Thomas Elsaesser
- Zwei Filme aus Cannes
- European Cinema Face to Face with Hollywood
- Das Kino des Abjekten
- Regisseure des Abjekten: Bela Tarr, Pedro Costa
- Die abjekten Affekte im europäischen Kino
- Das Abjekte und Autonomie
- Julia Kristevas Essay über das Abjekte
- Das/der/die Abjekte ist kein Opfer
- Ablehnung und Grenzen des sozialdemokratischen Humanismus
- Das Abjekte. Ein Europa am Rande eines Nervenzusammenbruchs
- Bibliography
Zwei Filme aus Cannes
Drittens sind die europäischen Autorenfilmer nicht mehr das moralische Gewissen oder der moralische Kompass der Nation, wie das bei Ingmar Bergman für Schweden der Fall war, und was Alain Resnais oder Michelangelo Antonioni in den 1960er Jahren zu Ikonen für Frankreich und Italien machte.
Sie repräsentieren ihr Land auch nicht mehr in der Weise wie Rainer Werner Fassbinder, Werner Herzog und Wim Wenders in den 1970er und 1980er Jahren Westdeutschland quasi diplomatisch ›vertreten‹ hatten. Damals standen die Regisseure für das gute Deutschland, weil sich ihre Filme kritisch mit dem eigenen Land und seiner Nazivergangenheit auseinandersetzten.
Unter diesen Umständen fanden sich die sogenannten unabhängigen Filmemacher in einer neuen Form der Abhängigkeit wieder, die ich ›der Autor als Diener zweier Herren‹ nannte. Der eine Herr ist der Zahlmeister (sei es eine nationale Regierung oder eine transnationale Gruppe von Fernsehsendern), der andere Herr ist die politische Zensur, wobei ein internationales Filmfestival auch als ›Herr‹ fungiert, denn dessen Erwartungshorizont ist ebenfalls fest etabliert und muss vom Regisseur einkalkuliert werden: Will ein Filmemacher kulturelles Kapital akkumulieren, so kann er dies entweder, indem er sich kritisch gegenüber seinem Herkunftsland gibt (das heißt, sich von seinem anderen Herren distanziert) oder er opfert lokale Traditionen dem Kolorit des touristischen Blicks, wird Autoethnograf heimischer Bräuche und wählt dafür exotisierende Bildmittel. Die allegorisierenden und poetisierenden Filmformen eines Apichatpong Weerasethakul zeigen, welche Möglichkeiten eine solche Einstellung auf die Erwartungen des Anderen bietet, in dieser Situation der mehrfachen Abhängigkeit eine eigene Handschrift zu entwickeln.
Ehe ich den Begriff des ›abjekten Affekts‹ näher erläutere, ein Hinweis auf zwei Regisseure, deren Arbeiten einige der ästhetischen Merkmale aufweisen und die auch die Herausforderungen an die Sehgewohnheiten veranschaulichen, die ein solches Kino ausmachen: Béla Tarrs A TORINÓI LÓ (HU/FR/DE/CH/US 2011) und Pedro Costas NO QUARTO DA VANDA (PT 2000) verkörpern viel von dem, was ich mir unter abjekten Affekten vorstelle: Ihre Protagonisten sind abjekte Subjekte – in einem Fall Vater, Tochter und ein Pferd, auf immer und ewig festgehalten in einem Beckett’schen Niemandsland; im anderen Fall – NO QUARTO DA VANDA / IN VANDAS ZIMMER – die Bruchbude einer drogensüchtigen Frau in einem Lissabonner Elendsviertel.
In Michael Hanekes CODE INCONNU. RÉCIT INCOMPLET DE DIVERS VOYAGES (FR/DE/RO 2000) zum Beispiel löst das achtlose Wegwerfen einer zerknüllten Papiertüte eine Kettenreaktion aus, die das Leben von drei Charakteren aus ganz verschiedenen Lebensbereichen zerstört. Eine besonders bedrängende Szene zeigt die Heldin gefangen in einer scheinbar abgründigen Leere von Angst und Ausweglosigkeit. Im Zentrum von Hanekes CACHÉ (FR/AT/DE/IT 2005) steht ein anderer Moment des Bodenlosen: Die abrupte Auflösung einer bürgerlichen Existenz, als ein Videoband, das einem Pariser Ehepaar anonym durch den Briefkasten geschoben wurde, das Leben eines bekannten Talkshowgastgebers unaufhaltsam zum Einsturz bringt.
Wenn so das Spektrum von Bela Tarr und Pedro Costa zu Lars von Trier und den Dardenne-Brüdern reicht, geht mein eigenes Interesse an einem ›Kino der abjekten Affekte‹ zurück auf Rainer Werner Fassbinders Antihelden wie Fox in FAUSTRECHT DER FREIHEIT (DE 1975) und Erwin bzw. Elvira in IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN (DE 1978). Sie liefern – wie die Protagonistinnen von Akerman und Varda – wichtige Prototypen für die Figuren der 1990er, die den Außenseiter mitten in die Gesellschaft bringen.
Betrachtet man das Zombieverhalten von Rosetta oder dem Jungen in L’ENFANT (BE/FR 2005, Jean-Pierre und Luc Dardenne), Christian Petzolds Nina Hoss in YELLA oder PHOENIX, Benny in Hanekes BENNY’S VIDEO (Michael Haneke, AT/CH 1992) oder die Kinder in DAS WEIßE BAND. EINE DEUTSCHE KINDERGESCHICHTE (DE/AT/FR/IT 2009) könnte man auch argumentieren, dass der Affekt des Abjekten dem Freud’schen Todestrieb verwandt ist, im Sinne, dass die äußerliche Affektlosigkeit eine unerbittliche innere Triebkraft verbirgt, deren Richtung unvorhersehbar und deren Ziel mysteriös bleibt.
Wir können diese Dynamik an bestimmten Momenten in I, DANIEL BLAKE festmachen. Der Film glaubt stark an die klassischen Werte der Gemeinschaft, des Gesellschaftsvertrages, an die Kernfamilie als erstrebenswerten Normalzustand, er glaubt an gute Nachbarschaft in der Rassenfrage, an Solidarität und vor allem an die Würde und den Wert der Arbeit. Und der Film zeigt, wie diese bürgerlichen Tugenden und proletarischen Werte beim Titelhelden im Übermaß vorhanden sind. Der moralische Grund und die politische Perspektive des Films bilden also ein klassisch sozial-demokratisches Wertesystem, das nach den heutigen Maßstäben obsolet ist (wie der Zusammenbruch der Sozialdemokratie als politische Partei in praktisch allen westlichen Ländern beweist).
Doch der Punkt, an dem Blake dieses Abjektwerden als Waffe aktiv annimmt und dazu steht, ist nicht, wenn er protestiert und seine Rechte beim Arbeitsamt einfordert, sondern wenn er seinen Namen mit der Sprühdose an die Außenwand desselben Arbeitsamts schreibt, sich dann auf den Bürgersteig setzt und sich weigert, Platz zu machen, bis ihn die Polizei mit Gewalt abführt.
Etwas anders liegt das Problem bei Toni Erdmann, der nach außen hin wie der Prototyp des Abjekten wirkt. Aber Erdmann ist ein Hippie-Dropout (und kein Outcast). Trauer um seinen Hund, das Älterwerden und elterlicher Phantomschmerz machen ihn emotional verloren, aber in Wirklichkeit spielt er den abjekten Affekt nur – und vertraut auf seine Rente oder sein Erspartes, um die Maske des Abjekten tragen zu können. Der abjekte Affekt ist eine seiner tragikomischen Nummern. Er prüft nicht eigentlich, was heute noch am Menschen menschlich ist: Er weiß es schon im Voraus. Höchstens ist er der anarchische Provokateur, der an Figuren wie Michel Simon in Jean Renoirs BOUDU SAUVÉ DES EAUX (FR 1932) erinnert.
Was den Film jedoch symptomatisch und interessant macht, ist, dass Toni Erdmanns pseudo- oder para-abjekte Existenz seine Tochter – über Scham, Verlegenheit, Bedauern und Schuldgefühle – tatsächlich dazu bringt, das Abjekte in sich selbst zu akzeptieren, und zwar nicht, als sie sich nackt vor ihren Gästen zeigt, sondern im letzten Bild, mit dem Hut ihrer Großmutter und den falschen Zähnen ihres Vaters. Es ist der Moment, an dem der Film sie verlässt, als wollte er sagen, dass wir unsere Menschlichkeit nur dann wiederfinden oder neu definieren können, wenn wir uns erst einmal auf das Abjektsein einlassen und uns weder als Opfer präsentieren noch zu Tätern werden.
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