrete Person bezieht, sondern auf eine geteilte Erfahrung des Krieges, an der der Zuschauer in Form dieser spezifischen medialen Erfahrungsmodalität partizipiert.
6.) Der Unfall: die melodramatische Leidensszene
Auf Ebene der kompositorischen Makrostruktur des Films lässt sich neben den symmetrisch angeordneten Home Stories ein weiteres Strukturmerkmal feststellen. Ähnlich wie es in der oben beschriebenen Szene der Fall ist, geht fast jeder Home Story eine Sequenz voraus, in der wir mit Kampfszenen oder Gräuelbildern konfrontiert werden. Die erschütternden Erfahrungen des Kampfes und der grausige Anblick von Leichen und verkohlten Körpern wird also immer von einer Home Story aufgefangen.
Auch bei diesem Muster ergibt sich rund um die zusätzliche Heimszene von Moriarty eine Besonderheit gegenüber der vorhergehenden Symmetrie. Die Kampfsequenz, die ihr vorgeordnet ist, ist eine Wiederholung des Prologs, der hier in einer etwas längeren Fassung wiederkehrt: ein schweres Feuergefecht in Fallujah, dem wir in abenteuerlicher Nähe beiwohnen. Auf diese Szene soll hier nicht weiter eingegangen werden. Ihre Vorwegnahme zu Beginn des Films impliziert jedoch, dass die Sequenz rund um Moriartys zusätzliche Home Story von besonderer Bedeutung ist und einen dramaturgischen Höhepunkt markiert.
Eine weitere Besonderheit findet sich darin, dass nach Moriartys zusätzlicher Home Story eine weitere Szene folgt, in der wir mit Schreckensbildern konfrontiert werden. Moriarty ist mit einem Konvoi unterwegs, als ein junges Mädchen vom Militärfahrzeug überfahren und tödlich verstümmelt wird. Der Unfall selbst wurde nicht aufgezeichnet, jedoch die Unfallstelle kurz darauf. Die Szene erfährt durch die Konstellation mit dem wiederholten Prolog und Mikes zusätzlicher Home Story eine Einleitung, die auf ihren affektdramaturgisch zentralen Charakter verweist. Sie soll deshalb im Folgenden genauer untersucht werden.
Clip 4: THE WAR TAPES (Deborah Scranton, USA 2006), Min. 66–69.
Die Heimszene begleitet wieder Mike Moriartys Frau Randi und ihren Sohn. Es ist zu sehen, wie er stolz mit seiner GI-Joe Puppe hantiert, wie Randi den Ofen anheizt und schließlich bei der Arbeit am Schreibtisch sitzt. Der Computermonitor, gewissermaßen als ihr Gegenüber, zeigt ein Bild Mikes in Uniform als Schreibtischhintergrund. Nahaufnahmen von Fotos auf dem Schreibtisch sind zu sehen, die Mike im Flecktarn zeigen.
Dann folgt wieder eine Aufnahme von Randi vor ihrem Computer. Im Voice-over erzählt sie, sie wisse genau, wie sehr die Erlebnisse im Krieg ihren Mann getroffen haben. "He has seen so much ..." Dann wechselt die Montage mit einem Schnitt wieder zu Mike ins Kriegsgebiet. Wie in Reaktion auf Randis letzte Worte, gewissermaßen als Gegenschuss zu Randis Blick auf den Computermonitor mit Mikes Bild, ist das Bild von Mikes Kamera zu sehen: Sie zeigt seinen Blick von einem Humvee herunter auf eine irakische Straße in der Dämmerung. Eine weitere Einstellung zeigt Mikes Gesicht, der, wie aus seinem Voice-over zu erfahren ist, nun auf einem Einsatz begleiten wird: Die Soldaten geben einem LKW-Konvoi Geleitschutz.
Eine lange Einstellung zeigt den Blick vom fahrenden Humvee herunter nach vorne auf die Straße. Im Off ist zu hören, wie die Soldaten sich über zu hohe Geschwindigkeiten und unübersichtliche Straßen unterhalten. Kurz ist ein Sonnenunergang vom fahrenden Fahrzeug aus zu sehen; dann ist es Nacht, und Moriarty erzählt in einem Voice-over vom Hergang des Unfalls mit der jungen Frau. Während er das tut, sehen wir verwaschene Nachtaufnahmen vom Humvee herunter, undeutliche Umrisse von LKWs. Ein Shutter versetzt die Aufnahmen in ein verlangsamtes Stocken, dazu setzt leise ein unheimliches Summen ein. Als Moriartys Erzählung bei dem Moment angelangt ist, in welchem das Mädchen vom Fahrzeug erfasst wird, wird das Bild schwarz und wir hören nur noch seine Stimme.
Für einen Moment ist der Unfall nur als subjektive Erinnerung Moriartys gegeben, die von keinem Bild gezeigt werden kann und nur in seiner stockenden Stimme präsent ist. Dann wird die Perspektive abgegeben an Moriartys Fahrer, der ebenfalls sein Erleben der Situation schildert, während im Bild weiter nur Dunkelheit und undeutliche Lichtschemen zu sehen sind; "The worst thing of my life ..."
Clip 5: THE WAR TAPES (Deborah Scranton, USA 2006), Min. 68–71.
Als seine Worte enden, bekommen wir den Unfallort zu sehen: In einer Totalen vom Humvee herab, aus Moriartys Position, nimmt die Kamera den toten Körper in den Blick, der nur undeutlich zu erkennen ist. Das Bild ist unscharf, grobkörnig und in grünliche Dunkelheit gehüllt. Eine Einblendung gibt die Einstellung als Moriartys Kamera zu erkennen. Die Kamera zoomt näher an den Körper heran und wieder weg, als wolle sie sich vorsichtig "herantasten" und besser erkennen können, was sie dort sieht. Aus dem Off setzt Moriarty an, in ungläubigen betroffenen Worten die Szene zu kommentieren.
Wir beobachten Aktivitäten am Unfallort, immer wieder nimmt die Kamera den toten Körper in den Blick, in immer näheren Einstellungen. Dann sehen wir ein nahes Close-up von Moriartys Squad-Leader, eine grüne Nachtsichtaufnahme, die keinen Hintergrund preisgibt und nur sein Gesicht in einem gespenstischen Leuchten zeigt. Das Bild ist der Szenerie völlig enthoben und in keiner Weise zeitlich oder örtlich daran anzubinden. Auch von seiner eigenen Stimme ist es lösgelöst: Wir hören aus dem Off seine Worte: "I will remember that for the rest of my life." In der nächsten Einstellung, sozusagen im Gegenschuss zum Gesicht, ist eine sehr nahe Aufnahme des toten Körpers zu sehen, in einer langsam ruckelnden Zeitlupe.
Irgendwann lässt die Kamera vom Körper ab und geht wieder in die Totale; zugleich verstummen alle Kommentare und wir betrachten für einen Moment weiter das Gebilde am Boden. Scheinwerferlicht taucht die Szenerie in ein helleres Licht, das sich über den Restlichtverstärker der Kamera nur als grelles Grün äußert, ohne dadurch mehr vom Unfallort zu erkennen zu geben. Ein Shutter setzt ein und setzt die Szenerie in eine entrückte Zeitlichkeit, die zugleich über die verwackelnden Bewegungen und ein unheimliches Summen eine horrorartige Stimmung erzeugt.
Clip 6: THE WAR TAPES (Deborah Scranton, USA 2006), Min. 70–71.
Man könnte nun sagen, dass sich in dieser Szene das dokumentarische Versprechen des Films am deutlichsten erfüllt: Die Bilder zeigen uns den ganzen Schrecken des Krieges, den grausigen Tod unschuldiger Zivilisten, der in den Nachrichten nicht zu sehen ist, in ihrer Authentizität verifiziert durch die Entstehung aus der Hand der Soldaten. Dem laufen jedoch zwei Dinge zuwider: Da ist zunächst die Tatsache, dass man eigentlich nichts erkennen kann, egal wie sehr sich die Kamera bemüht, den Körper in den Blick zu bekommen. Und da ist zum anderen die inszenatorische Komposition, in der das Material geordnet wird. In ihrer unwirklichen Zeitlichkeit, den "tastenden" Kamerabewegungen, den immer wieder forciert zum Stocken und Verschwimmen gebrachten Bildern, und vor allem in dem dazwischengeschnittenen unverorteten Close-up des Soldaten, auf das diese Bilder bezogen sind, ist die gesamte Sequenz nicht auf "authentische Dokumentation", sondern auf ein subjektives Selbstempfinden ausgerichtet.
Schon die Einleitung der Sequenz – die Home Story Moriartys und Randis Bemerkung, was dieser alles gesehen habe und was ihn berühre – initiiert eine subjektive Perspektivierung. In der Folge entfaltet sich die gesamte Sequenz als eine empfindsame Innenansicht, die zunächst an Moriarty gebunden ist, sich dann aber als eine geteilte a-personale Subjektive zeigt. Hier realisiert sich eine melodramatische Leidensszene, wie sie für das Genre des Kriegsfilms so zentral ist, die hier jedoch in einer spezifischen Modifikation erscheint. Diese Modifikation erfährt sie über das Bildmaterial selbst, die spezifische Zeitlichkeit und Unmittelbarkeit, die in eine zeitliche, kompositorische Entfaltung gebracht wird. Das Close-up des Soldaten ist nur die letzte Kulmination dieses Prozesses; es ist eine Variation des shell shocked face, das Hermann Kappelhoff als die zentrale melodramatische Formel des Kriegsfilmgenres benannt hat (Kappelhoff 2005; Kappelhoff 2016). In ihm "kondensiert" der Schrecken der Bilder, das nicht eingelöste Begehren nach dessen Anschaulichkeit und das Leiden daran als ein individuelles Empfinden, das der Zuschauer am eigenen Leibe teilt.
Gleichwohl tendiert die gesamte Inszenierung auch immer wieder in einen Modus des Horrorartigen. Damit ist eine weitere spezifische Prägung benannt, die der melodramatische Modus hier erfährt: Er ist nicht bezogen auf das heroische Opfer oder das Leiden des Soldaten an seiner Verletzlichkeit, sondern es ist ein Bild des Leidens an der eigenen Schuld und der Unmöglichkeit, den Schrecken zu erfassen (vgl. Kappelhoff 2016b). Das Nicht-Fassen-Können, das ständige Ins-Dunkel- und Ins-Rauschen-Entgleiten der Bilder und das gleichzeitige gespannte Warten darauf, doch etwas zu sehen, artikuliert ein melodramatisches Leiden, das zur Horrorvision geworden ist.
7.) Zusammenfassung
Wie sich gezeigt hat, ordnet der Film sein Material auf eine Affektdramaturgie hin, die an klassische Genrefilme angelehnt ist. Zudem entwirft er seine drei Figuren als Stereotype, die ebenfalls dem Genre entlehnt sind. Diese drei Typen schälen sich immer wieder aus dem Bilderstrom der Aufnahmen aus dem Kriegsgebiet heraus, um aber auch immer wieder darin aufzugehen.
Das selbstgedrehte Material der Soldaten, das so viel Realismus verspricht, entfaltet seine spezifische Wirkung erst in der Verschaltung mit dieser affektdramaturgischen Logik. Zunächst wird eine Wahrnehmungsqualität gewissermaßen ausbuchstabiert, die dem Filmmaterial selbst eigen ist: das Unmittelbare, die diffuse Zeitlichkeit, die unheimliche Erwartung, das jederzeit etwas passieren, etwas sichtbar werden kann. Diese Qualität wird ausgeformt in einen Wahrnehmungsmodus, der zum leitenden Prinzip der Zuschaueradressierung wird. Zugleich wird dieser Modus eingefasst in pathetische Formen, die dem fiktionalen Genre entstammen. Seinen Höhepunkt findet dies in der Leidensszene um die tote junge Frau: Hier wird die Bildlichkeit des Videomaterials endgültig in einen melodramatischen Modus überführt. Die Bilder sind längst nicht mehr reine Ereignisprotokolle eines historischen Geschehens, sondern beziehen den Schrecken, das Verwerfliche des Krieges unmittelbar auf das subjektive Selbstempfinden gesellschaftlicher Individuen.
Dass es sich dabei weniger um die Subjektivität der Figuren und mehr um eine geteilte Subjektive handelt, die sich an den Zuschauer richtet, wird wiederum deutlich an der symmetrischen Figurenkonstruktion und der Art und Weise, wie sich ihre Perspektiven und Typen aus dem Bildmaterial herausschälen. Es gibt keine dramaturgische oder sonstige Fokussierung auf eine der Figuren; stattdessen herrscht betonte ausgewogene Gleichberechtigung zwischen den dreien. Dies betont ihre Funktion als Träger typologischer Merkmale, in denen sich die Idee einer kulturellen Gemeinschaft artikuliert. Damit ist kein Identifikationsangebot auf Ebene der Repräsentation gemeint; vielmehr hat der Zuschauer in seinem eigenen leiblichen Erleben Teil an der Bildung dieser Typen aus einer sinnlichen Erfahrungsperspektive heraus, die er mit den Figuren und allen anderen Zuschauern teilt. Die Filmerfahrung bindet ihn ein in ein gemeinschaftliches Wahrnehmen und Empfinden, das immer schon auf seine Verortung innerhalb einer spezifischen kulturellen und politischen Gemeinschaft ausgerichtet ist.
Zugleich wird hier sichtbar, wie das Unterhaltungsgenre des Kriegsfilms wirksam wird, dieses Wahrnehmen und Empfinden auch über seine eigenen Grenzen hinweg zu strukturieren. Die audiovisuelle Bildproduktion und -rezeption über den Krieg wird damit auf ästhetischer Ebene per se als eine Tätigkeit kultureller Imagination greifbar, anhand derer geteilte Empfindungen und Bewertungsmuster organisiert werden, egal ob sie Informations- oder Unterhaltungsmedien, dem Fernsehen, dem Internet oder dem Kino entstammen.
Literatur
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Filmografie
THE WAR TAPES. Deborah Scranton, USA 2006.