Yvonne Pfeilschifter
1.) Inmitten der Krise
Wenn es in all der Ungewissheit und zwischen all den Unwägbarkeiten in der aktuellen Corona-Krise eine Gewissheit gibt, so scheint sie zu lauten: Diese Krise ist nur mit extremen Maßnahmen zu bewältigen und auch nur dann, wenn diese von allen befolgt werden. Wenn sich Bundeskanzlerin Angela Merkel nun zu einer Fernsehansprache entschließt, geht es nicht darum, neue Hilfspakete anzukündigen oder weitere Einschränkungen zu begründen. Es geht nicht um Fakten und Grafiken, sondern darum, ein Gefühl von Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit als Basis für die ergriffenen Maßnahmen zu schaffen, über deren konkrete Ausgestaltung dann durchaus diskutiert werden darf.
Ein Gefühl der Einigkeit über Parteigrenzen und Gesellschaften hinweg, das man andernfalls als fehlende Differenzierung kritisieren könnte, wird, angesichts des Virus, zum Mittel der Wahl. Wenn Merkel in ihrer Fernsehansprache vom 18. März 2020 angesichts der Corona-Krise von einer „historische[n] Aufgabe“ (Bundesregierung März 2020: 0:11:31) spricht, die „nur gemeinsam zu bewältigen“ (ebd.: 0:11:33) sei, dann wird das „komplexe[…] Gefühl[…] des Einverständnisses“ (Grotkopp 2017: 273), dessen Herstellung Matthias Grotkopp als Basis einer jeden Rhetorik versteht (vgl. ebd.: 273–274), zur obersten Priorität.
Dennoch bleibt jede Krise ein Entscheidungsprozess (vgl. Goeze / Strobel 2012: 511–514), im aktuellen Fall ein Abwägen der Kapazitäten des Gesundheitssystems, der Einschränkung persönlicher Freiheiten und auch wirtschaftlicher Konsequenzen. Die Vergleiche zur Finanzkrise 2008 liegen – trotz aller Unterschiede – derzeit nicht fern. Mit „der tiefsten Wirtschaftskrise seit 2008“ (Bartz März 2020a) sei zu rechnen, schreibt der Spiegel noch am 12. März. Am 6. April rechnet der KfW-Chef Günther Bräunig gegenüber der dpa bereits damit, dass die Dimensionen der Finanzkrise weit überstiegen werden (vgl. Marx / Bender April 2020). Die Banken seien zwar stabiler als 2007, so Tim Bartz’ Einschätzung im Spiegel (vgl. Bartz März 2020b), dennoch kann die Corona-Krise jetzt zum Stresstest für sie und die Wirksamkeit der nach der Finanzkrise ergriffenen Maßnahmen werden.
Glaubt man dem Spielfilm THE BIG SHORT (Adam McKay, USA 2015) steht eine fundamentale Reform des US-amerikanischen Finanzsystems, auch sieben Jahre nach dem Kollaps der Investmentbank Lehman Brothers, weiter aus. Der Film inszeniert die Finanzbranche als ein nach außen abgeschirmtes System des ‚Inside‘, in dem die Beteiligten dank unregulierter Finanzprodukte absurde Gewinne erzielen – am Ende auf Kosten der Bevölkerung. Ziel des Filmes ist es, diese Trennung aufzuheben und die Zuschauer:innen über die Erfahrung der Funktionsweise der Finanzwelt zu Kritiker:innen und Erneuerer:innen des Systems zu machen.
Dazu – so eine These dieser Arbeit – schafft der Film ein Erleben des ‚Inside‘, das die Erfahrung der Zuschauenden und somit den verkörperten Verstehensprozess, in dem sich Sprache und expressive Bewegungsdynamik gegenseitig strukturieren, mit Authentizität und Ehrlichkeit grundiert. In der Verwendung des englischen Begriffspaares ‚Inside‘ und ‚Outside‘ wird dabei eine Assoziation dieser zunächst räumlichen Kategorien zu Wissen respektive Nicht-Wissen mitaufgerufen, wie sie beispielsweise in Begriffen wie ‚Insiderinformation‘, ‚Insiderhandel‘ oder auch der Figur des Insiders/der Insiderin angelegt ist und – wie die nachfolgenden Analysen zeigen sollen – auch in THE BIG SHORT konstituierend für ein komplexes Gefühl des ‚Inside‘.
Die Affektrhetorik soll als filmtheoretischer Ansatz dazu dienen, die affektive Adressierung der Zuschauenden als Modulierung von Wahrnehmen, Fühlen und Verstehen (vgl. Kappelhoff / Bakels 2011: 87) in der Zeit nachzuvollziehen und zu rekonstruieren, wie darüber moralisch-affektive sowie kognitive Überzeugungen bei den Zuschauenden gestaltet werden. An die Herstellung sinnlicher Evidenz für die Funktionsweise von basalen Finanzprodukten und ihre Identifizierung als Ursache der Finanzkrise wird ein moralisches Unrechtsempfinden, ein Gefühl der Empörung gekoppelt, das sich auf das gesamte System Finanzen ausweitet und als Aufruf zur Reformierung, ausgehend vom früheren ‚Outside‘, zu verstehen ist – so eine weitere These.
Filmische Affizierung wird im Folgenden – basierend auf dem Konzept der Ausdrucksbewegung (vgl. dazu ebd. sowie Kappelhoff / Bakels 2019) von Hermann Kappelhoff – stets auf die konkrete audiovisuelle Komposition zurückgeführt. In Verbindung mit einem neo-phänomenologischen Embodiment-Verständnis nach Vivian Sobchack (1992; vgl. dazu auch Kappelhoff / Bakels 2019) lässt sich Filmwahrnehmung so als verkörpertes Erleben von audiovisuellen Bewegungen und Rhythmen verstehen. Wie von Matthias Grotkopp für die Rhetorik des Klimawandelfilms beschrieben (vgl. dazu Grotkopp 2017), soll nun in der Analyse nach den in der Erfahrung begründeten, verkörperten Verstehens- und Meinungsbildungsprozessen, einer Affektrhetorik von THE BIG SHORT gefragt werden.
Dazu wird zunächst eine Szene aus dem ersten Drittel des Films untersucht, die das Funktionsprinzip einer CDO, einem Finanzprodukt, in dem Hypotheken gebündelt werden, in den Fokus rückt. In der Analyse dieser Szene wird nachvollzogen, wie sich ein affektives Mittendrin-Sein, ein Gefühl von Authentizität sowie ein Gefühl von Sympathie im verkörperten Verstehen zu einem komplexen Gefühl des ‚Inside‘ formen. Um noch dezidierter auf den Verstehensprozess einzugehen, wird basierend auf dem Konzept der Cinematic Metaphor die CDO-Meeresfrüchte-Eintopf-Metapher aus der oben genannten Szene genauer untersucht. Eine dritte Analyse widmet sich der letzten Szene des Films, insbesondere der darin enthaltenen Montagesequenz, die das Gefühl der Empörung als angespannten Stillstand moduliert und die Zuschauenden mit dem aktivierenden Appell, ein System in Bewegung zu versetzen, aus dem Film entlässt.
2.) Von der Affektdramaturgie zu einer Rhetorik des Films
Während die Tatsache, dass affektive Wertungen „Entscheidungen, moralische Urteile und Handlungen Einzelner ebenso wie die kommunikativen Entscheidungsprozesse und Handlungen von Gruppen und Gesellschaften“ (Kappelhoff / Bakels 2011: 78) prägen – oft weit mehr als bloße Zahlen, Fakten und Argumente –, in der Medienwissenschaft kaum bestritten sei, bleibe die Frage nach einem grundlegenden Zusammenspiel von konkreten audiovisuellen Inszenierungen und „perzeptiven, affektiven und Verstehensprozessen“ (ebd.: 80) noch unbeantwortet, so Hermann Kappelhoff und Jan-Hendrik Bakels in einem Aufsatz zum Zuschauergefühl (1) im Kino.
Audiovisuelle Affekte: Ausdrucksbewegung und Embodiment
Um nun die Erfahrung filmischer Expressivität als intersubjektiven körperlichen Affekt zu verstehen, fungiert das neo-phänomenologische Konzept des Embodiments von Vivian Sobchack als zentraler Bezugspunkt. Diesem zufolge entfalte sich das filmische Bewegungsbild nicht auf der Leinwand, sondern – in Annahme einer doppelten Subjektivität – als direktes, körperliches, sinnliches Erleben der Wahrnehmung eines anderen Subjekts am eigenen Leib (vgl. Kappelhoff / Bakels 2019: 449). Diese Verkörperung filmischer Bewegung, die sich in den Zuschauenden als „subjektives Bewegt-Sein“ (ebd., Hervorh. von Y.P.) ausdrücke, sei ausschließlich als dynamischer Prozess durch in sich selbst dynamische filmische Affekte zu verstehen (vgl. ebd.).
Jan-Hendrik Bakels (2017: 220, Hervorh. im Original) beschreibt dies in seiner Dissertationsschrift zur Entwicklung eines audiovisuellen Rhythmus als Zusammenspiel „energetischer Spannungen und kinetischer Kräfte“, das von den Zuschauenden körperlich als dynamische Intensität eines Spannungsauf- und -abbaus erlebt werde (vgl. ebd.: 220–222). Dieser kontinuierliche Verlauf der temporalen Strukturen des audiovisuellen Bildes lege es nahe, nicht von einzelnen, distinkten Affekten, sondern besser von Affektivität (vgl. ebd.: 216–217), und damit einer fortlaufenden Modulierung der ästhetisch figurierten Gefühle bei den Zuschauenden über die Dauer des gesamten Films hinweg, einer Affektdramaturgie, zu sprechen (vgl. Kappelhoff / Bakels 2011: 86–90).
Der Zugang zum Zuschauergefühl liegt damit in der „temporale[n] Organisation des ästhetischen Erlebens des Films“ (ebd.: 86). Für die nachfolgende Analyse zu THE BIG SHORT bleibt daher festzuhalten: „Es ist die Erfahrungsform audiovisueller Bilder selbst, die als Inhalte zu analysieren sind“ (ebd.: 95). Zunächst gilt es allerdings die Affektdramaturgie zu einer Rhetorik des Films ins Verhältnis zu setzen.
Affektrhetorik: Das „Gefühl des Einverständnisses“
Wie groß der Einfluss von Gefühlen auf Entscheidungsprozesse ist, seien es individuelle oder gesellschaftliche, legen bereits die obigen Ausführungen nahe. In seinem Dissertationskapitel zur Rhetorik des Klimawandelfilms geht Matthias Grotkopp (2017: 261) noch einen Schritt weiter, wenn er schreibt, „dass die Überzeugung von der ‚Richtigkeit‘ von Fakten und Argumenten ein affektiver Prozess ist, dass Einverständnis einhergeht mit affektiver Übereinstimmung.“ In diesem Verständnis von Rhetorik als „affektive und leibliche Begründung von Moral und Handeln“ (ebd.: 263) geht es nicht um Gefühle als schmückendes Beiwerk für ‚faktenbasierte‘ und damit scheinbar rationale Argumente, sondern um die These, dass erst eine affektive Überzeugung auch Zustimmung bedeute.
Dies ist keinesfalls als Kritik an der Rhetorik zu verstehen, sondern beschreibt ihre Notwendigkeit für eine funktionierende Gesellschaft in der (medialen) Herstellung einer „Plattform der Gemeinsamkeit“ (ebd.: 261), die sich durch affektiv geteilte Werte und Normen auszeichne. Damit sei das Ziel einer jeden rhetorischen Operation nicht die Überzeugung der rhetorischen Opposition (vgl. ebd.: 261–264), sondern, wie der Philosoph Hans Blumenberg (1981: 119) es nennt, „die Sicherung des Nicht-Widerspruchs“. Bereits Aristoteles (2002: 22) zufolge liegt die Aufgabe der Rhetorik darin „an jeder Sache das vorhandene Überzeugende zu sehen“ – oder in anderen Worten, auf Basis der vorhandenen ‚Fakten‘ eine Meinung zu formulieren – und so, in Ermangelung einer eindeutig auszumachenden Wahrheit, die Herausbildung eines Konsenses zu ermöglichen sowie zur Entscheidungsfindung beizutragen (vgl. Arend 2012: 16–17).
In einer Gesellschaft, die weit entfernt ist von den absoluten Wahrheiten einer aristotelischen Antike, werde, so Blumenberg (1981: 108), die „angestrengte Herstellung derjenigen Übereinstimmungen, die anstelle des ›substantiellen‹ Fundus an Regulationen treten müssen“ zur zentralen Aufgabe einer modernen Rhetorik (vgl. Arend 2012: 17). In diesem Sinne stellt sich Grotkopp (2017: 258) gegen die Fehlannahme einer rein rationalen Argumentation und versteht Rhetorik als basalen Teil jeglicher Kommunikation, deren „sprachliche[…] und symbolische[…] Formen […] selbst affektiv grundiert“ seien (vgl. zudem ebd.: 258–263).
Damit käme auch für den Film eine Identifizierung von Sprache als argumentativer Ebene und audiovisuellen Bewegungsbildern als emotionalisierender Komponente einem extremen theoretischen Kurzschluss gleich. In der Analyse einer audiovisuellen Rhetorik gehe es vielmehr darum, inwiefern sich Sprache und andere audiovisuelle Gestaltungsmittel gegenseitig strukturieren, als Erfahrung die Zuschauenden affizieren und so in „spezifische[n] Formen des Beweisens und des Schlussfolgerns“ (ebd.: 269) Meinungen oder Handlungsoptionen moralisch richtig erscheinen lassen. Grotkopp verknüpft so die Rhetorik mit der zuvor beschriebenen Perspektive auf das Zuschauergefühl als einer dynamischen Affizierung in der verkörperten Erfahrung der filmischen Bewegungsbilder. Anstelle von Emotionen als Folge von rationalen Urteilen oder repräsentierten Sachverhalten treten damit ästhetisch figurierte Gefühle, die auf der Erfahrung eines „komplexen Gefühls des Einverständnisses“ (ebd.: 273) basieren.
Grotkopp beschreibt damit explizit nicht die Zustimmung in einzelnen Momenten, sondern versteht audiovisuelle Rhetorik als „die zeitliche Entfaltung einer Zuschauererfahrung als einer Erfahrung der Evidenz von Gesprochenem und Gezeigtem“ (ebd.: 267) und gelangt damit zu einem Verständnis von filmischer Rhetorik, das Wahrnehmen und Verstehen als verkörperte Prozesse ernst nimmt und moralische Überzeugungen direkt in der Affektdramaturgie und damit der fortlaufenden Modulierung des Zuschauergefühls über die Dauer des Films begründet sieht, einer Affektrhetorik (vgl. ebd.: 268–273). Auf Basis dieses Verständnisses einer Affektrhetorik soll in den folgenden Analysen zu THE BIG SHORT nachvollzogen werden, wie die Verstehensprozesse an ein komplexes Gefühl des ‚Inside‘ gekoppelt sind, um letztlich eine Haltung gegenüber dem Finanzsystem, in diesem Fall ein moralisches Gefühl der Empörung, zu formen.
3.) Ein System verstehen und verändern – THE BIG SHORT
Der Spielfilm THE BIG SHORT (USA 2015) von Regisseur Adam McKay basiert auf dem 2010 erschienenen Buch The Big Short – Inside the Doomsday Machine von Michael Lewis und beschäftigt sich mit den Entwicklungen, die zur globalen Finanzkrise 2008 geführt haben. In drei parallelen Erzählsträngen folgt der Film mehreren Protagonisten, die den Kollaps des US-amerikanischen Immobilienmarktes 2007 antizipiert und dadurch in der anbrechenden Finanzkrise enorme Gewinne gemacht haben.
In den folgenden Analysen soll vor allem der Erzählstrang um Hedgefonds-Manager Mark Baum (Steve Carell) und sein Team im Fokus stehen, die von Deutsche-Bank-Trader Jared Venett (Ryan Gosling) von der Fragilität des Immobilienmarktes erfahren und über Credit Default Swaps die Möglichkeit erhalten, extrem profitabel gegen den Markt zu wetten, ihn zu shorten. Gewissermaßen erfunden hat dieses Finanzprodukt Hedgefonds-Manager Michael Burry (Christian Bale), der bereits 2005 die sich am Immobilienmarkt bildende Blase erkannte. Auch die beiden Newcomer Charlie Geller (John Magaro) und Jamie Shipley (Finn Wittrock) steigen mithilfe des ehemaligen Traders Ben Rickert (Brad Pitt) in den Handel mit Credit Default Swaps ein und wetten erfolgreich sogar gegen gut bewertete mortgage-backed securities (durch Immobilien gesicherte Wertpapiere).
„[T]he key to reforming our current system is making the American public understand just how deeply and profoundly things aren’t working for the majority of people in this country and, just as important, why they aren’t working“, so die These von Wirtschaftsjournalistin Rana Foroohar (2016: 24–25, Hervorh. im Original) – und die Idee des Films, denn die aristotelische ‚Wahrheit‘ von der THE BIG SHORT überzeugen möchte, ist die Wirklichkeit eines fehlerhaften Systems. Die Finanzkrise als Symptom dieses Systems bildet dafür lediglich ein geeignetes Setting.
Als ein zentrales Anliegen der audiovisuellen Argumentation darf daher das verkörperte Verstehen der Finanzprodukte angenommen werden. Anhand der im Folgenden analysierten Szene kann nachvollzogen werden, wie das Prinzip der CDOs, grundiert von einem komplexen Gefühl des ‚Inside‘, sowohl über das Funktionsprinzip des Jengaturms als auch in der Meeresfrüchte-Eintopf-Metapher erlebbar gemacht wird. In einer Analyse der letzten Szene soll deutlich werden, wie das im ‚Inside‘ gewonnene Wissen in einem emotionalen Schlussappell zu einer entschiedenen Haltung dem Finanzsystem gegenüber geformt wird.
Teil der wissenden Gemeinschaft werden
In der Inszenierung des Finanzsektors greift der Film eine Wahrnehmungserfahrung aus dem Alltag auf: die Dichotomie zwischen dem ‚Inside‘ der Finanzbranche und dem ‚Outside‘. Rana Foroohar identifiziert in ihrem 2016 erschienenen Buch Makers and Takers die financialization, einen im Vergleich zur Gesamtwirtschaft unverhältnismäßig großen und einflussreichen Finanzsektor, als Kernproblem der US-amerikanischen Wirtschaft und Grund für die Finanzkrise 2008 (vgl. ebd.: 4–9).
Trotz des mit der financialization stetig wachsenden Einflusses der Finanzbranche auf die Gesellschaft, werde diese – ebenso wie die Politik – durch einen Fokus auf Zahlen, komplizierte Risikokalkulationen sowie eine eigene Fachsprache gezielt aus der Debatte ausgeschlossen und so Reformen verhindert. Die Verwendung von „insider jargon to intimidate and obfuscate“ (ebd.: 309) verursache ein Gefühl der Verunsicherung bei den ‚Outsider:innen‘. Es bleibe ein abgeschottetes System schwer durchschaubarer Fachbegriffe, nur von Expert:innen (‚Insider:innen‘) zu verstehen, einzuschätzen und zu kontrollieren (vgl. ebd.). THE BIG SHORT schafft nun – wie nachfolgend gezeigt werden soll – ein Erleben in eben diesem ‚Inside‘, ein komplexes Gefühl des ‚Inside‘.
‚Inside the Doomsday Machine‘
Es folgt das Kernstück der Szene: Jareds Präsentation rund um einen Jengaturm, der nicht nur das Funktionsprinzip einer CDO verkörpert, sondern letztlich auch den Zusammenbruch des Immobilienmarktes prophezeit. Jared sieht darin kein strukturelles Problem, sondern lediglich eine neue Einnahmequelle und so liegt sein Fokus vor allem darauf, die Trader davon zu überzeugen in den Deal einzusteigen, um seinen eigenen Profit weiter zu erhöhen. Zurück in ihrem Büro lassen Mark und sein Team das Gespräch mit Jared kurz Revue passieren. Nach wie vor skeptisch, wollen sie vor einem Investment einem womöglich maroden Immobilienmarkt zunächst selbst auf die Spur zu gehen. Anhand dieser Szene lässt sich exemplarisch darlegen, wie THE BIG SHORT den verkörperten Prozess des Verstehens von Finanzprodukten, des mit dem ‚Inside‘ assoziierten Wissens, über ein affektives Mittendrin-Sein sowie ein Gefühl der Authentizität und der Sympathie mit einem komplexen Gefühl des ‚Inside‘ verbindet.
Mitten im Geschehen
Bereits auf Ebene des Settings findet zu Beginn der Szene eine Verlagerung von draußen in die – beispielsweise aus Nachrichtensendungen meist nur in Außenaufnahmen bekannten – Wolkenkratzer der Banken, Hedgefonds und Ratingagenturen statt. Der Raumeindruck zieht sich von vergleichsweise weiten Einstellungen, angefangen mit einer Halbtotalen, in der Mark von Kopf bis Fuß zu sehen ist, über amerikanische beim Small Talk, zu überwiegend halbnahen und nahen Einstellungen im Büro zusammen. Das ‚Inside‘ wird so audiovisuell über einen Eindruck von Nähe mit den abgegrenzten Innen- und Büroräumen verknüpft.
Der kurze Small Talk auf der Straße (0:25:59–0:26:21) ist vor allem über Farb- und Lichtgestaltung als filmische Ausnahme inszeniert. Die Bilder sind vergleichsweise hell und strahlend, das Gelb der Taxis dominiert die Farbpalette vor einem leuchtenden, fast weiß wirkenden Grau des Asphalts (Abb. 1). Dagegen steht ein mattes, relativ monotones Farbspektrum aus Grau-, Blau-, Schwarz- und Weißtönen im Inneren des Büros. Blickt die Kamera in Richtung der Fenster, verschwindet die Außenwelt im hellen Gegenlicht (Abb. 2). So besteht die Grenze zwischen ‚Inside‘ und ‚Outside‘ gewissermaßen fort, wird von den Zuschauenden jedoch von der anderen Seite aus wahrgenommen. Im Erleben der Zuschauenden wird in der Inszenierung des Raums, vor allem über den Eindruck von Nähe und Abgeschlossenheit nach außen, die affektive Qualität eines Mittendrin-Seins als Komponente eines komplexen Gefühls des ‚Inside‘ angelegt.
Die Verortung der Zuschauenden mitten im Geschehen ist für den weiteren Verlauf der Szene zentral. Die Vorstellung der Trader (0:26:21–0:28:49) setzt mit einem sehr intimen Gespräch ein, in dem Danny seinen beiden Kollegen von seinem stark vergrößerten Nebenhoden berichtet. In Verbindung mit den nahen Einstellungen, der geringen Tiefenschärfe, die die Umgebung um die Figuren visuell unwichtig werden lässt und der bewegten Anwesenheit der Kamera ergibt sich auch hier eine Figuration von Nähe, die als ein Gefühl zwischen Intimität und Offenheit beschrieben werden kann. Die Zuschauenden werden in die Lage von Augenzeug:innen versetzt, während sich der Alltag der Trader, später die Aufregung nach dem Telefonat, direkt vor ihren Augen entfaltet.
Auch die Ästhetik der Handkamera trägt wesentlich zur Figuration eines affektiven Mittendrin-Seins bei. Um die audiovisuelle Gestaltung des Films in ihrer Zeitlichkeit, in diesem Fall die Art der Kamerabewegung, besser nachvollziehen zu können, verwende ich die Open-Source Annotationssoftware Advene (Aubert / Prié 2005), die im Rahmen der Nachwuchsforschergruppe Affektrhetoriken des Audiovisuellen (AdA) als Werkzeug zur Filmanalyse eingesetzt und weiterentwickelt wurde. In den folgenden Analysen sollen ausgewählte Visualisierungen der zu THE BIG SHORT im Rahmen des Projektes erstellten Annotationen die Argumentation stützen. Zur Annotation wurde dabei ein ebenfalls in der Nachwuchsforschergruppe erarbeitetes systematisches Beschreibungsvokabular, die AdA Filmontology, genutzt (vgl. Agt-Rickauer et al.).
Der mit wenigen Ausnahmen durchgängig annotierte Wert ‚minimal‘ verweist auf eine stets wahrnehmbare, jedoch nicht orchestrierte oder gerichtete Bewegtheit in Abgrenzung zu einem statischen Zur-Welt-Sein (Abb. 3). In Verbindung mit dieser anhaltenden Bewegtheit sind viele kurze, ruckartige Zoom-Ins und Zoom-Outs, die meist kaum einen Unterschied von einer Einstellungsgröße ausmachen, festgehalten. Auch die Zooms lassen sich nicht als gerichtete Bewegung fassen, wie es beispielsweise in der Verdichtung des Bildes auf ein Detail oder der Weitung für einen Überblick der Fall wäre, sondern charakterisieren eine Kameraführung, die ob der Unvorhersehbarkeit der Situation spontan Bildausschnitt und Schärfe anpasst.
Obwohl sich die Figuren kaum im Raum bewegen, orientiert sich die Kamera immer wieder neu, verbindet die Gesprächspartner in der beinahe durchgehend als Schuss-Gegenschuss-Montage inszenierten Szene über horizontale und vertikale Schwenks (‚pan‘ und ‚tilt‘), die oft gemeinsam in einer Bewegung auftreten (Abb. 3). In der Verbindung dieser vier Elemente ergibt sich eine starke, in gewissem Maße freie Bewegtheit, die das Erleben der Zuschauenden als affektives Mittendrin-Sein strukturiert.
Die Kamerabewegungen und Bildausschnitte orientieren sich an der sprechenden Figur oder derjenigen, deren Reaktion am interessantesten wäre, fast so, als würde die Kamera angesichts der rasanten Dialoge im Fachjargon Halt und Orientierung suchen. Dabei bleibt sie in halbnahen bis nahen Einstellungen stets dicht an den Protagonisten (Abb. 4–5). Auf eine Totale, die einen Überblick über das Büro oder den Konferenzraum bieten würde, wird verzichtet. Die wenigen amerikanischen Einstellungen dienen lediglich dazu, die räumliche Opposition von Jared und Mark während der Präsentation klarzustellen (Abb. 6, ‚Field Size‘).
Auch die Perspektive der Kamera orientiert sich an den Personen. Die meiste Zeit bleibt die Kamera ungefähr auf Augenhöhe mit den Protagonisten, entsprechend der Gesprächssituation im Schuss-Gegenschuss sind Einstellungen auf Jared, stehend, oft etwas untersichtig, Perspektiven auf Mark und sein Team im Sitzen etwas aufsichtig (Abb. 6, ‚Camera Angle‘ und ‚Montage Figure Macro‘). All diese Elemente gestalten ein Erleben des Raums von innen heraus und bieten im Fokus auf die Figuren zugleich einen audiovisuellen Anker der Orientierung. So weicht auch die akustische Belebtheit der Arbeitsatmosphäre aus klingelnden Telefonen und Tippgeräuschen während der Präsentation einer Stille, die Jareds Vortrag ins Zentrum rückt.
Der vierte Abschnitt der Szene (der Nachklang des Gesprächs) ist in dieser Darstellung ausgenommen und wird an späterer Stelle gesondert thematisiert.
Der relativ schnelle Schnittrhythmus – in der gesamten Szene, den Nachklang ausgenommen, dauert eine Einstellung durchschnittlich vier Sekunden (Abb. 7) – in Verbindung mit der sehr bewegten Kamera – häufige, schnelle Schwenks, zahlreiche Zooms, verzögerte Schärfe sowie ein konstantes Bewegt-Sein der Kamera – verortet die Zuschauenden inmitten der hektischen Aufgeregtheit. Dieses Zusammenspiel von Nähe, Belebtheit und einem bewegten Zur-Welt-Sein in der Erfahrung der Zuschauenden lässt sich als affektives Mittendrin-Sein beschreiben, durch das sich ein komplexes Gefühl des ‚Inside‘ entfaltet.
Die besondere Ästhetik der Handkamera, die nicht nur diese Szene, sondern weite Teile des Films dominiert, verortet aber nicht nur die Zuschauenden mitten im Geschehen, sondern gestaltet über die Erfahrung von Unmittelbarkeit und Unvorhersehbarkeit auch ein Gefühl der Authentizität. Eine Annäherung an dieses Gefühl soll zunächst theoretisch über die dokumentarische Kamerageste, wie sie in den Überlegungen Harun Farockis angelegt ist, erfolgen.
Dokumentarische Kameragesten und das Gefühl der Authentizität
In einem unvollendeten Text Über das Dokumentarische, der auf Harun Farockis Computer entdeckt und posthum veröffentlicht wurde, setzt sich der Filmemacher mit der Unterscheidung zwischen dokumentarischem und fiktionalem Film auseinander, einer Differenzierung, die sich in ihrer Herleitung in vielen Auseinandersetzungen als problematisch erweist (vgl. zum Beispiel Tröhler 2006: 155–156 oder Odin 1998: 286), und auch bei Farocki (2015: 11) abgelöst wird von dem „was dem Film selbst für dokumentarisch oder nicht-dokumentarisch gilt.“ Die Trennung vollzieht sich demnach nicht in der Herstellung, sondern in dem, was die Zuschauenden als dokumentarisch erleben.
Für seine vor allem aus der Perspektive der Filmproduktion verfassten Überlegungen greift Farocki als argumentative Brücke dennoch auf eine ‚klassische‘ Trennung von Spielfilm als dem Reich der Kontrolle und Dokumentarfilm als dem Bereich der Kontingenz zurück, wenn er schreibt: „Die Kamera im Spielfilm – im klassischen Spielfilm – antizipiert. Die Kamera im Dokumentarfilm verfolgt“ (ebd.: 13). Dass diese Trennung eine fiktive ist, wird bereits am Einschub deutlich. Vielmehr steht eine durch bestimmte Effekte von den Zuschauenden antizipierte Art der Herstellung im Fokus, die sich in der Ästhetik wiederfinden lasse.
Als „dokumentarische[…] Gesten“, wie sie Volker Pantenburg (2015: 25) in seiner Auseinandersetzung mit dem Text nennt, identifiziert Farocki (2015: 18) neben Störgeräuschen oder einem verspäteten Ton, eine „ruckelnde Kamera, Schärfenachstellen“, „schwenkend oder zoomend den Bildausschnitt [zu] korrigieren“ (ebd.: 14), Reaktionen einer Kamera, die die Geschehnisse nicht vollständig vorausahnen könne, sondern ihnen im Geschehen folgen müsse – eine Beschreibung, die der Kameraästhetik, wie sie für die obige Szene charakterisiert wurde, genau entspricht. Diese „dokumentarische[n] Stilelemente“ (ebd.) findet Farocki in Werbespots, Nachrichtensendungen und Spielfilmen, in denen sich die Kamera über Bewegungen bemerkbar mache, wofür er „keinen praktischen Grund und nur einen rhetorischen“ (ebd.: 12; vgl. zudem ebd.: 11–18) sieht.
In THE BIG SHORT entsteht so eine Rhetorik des Dokumentierens, die die filmischen Bewegungsbilder in einer Unmittelbarkeit und Unvorhersehbarkeit erfahrbar werden lässt und darüber ein Gefühl der Authentizität figuriert. Oder wie Farocki schreibt: „Wir machen nicht Bilder, wir nehmen sie“ (ebd.: 15). Dieser Eindruck unverfälschter, authentischer Bilder und Töne kann nicht in einer Produktionssituation vorgefunden werden, sondern ist, wie Farocki deutlich macht, etwas genuin Filmisches.
In einem neo-phänomenologischen Verständnis von Filmerfahrung lässt sich das Gefühl der Authentizität damit als körperlich-affektive Erfahrung von Unmittelbarkeit und Unvorhersehbarkeit fassen, das entscheidend über die Ästhetik der Handkamera strukturiert wird. Somit lässt sich das Gefühl der Authentizität neben der Erfahrung des Mittendrin-Seins als weitere Komponente eines komplexen Gefühls des ‚Inside‘ beschreiben. Um allerdings das rhetorische Ziel eines „komplexen Gefühls des Einverständnisses“ (Grotkopp 2017: 273) zu erreichen, bedarf es nach Matthias Grotkopp einer „sanfte[n], andauernde[n] Affekt-Brücke zwischen Film und Zuschauern“ (ebd.: 290), eines grundlegenden Gefühls der Sympathie in der Filmerfahrung, das im Folgenden in der vorliegenden Szene nachvollzogen werden soll.
Die „Affekt-Brücke“ und das Gefühl der Sympathie
Ein Beispiel: Jared nutzt den Mathematiker Jiang auf extrem rassistische Art als Begründung für die Korrektheit seiner Berechnungen: “His name’s Yang. He won a national math competition in China. He doesn’t even speak English.” Darauf wendet sich Jiang an die Zuschauenden und stellt richtig: “Actually, my name is Jiang and I do speak English. Jared likes to say I don’t because he thinks it makes me seem more authentic. And I got second in that national math competition.” (Abb. 8–9) Diese Auflösung legt nicht nur Jareds Argumentationsstruktur offen, die auf einem Klischee in Verbindung mit einer aggressiven Ansprache beruht, sondern macht Authentizität als Konstrukt explizit.
Noch entscheidender ist, dass den Zuschauenden in diesem Moment suggeriert wird, dies seien die einzigen Fakten in dieser Begegnung, die es zu berichtigen bedarf. Warum eine Lüge, deren einen niemand bezichtigt hat, aufklären, um direkt danach eine neue zu erfinden? Dieser offene Umgang mit Inszenierung, sowohl die Diegese als auch den referentiellen Bezug des Films betreffend, bestärkt einen Eindruck von Ehrlichkeit.
Der Film unterläuft in diesem Moment außerdem die Autorität von Jared als Erzähler. So wird deutlich, dass die Ehrlichkeit des Films nicht an seine Figur oder Erzählerposition geknüpft ist. Der Film distanziert sich somit selbst vom theoretischen Fehlschluss einer Identifizierung von diegetischem Erzähler und Rhetor. Die inhärente Komik dieser Richtigstellung ist zudem nur ein Beispiel für die humoristischen Elemente, die entscheidend zu einem durchgehenden Gefühl der Sympathie in und gegenüber der Erfahrung der Zuschauenden beitragen. Die Präsentation aber auch die Gespräche der Trader untereinander sind gespickt mit verbalen Spitzen und zynischen Kommentaren. Besonders sticht die ironische Einblendung einer Abbildung zu Dannys Epididymis, akzentuiert von einem ‚Pling‘ hervor, die diesen inhaltlich irrelevanten Moment unproportional heraushebt.
Die sanfte, kontinuierliche Affizierung der Zuschauenden – in dieser Szene über Ehrlichkeit und Humor –, die sich als grundlegendes Gefühl von Sympathie und Wohlgefallen charakterisieren lässt, strukturiert eine weitere Facette des komplexen Gefühls des ‚Inside‘. In Verbindung mit der Verortung der Zuschauenden mittendrin und dem Gefühl der Authentizität grundiert dieses Gefühl der Sympathie das verkörperte Verstehen der Ursprünge der Finanzkrise, das im Folgenden als finale Komponente des komplexen Gefühls des ‚Inside‘ nachvollzogen werden soll und die Grundlage liefert, eben diese Trennung in ‚Inside‘ und ‚Outside‘ unmöglich zu machen.
Verkörpertes Verstehen: Der Jengaturm
Im Fokus der Präsentation von Jared (0:28:49–0:35:59) steht ein Jengaturm, der zunächst unter einem Karton mit Logo und Namen der Deutschen Bank verborgen ist – und somit, wenn man möchte, bereits vorwegnimmt, was im Inneren der Bank vorgeht, wie fragil ihre Struktur aufgebaut ist. Noch einen Schritt weitergedacht, ist in der Logik eines Jengaturms bereits das Spiel mit einer sich bildenden Blase angelegt. Bei einem Turm, dem der Zusammenbruch bereits eingeschrieben ist, geht es nicht um die Frage, ob er einstürzt, sondern darum, das Herausnehmen wie vieler Bausteine respektive den Ausfall wie vieler Wertpapiere er bis dahin verkraften kann.
Clip 1: THE BIG SHORT (Adam McKay, USA 2015), Min. 0:29:56–0:31:13.
Dem Jengaturm werden im Laufe der Szene mehrere Entsprechungen zugeordnet, die einzelne Eigenschaften des Turms in den Fokus des Verstehens rücken. Zunächst steht der Turm für das Funktionsprinzip der mortgage bonds, zu großen Zahlen gebündelter Hypothekenanleihen. Im Gegensatz zu den ursprünglichen mortgage bonds, bestehend aus tausenden, exzellent bewerteten Hypotheken und damit sehr ausfallsicher, seien die modernen mortgage bonds privat, undurchsichtig und zusammengesetzt aus sogenannten tranches, in der Turm-Entsprechung einzelnen Bausteinen.
Die Definition einer tranche wird inszenatorisch stark herausgehoben. Schlagartig verwandelt sich die stark bewegte, unruhige Handkamera in eine ruhige, kontrollierte Fahrt nach unten, den Jengaturm entlang. An der Erklärung hat die nach Orientierung suchende Kamera Halt gefunden. Dazu setzt ein Funkinstrumental mit dominantem Bass und Schlagzeug ein, unterlegt mit atmosphärischen E-Gitarren-Klängen. Zeitgleich erklärt eine Texteinblendung: “A tranche is a French word meaning ‘a portion of something.’” Kurz und simpel, dieses Wissen bietet inszenatorisch Sicherheit. Zugleich wird eine elementare Eigenschaft des Turms akzentuiert: er besteht aus einzelnen Bestandteilen und ist keinesfalls der stabile, massive Block, den man noch hinter dem Karton vermuten konnte. Dennoch bleibt die Definition, ohne die ‚portion‘ zu kennen, ohne Aussage. Dieses Nicht-Wissen ist Teil der Erklärung, denn ‚portion‘ kann damit alles, auch eine extrem unsichere Hypothek meinen.
Die einzelnen Steine aus dem Turm, die Jared nun in den Mülleimer schleudert, repräsentieren mögliche Ausfallgründe einer solchen risikoreichen Hypothek und damit letztendlich den Grund für den Zusammenbruch des Turms respektive das Platzen der Blase: ein schlechter fico score – vergleichbar mit der in Deutschland üblichen Schufa-Auskunft – kein nachweisbares Einkommen, flexible Raten. In den einzelnen in den Müll geworfenen Bausteinen wird der spätere Einsturz des Turms im Kleinen vorweggenommen. Als kleine, schlagartige Entladung der vorher in der stetigen Anspannung des Mittendrin-Seins aufgebauten Energie akzentuiert das explosive, klappernde Geräusch der im Mülleimer landenden Klötzchen diese Momente und verknüpft sie affektiv mit dem Wort ‚dog shit‘ auf sprachlicher Ebene, das später, ebenfalls verbunden mit einer explosiven akustischen Geste, wieder aufgegriffen wird. Generell ist der Einsatz von Musik sowie einzelnen distinkten Geräuschen in dieser Szene sehr spärlich und hebt die dezidiert erklärenden Momente, die musikalisch untermalt sind, umso mehr hervor.
Clip 2: THE BIG SHORT (Adam McKay, USA 2015), Min. 0:33:16–0:33:57.
Zu risikoreiche Hypotheken in einem mortgage bond wären eigentlich illegal, wirft Danny ein. Hier kommt die zweite Entsprechung des Jengaturms als Collateralized Debt Obligation, kurz CDO, einer Bündelung von nicht verkäuflichen und/oder zu risikoreichen Hypotheken, ins Spiel. Die Erwähnung der CDOs auf sprachlicher Ebene wird von einem Akzent sowohl auf der Bild- als auch auf der Tonebene begleitet. Das Aussprechen der drei Buchstaben ist je mit einem schreibmaschinenähnlichen Klackgeräusch unterlegt. Zeitgleich erscheint in der rechten unteren Ecke die Texteinblendung ‚C·D·O‘, darunter die ausgeschriebene Form des Akronyms ‚Collateralized Debt Obligation‘, begleitet von einem stark beschleunigten Schreibmaschinenklackern.
Auf Bildebene wird der Begriff mit den zum Teil gestapelten, zum Großteil verstreut auf dem Tisch liegenden Bausteinen assoziiert. Komposition, Schriftdesign und -anordnung sowie der schriftliche Zusatz ‚abbr.‘ für Abkürzung erinnern an einen Lexikoneintrag – die basalste der Definitionsformen und damit ein erneuter audiovisueller Ankerpunkt des Wissens (Abb. 10). Hiermit einher geht die zweite Eigenschaft des Turms: niemand kennt jeden Baustein, in ihrer Funktion als Turm werden die Einzelteile quasi unsichtbar. Niemand weiß, woraus die CDOs zusammengesetzt sind.
Bezeichnenderweise ist nicht zu sehen, wie aus kleineren Häufchen ein CDO-Turm entsteht. Nach den verstreuten Steinen ist kurz der Deutschen-Bank-Karton zu sehen. Als kurzes, helles Aufblitzen unterlegt mit einem klickenden Geräusch erinnert dieser audiovisuelle Gedankenblitz an die Verknüpfung von Deutscher Bank und Jengaturm. Auf sprachlicher Ebene wird er in diesem Moment als ‚considered diversified‘ gelabelt, was so viel bedeutet wie: die Hypotheken sind so verschieden, dass ein gleichzeitiger Ausfall vieler unwahrscheinlich scheint. Der Moment, in dem der Jengaturm im Bankenalltag wieder unter dem Karton verschwinden würde und niemand wüsste, was sich unter ihm verbirgt.
Die Abschnitte zwischen diesen erklärenden Momenten dienen dem Aufbau einer angespannten Atmosphäre. Die oben dargelegten Inszenierungsmuster der gesamten Szene – bewegte Kamera, schneller Schnittrhythmus, nahe Einstellungen auf Gesichter – werden während der Präsentation durch die Opposition der beiden Gruppen noch intensiviert. Das Gespräch gleicht an vielen Stellen einem verbalen Schlagabtausch, unterstützt vom aggressiven Schauspiel vor allem Ryan Goslings, der hohen Sprechgeschwindigkeit und Lautstärke. So ergibt sich ein Bild aufgeregter Anspannung. Abgewechselt mit der klaren und exponierten Inszenierung der Erklärungen, den audiovisuellen Ankern der Orientierung, wird daraus das Gefühl, etwas auf der Spur zu sein, langsam zu verstehen, eine angespannte Neugierde.
Abb. 11: Mit Advene generierte Visualisierung der Einstellungen (‚Shot‘) der Szene Wrong Call leading to a big Deal, wobei Höhe, Breite und Farbe der Säulen die Einstellungslänge anzeigen.
Neben den letzten Einstellungen der Szene stechen zwei weitere durch ihre Länge heraus. So wird zum einen der ersten Einstellung in Marks Büro und damit der Einführung dieses neuen Raums sowie der damit assoziierten Figuren und zum anderen der Einführung des Jengaturms, der für den Verstehensprozess zentral ist, vergleichsweise viel Zeit gewidmet.
In einer deutlichen Entschleunigung des Schnittrhythmus von durchschnittlich vier Sekunden auf 10,5 Sekunden pro Einstellung (Abb. 11) und einer Weitung des Bildraums klingt die Szene bei einer kurzen Besprechung von Marks Team (0:35:59–0:37:24) aus, ein Moment, in dem sich das soeben neu erlangte Wissen setzen kann. Die Spannung einer sich aufbauenden Blase und die Aufregung, mehr zu wissen als Banken, Ratingagenturen und sogar die Regierung sehen wollen, soll in den Plan fließen, dies durch eigene Recherchen zu belegen.
Um das System Finanzbranche und seine inhärenten, strukturellen Probleme verständlich zu machen, konzentriert sich der Film auf die Erklärung und Erfahrbarmachung weniger Finanzprodukte – in dieser Szene den Collateralized Debt Obligations, den CDOs – anstelle etwa einer Chronologie der Ereignisse, die zur Finanzkrise geführt haben. Die Struktur des Films setzt dabei, wie Jareds Präsentation (0:28:49–0:35:59), stark auf die Wiederholung der immer gleichen Funktionsmechanismen und Argumente, die sich in dieser Szene um den wiederholten Einsturz des Jengaturms drehen.
Das zugrundeliegende Prinzip wird bereits in der ersten Szene des Films etabliert, mit einem Finanzprodukt, das die Branche in den 1970er Jahren aus ihrer schläfrigen Zeitlupe reißt und eine unfassbare Beschleunigung erfahren lässt – finanziell wie in Bewegungsbildern (0:01:18–0:03:43). Das Vorgehen, Hypotheken unter der Annahme, dass diese stets extrem ausfallsicher seien, zur Erzielung höherer Gewinne zu bündeln, bleibt bis zu den CDOs erhalten. Das Problem: Extrem ausfallsichere Hypotheken sind endlich. Mit risikoreicheren Hypotheken lässt sich zudem mehr Geld verdienen. Sicherheit und Profit, zwei Stellschrauben, die nicht zusammen in die gleiche Richtung gedreht werden können – ohne eine Blase zu provozieren.
Diese simple Formel ist zugegebenermaßen stark vereinfacht, „[b]ut when it comes to finance, as in so many things, complexity is the enemy“, so Rana Foroohars (2016: 25) Ansatz. In der Reduzierung von Komplexität im körperlichen Verstehen reißt der Film die in der Fachsprache aufgebaute Mauer zwischen ‚Inside‘ und ‚Outside‘ ein. Das Ziel ist dabei nicht, die Ursachen für die Finanzkrise zu verkürzen, sondern deutlich werden zu lassen, wie grundsätzlich und am Ende doch einfach der Fehler im System ist. Das darauf aufbauende Argument einer notwendigen Reform des Finanzsektors ergibt sich so gewissermaßen von selbst.
Die obige Analyse hat nun gezeigt, wie ‚Insiderwissen‘ für die Zuschauenden erfahrbar und so verständlich gemacht wird, während sich durch diesen Verstehensprozess zugleich ein komplexes Gefühl des ‚Inside‘ entfaltet. Ein Erkenntnisgewinn, neu erlangte Informationen allein wären, wie in der theoretischen Herleitung der Affektrhetorik dargelegt, keine Basis für ein „komplexe[s] Gefühl[…] des Einverständnisses“ (Grotkopp 2017: 273). Entscheidend ist eine gefühlte Übereinstimmung, ein Konsens, der in der Filmerfahrung der Zuschauenden entsteht und in diesem Fall über ein affektives Mittendrin-Sein, ein Gefühl von Authentizität sowie ein Gefühl von Sympathie zu einem komplexen Gefühl des ‚Inside‘ geformt wird. So wird eine „Plattform der Gemeinsamkeit“ (ebd.: 261) geschaffen, die die Zuschauenden sich als Teil der wissenden Gemeinschaft fühlen lässt.
Bevor diese erlebte Zugehörigkeit nachfolgend zur Grundlage für ein moralisches Gefühl der Empörung wird, soll zunächst noch auf eine spezifische Form verkörperten Verstehens eingegangen werden, den Einsatz von Metaphern. Auch der vorhergehenden Analyse zu einem komplexen Gefühl des ‚Inside‘ liegt bereits eine Metapher zugrunde, die Wissen und Gruppenzugehörigkeit über eine räumliche Konfiguration erfahrbar macht, indem sie das zuvor abgeschottete Innen für das Außen zugänglich macht. Um nun eingehender zu zeigen, wie Metaphern über die Verwendung als sprachliches Stilmittel hinaus in filmischen Bewegungsbildern gestaltet werden, um komplexe Zusammenhänge erlebbar werden zu lassen, wird im Folgenden kurz das Konzept der Cinematic Metaphor dargelegt, um anschließend das in die analysierte Szene eingebettete, bisher aber ausgesparte Segment der CDO-Meeresfrüchte-Eintopf-Metapher zu untersuchen.
Der CDO-Eintopf als Cinematic Metaphor
Eine Näherung an die Bedeutungskonstruktion durch Film und damit auch die Vermittlung von Wissen bilden Metaphern. Dabei liegt dem Konzept der Cinematic Metaphor das bereits zu Beginn ausgeführte theoretische Verständnis von audiovisuellen Bildern als filmischen Bewegungsbildern zugrunde, welches sich abgrenzt von der Idee lediglich Inhalt und Narration repräsentierender Bewegtbilder (vgl. dazu Müller / Kappelhoff 2018). Damit distanziert sich die Cinematic Metaphor von einer in den Medienwissenschaften durchaus aktuellen Idee der Metapher als statischer bedeutungsgebender Einheit und verlagert die Bedeutungsgenerierung auf die Ebene der Zuschauenden (vgl. dazu Schmitt 2020).
Der Begriff des Bewegungsbildes trage dabei dem spezifischen „media-character of audiovisual images“ (Greifenstein et al. 2018: 1) Rechnung und beziehe sich auf den „specific mode of perception that unfolds temporally and experientially along viewers’ process of film-viewing“ (ebd.: 2). Dieser dynamischen Erfahrung filmischer Expressivität wohne stets eine affektive Qualität inne, die jede Bedeutungskonstruktion grundiere. In dieser Beschreibung eines Wahrnehmungsmodus für alle Formen audiovisueller Bilder liegen bereits die drei grundlegenden Eigenschaften der Cinematic Metaphor: Erfahrung, Affektivität und Zeitlichkeit (vgl. ebd.: 1–5).
Wie bereits im Konzept des Embodiments nach Vivian Sobchack beschrieben, wird der Film als Erfahrung eines vom Zuschauer/der Zuschauerin getrennten Subjekts durch die Expressivität des filmischen Bewegungsbildes zur eigenen körperlichen Erfahrung und bleibt dennoch wahrnehmbar einer anderen Subjektivität zugehörig. Diese Definition von filmischer Erfahrung als „intersubjective, reflexive, and dynamic interaction“ (ebd.: 4) könne selbst als metaphorischer Prozess im Sinne George Lakoffs und Mark Johnsons (1980: 5, Hervorh. im Original) bezeichnet werden, die eine Metapher als „understanding and experiencing one kind of thing in terms of another“ definieren.
Das als Interaktion charakterisierte Verhältnis von Zuschauer:in und Film widerstrebt dabei jedem Konzept der Zuschauenden als passiven Empfänger:innen, die von Sender:innen intendierte Botschaften dekodieren, sondern sieht aktive Zuschauende durch einen verkörperten Prozess in der Rezeption Bedeutung konstruieren. Dieses Aneignen audiovisueller Bilder als Form der Herstellung auf Seiten der Zuschauenden nennt Hermann Kappelhoff (2018: 11) die „Poiesis des Filme-Sehens.“ Dieses ‚doing‘ von Metaphern (vgl. Greifenstein et al. 2018: 6) als Prozess der Bedeutungskonstruktion in einer konkreten Erfahrungssituation stelle sich so jeglichem Verständnis von Metaphern als Instanzierungen bereits bestehender universaler kognitiver Schemata entgegen. Das Gegenteil sei der Fall, Metaphern „develop, form, model, and transform the conceptual systems that constitute our reality and create a commonly shared scope of different experiential perspectives“ (ebd.: 4).
Die Affektivität als zweite Eigenschaft schließt direkt hieran an und lasse sich ebenfalls aus dem Zusammenspiel der Konzepte des Embodiments sowie der Ausdrucksbewegung begründen. Die expressive Bewegungsqualität audiovisueller Bilder werde durch das körperliche Erleben von Bewegung von den Zuschauenden als Bewegt-Sein empfunden. Das ‚doing‘ einer Metapher lasse sich somit als affektive Erfahrung beschreiben und ergebe sich nicht aus dem repräsentierten Inhalt.
Das Entfalten einer Metapher sei, drittens, an die spezifische Zeitlichkeit filmischer Bewegungsbilder gebunden, das bedeute an das körperliche Erleben der dynamischen Entfaltung einer audiovisuellen Komposition. „[A]s temporal process unfolding on different layers and different time scales, constantly changing along the procedural experience of film-viewing“ (ebd.: 7), könne diese prozesshafte Bedeutungskonstruktion Metaphern und metaphorische Themen sowohl auf der Mikro-, Meso- und Makroebene eines audiovisuellen Mediums bedeuten (vgl. ebd.: 1–7).
Als Beispiel auf der Mikroebene soll die CDO-Meeresfrüchte-Eintopf-Metapher, eingebettet in die oben analysierte Szene, dienen. Der TV-Koch Anthony Bourdain erklärt in diesem kurzen Einschub (0:34:09–0:34:54) das einer CDO zugrundeliegende Prinzip, schwer verkäufliche Wertpapiere zu bündeln, am Beispiel eines Meeresfrüchte-Eintopfs, in dem der übrig gebliebene Fisch der letzten Tage doch noch den Weg auf den Teller findet. In beiden Fällen werden unverkaufte Produkte die Komponenten eines neuen, das sich als Summe besser verkauft als in einzelnen Teilen. Diese Analogie auf Sprachebene wird nun nicht nur audiovisuell ausgeführt, sondern lässt das Prinzip einer CDO in einer Cinematic Metaphor körperlich erfahrbar werden und liefert damit die Basis für eine Bedeutung über ein sprachliches Stilmittel hinaus.
Clip 3: THE BIG SHORT (Adam McKay, USA 2015), Min. 0:33:57–0:35:08.
Bourdain ist in einer Restaurantküche zu sehen, während er mit direktem Blick in die Kamera das Prinzip einer CDO erklärt. Unterbrochen werden seine Ausführungen besonders am Anfang von Aufnahmen der Zutaten für den Eintopf (Abb. 14, orange hinterlegt). Auf eine nähere Einstellung des Kochs, die erste des Einschubs, folgen zehn Nah- und Großaufnahmen von Zutaten extrem schnell geschnitten aufeinander (Abb. 14, ‚Shot‘, erste orange hinterlegte Fläche von links). Die Zutaten sind meist nicht einmal eine Sekunde lang zu sehen (im Durchschnitt stehen die Einstellungen 0,7 Sekunden). Den Bildinhalt wirklich wahrzunehmen ist, ohne den Film anzuhalten, kaum möglich. Sie erscheinen als einzelne zerstückelte Eindrücke, ein Aufblitzen, was an zwei Stellen durch Weißblitze noch verstärkt wird. In vielen Fällen ist der direkte Blick auf die Zutaten zudem durch die Bildkomposition verstellt (Abb. 12–13). Auch die Kameraführung bleibt, sofern die Zutaten und der Kochvorgang gezeigt werden, bei der bewegten Ästhetik der Handkamera (Abb. 14, ‚Camera Movement Type‘, orange hinterlegt).
Deutliche akustische Gesten auf der Geräuschebene intensivieren den Eindruck von Durcheinander und Bewegtheit (Abb. 14, ‚Sound Gesture Dynamics‘). Es sind scharfe Messer zu hören, die in rasanter Geschwindigkeit etwas zerhacken, klackernde Metallschalen, das Knacken von Schalentieren, zum Teil exakt auf den Schnitt getimt, um die Continuity-Sprünge in der hektischen Montage zu betonen. Dazu vermitteln extrem sphärische Klänge einen chaotischen Eindruck. Ein Gewirr an Instrumenten, eingeleitet von einer Trompete, vermischt sich akustisch beinahe nahtlos mit dem Klangteppich von Küche und Köch:innen. Eine klare Unterscheidung von Küchengeräuschen und Percussion-Sounds ist nicht möglich.
Im Zusammenspiel von Einstellungsgröße, Schnittrhythmus, Kamerabewegung, Musik und Geräuschen wird so ein hektisches Durcheinander inszeniert, das sich als Gefühl der Überforderung und Orientierungslosigkeit beschreiben lässt. Lediglich eine Einstellung sticht in diesem ersten Abschnitt durch ihre Länge heraus (Abb. 14, ‚Shot‘, erste orange hinterlegte Fläche von links, „Kochen“). Sie zeigt einen Blick auf Bourdains Arbeitsplatz, der an späterer Stelle in der Montage wieder aufgegriffen wird (Abb. 14, ‚Shot‘, vierte orange hinterlegte Fläche von links, „Kochen“) und kündigt so eine Verschiebung vom Durcheinander zu einer audiovisuellen Orientierungshilfe an.
Abb. 14: Mit Advene generierte Visualisierung für die Cinematic Metaphor in der Szene Wrong Call leading to a big Deal.
In Abb. 14 sind die Spuren ‚Shot‘ (Einstellungslänge), ‚Image Content‘ (Bildinhalt), ‚Camera Movement Type‘ (Kamerabewegung Typ) und ‚Sound Gesture Dynamics‘ (Geräusch Geste Dynamik) dargestellt.
Das Gefühl der Überforderung und Orientierungslosigkeit wird in den langen, – die Nahaufnahmen zu Beginn und Ende des Einschubs ausgenommen – eher weit gestalteten Einstellungen (amerikanisch bis halbtotal) mit Fokus auf den Koch wieder aufgefangen (Abb. 14, ‚Shot‘, „Koch“ bzw. „Kochen“). Die Einstellungen auf ihn dauern zwischen sechs und fast zehn Sekunden, was einer extremen Entschleunigung des Schnittrhythmus entspricht. Auch die Kameraführung verändert sich. Die freie Bewegtheit der Handkamera wird abgelöst von einer kontrollierten Bewegung in der Kamerafahrt und schließlich – mit Ausnahme einer Einstellung – in ein statisches Bild überführt (Abb. 14, ‚Camera Movement Type‘).
Nach den anfänglich gezeigten Zutaten folgen nur noch drei ähnliche Aufnahmen (Abb. 14, zweite, dritte und vierte orange hinterlegte Fläche von links), dieses Mal allerdings durch Bourdain in den Handlungskontext der Eintopfzubereitung gestellt. Der Fokus im Bildinhalt verschiebt sich so von den Zutaten zu Bourdain bis er in der letzten Einstellung der Montage schließlich allein zu sehen ist (Abb. 14, ‚Image Content‘). Distinkte Geräusche sind kaum noch zu hören (Abb. 14, ‚Sound Gesture Dynamics‘). Im Zusammenspiel von Einstellungsgröße, Schnittrhythmus, Kamerabewegung, Bildinhalt und Geräuschen wird so ein affektives Zur-Ruhe-Kommen inszeniert, das das Gefühl der Orientierungslosigkeit in einem Gefühl der Sicherheit auffängt.
Die Erklärung ist geleitet von Bourdains Stimme, die auf sprachlicher Ebene die oben dargelegte Metapher erläutert. Der Fokus der Zuschauenden liegt dabei wie beschrieben nicht auf dem Produkt und auch nicht auf den einzelnen Zutaten des Produkts, sondern fast ausschließlich auf demjenigen, der es verkauft. In den amerikanischen Einstellungen ist der Fisch, während Bourdain ihn zerschneidet, in gewisser Weise sogar hinter dem riesigen Topf versteckt. Präsent ist so nur, worin die Zutaten zusammengefasst werden, nicht was sich wirklich im Eintopf befindet. Während zuvor Jared durch visuelle und auditive Präsenz im Gefühl der Orientierungslosigkeit zum Zentrum des Verstehensprozesses wurde, bietet hier der TV-Koch Orientierung und wird direkt mit dem Gefühl der Sicherheit verknüpft.
Auch wenn sich die Bilder in der audiovisuellen Inszenierung stark vom Rest der Szene unterscheiden – die Musik vermittelt eine belebte Stimmung, die Bilder sind sehr kontrastreich und stark gesättigt, die dominierenden Farben Schwarz und Weiß stehen einer sehr gemäßigten Farbpalette mit vielen Grau- und Blautönen gegenüber – wird das Verstehen über ein ähnliches Prinzip strukturiert. In einer weiteren Wiederholung und mit frischer Aufmerksamkeit wird das zentrale Problem der CDOs nochmals auf den Punkt gebracht: Keiner weiß, woraus sie zusammengesetzt sind.
Die einzelnen Hypotheken werden inszeniert als ein unüberschaubares Durcheinander an Zutaten, von denen letztlich nur derjenige weiß, der sie in den Topf geworfen hat. Ein genaues Hinsehen, wie es Michael Burry getan hat, um die vielen ‚faulen‘ Kredite zu entdecken, ist an dieser Stelle nicht möglich. Über ein wiederholt zu hörendes Buzzer-Geräusch werden die von Michael geshorteten mortgage bonds (von Bourdain in der ersten Einstellung erwähnt), der drei Tage alte Heilbutt im Eintopf (erwähnt im vorletzten Satz) und schließlich die CDOs als „dog shit wrapped in cat shit“ in Marks Zusammenfassung akustisch verknüpft – in der explosiven Geräuschgeste ein finaler Konnex zu den Bausteinen.
Über das verkörperte Erleben eines hektischen Durcheinanders – konstituiert über die extreme Dynamik vor allem in Montage, Sounddesign und Musik – wird ein Gefühl der Überforderung und Orientierungslosigkeit figuriert, das in der Fokussierung auf die erklärende Person sowie der Entschleunigung in Montage, Kamerabewegung und Sounddesign audiovisuell zur Ruhe kommt und damit in ein Gefühl der Sicherheit überführt wird. In der Erfahrung der Zuschauenden entsteht so eine komplexe Cinematic Metaphor, die das Funktionsprinzip der CDOs und damit ihr Problem erlebbar macht. CDOs erscheinen nicht nur als Meeresfrüchte-Eintopf, sondern als die konkrete Erfahrung von unüberschaubarer Komplexität als einem Gefühl der Orientierungslosigkeit, welches mangels eigenen Wissens für ein Gefühl der Sicherheit angewiesen macht auf die Expertise einer anderen Person – ein Umstand, aus dem der Film im gleichen Moment zu befreien versucht. Denn wie sowohl die Szene um den Jengaturm als auch die Cinematic Metaphor deutlich machen, kann dieses Vertrauen einfach ausgenutzt werden, um Profit zu machen – auf Kosten anderer.
Nicht zuletzt wird eine körperliche Dimension des Ekels adressiert, die den Erwerb des Finanzproduktes mit dem Verspeisen von verdorbenem Fisch gleichsetzt und mit tierischen Hinterlassenschaften assoziiert. Aus dem abstrakten Verlustgeschäft wird so in gewisser Weise das Vergiften des eigenen Körpers respektive eines ganzen Systems. Die Unwissenheit kann so je nach Umstand einen verdorbenen Magen, den Einsturz eines Holzturms oder eben eines gesamten Finanzsystems zur Folge haben. Wie das in dieser Szene und im Verlauf des Films erlangte Wissen nun in der letzten Montage zur Grundlage für einen emotionalen Appell für Veränderung wird, soll im Folgenden untersucht werden.
Der Schlussappell: Ein starres System in Bewegung versetzen
Der Film endet mit dem Kollaps der Investmentbank Lehman Brothers am 15. September 2008. Mit der letzten Szene Making money is dirty (1:54:16–2:01:51) verlässt der Film seine Protagonisten und entlässt auch die Zuschauenden wieder aus dem ‚Inside‘. Michael schließt seinen Fonds mit einem Plus von 489 Prozent, Jamie und Charlie finden sich in einem leeren Großraumbüro von Lehman Brothers, in dem plötzlich Stillstand eingetreten ist. Die weiterlaufenden Börsenticker und das Fernsehbild stehen als einzige Bewegungen einem wie eingefroren wirkenden Durcheinander gegenüber.
Gerahmt wird die Szene von Mark, der alleine auf einer Dachterrasse über den Dächern New Yorks sitzt und mit Vinnie, einem seiner Trader, telefoniert. Auch Marks Team hat das ‚Inside‘ des Büros verlassen und sitzt vor der St. Bartholomew’s Cathedral. Mark sträubt sich dagegen, seine Credit Default Swaps zu verkaufen und so Profit aus der Krise zu schlagen. Er fürchtet, es werde keine Konsequenzen für die Banken geben: “I have a feeling that in a few years people are gonna be doing what they always do when the economy tanks. They will be blaming immigrants and poor people.” Jareds Voice Over reagiert direkt darauf: “But Mark was wrong.” Eine Montagesequenz folgt, die die tatsächlichen Folgen der Finanzkrise gegen eine fiktiv möglich gewesene Zukunft stellt. Nach ihr stimmt Mark dem Verkauf der Wertpapiere zu und der Film verlässt ihn in einer Totalen. Im Folgenden werden die Montage (1:59:57–2:00:48) und ihr rhetorisches Ziel genauer analysiert.
Clip 4: THE BIG SHORT (Adam McKay, USA 2015), Min. 1:59:57–2:00:46.
Die Montagesequenz funktioniert vor allem über das rhetorische Prinzip der Opposition. Gegenüber stehen sich die erste Phase, die ein Gefühl von Aufbruch und Veränderung als ein In-Bewegung-Sein inszeniert, während die zweite Phase dominiert wird von einem Stillstand, der Bewegung unterdrückt und darin eine ungemeine Spannung aufbaut.
Abb. 15: Mit Advene generierte Visualisierung für die Montagesequenz in der Szene Making money is dirty.
In Abb. 15 sind die Spuren ‚Field Size‘ (Einstellungsgröße), ‚Image Intrinsic Movement‘ (bildintrinsische Bewegung), ‚Camera Movement Direction‘ (Kamerabewegung Richtung), ‚Recording/Playback Speed‘ (Aufnahme-/Wiedergabegeschwindigkeit) und ‚Music Mood‘ (Musik Stimmung) dargestellt.
Zu Jareds „But Mark was wrong“ ist ein Bild des New Yorker Straßenverkehrs zu sehen, das mit dem Ende des Satzes einfriert. In dem Moment setzt Neil Youngs Song ‚Rockin’ in the Free World‘ ein (Abb. 15, ‚Music Mood‘, orange hinterlegt) und unterlegt folgendes Voice Over: “In the years that followed, hundreds of bankers and rating agencies executives went to jail. The SEC was completely overhauled. And Congress had no choice, but to break up the big banks and regulate the mortgage and derivatives industries.” Das, was man hier auf Ebene der Sprache als grundlegende Umstrukturierung und Reform des Bankensystems, von der US-Börsenaufsichtsbehörde über die Ratingagenturen bis zu den Banken selbst, zusammenfassen kann, wird im Erlebens der Zuschauenden als ein affektives In-Bewegung-Sein gestaltet.
Der Eindruck von Bewegung wird über das Zusammenspiel zahlreicher kompositorischer Ebenen gestaltet. Die hohe bildintrinsische Dynamik (Abb. 15, ‚Image Intrinsic Movement‘, orange hinterlegt), zum Beispiel über die Bewegung des Straßenverkehrs oder der Wolken hergestellt, wird durch den Einsatz zahlreicher Zeitrafferaufnahmen noch intensiviert (Abb. 15, ‚Recording/Playback Speed‘, orange hinterlegt). Diese zeigen Naturaufnahmen, den nächtlichen Sternenhimmel über einem Feld, eine sich öffnende Blüte, das Reifen einer Erdbeere, aber auch Tourist:innen vor dem Pariser Eifelturm, die ineinanderfließenden Lichter des nächtlichen Straßenverkehrs über die Nanpu Bridge in Schanghai sowie vor dem Kreml in Moskau. Bewegungen, die in dieser Qualität erst durch den Zeitraffer sicht- und erlebbar werden.
Die Bilder sind dominiert von kräftigen, leuchtenden Farben, dem strahlenden Blau des Himmels, dem intensiven Orange der Blüte vor schwarzem Hintergrund, den roten und gelben Lichtern der Straßen. Der starke Bewegungseindruck wird auch durch den extrem schnellen Schnittrhythmus (17 Einstellungen mit ähnlicher Länge in 17 Sekunden bis zum Einfrieren der letzten Einstellung in diesem Abschnitt) erreicht. Zum Höhepunkt ist ein Zusammenschnitt von Himmelsbildern zu sehen, die zum Teil nur einen Frame lang und damit nur noch als pure Bewegtheit wahrzunehmen sind. Auch der Wechsel zwischen nahen und weiten Einstellungen (Abb. 15, ‚Field Size‘, orange hinterlegt) intensiviert einen starken Eindruck von Bewegtheit in einem wiederholten Verengen und Weiten des Raumeindrucks.
Auch wenn sie sich durch ihre Gestaltung deutlich von den weiter oben beschriebenen Bildern unterscheiden, bilden die Found-Footage-Aufnahmen mit ihnen zusammen einen festen Verbund. Zwar bremsen sie den Bewegungsfluss etwas, vor allem überträgt sich aber umgekehrt der Eindruck von extremer Bewegtheit auf die kurzen Einstellungen und bindet sie so in den Prozess der Veränderung ein. Die rhythmische Beschleunigung auf Ebene der Montage, der Musik sowie des schnell gesprochenen Voice Overs bleiben erhalten. So wird ein affektives In-Bewegung-Sein verknüpft mit Festnahmen und Anhörungen. „I take full responsibility“ ist zu hören, aus den weiteren kurzen Nachrichten-Snippets ist nur das Wort ‚decisions‘ verständlich. Die Übernahme von Verantwortung wird inszeniert als entscheidender Schritt in Richtung Umstrukturierung des Systems.
Zum Stehen kommt der Wandel mit einem Geräusch, das klingt wie zerbrechendes Glas, einem akustischen Zerbersten der Wunschvorstellung. Das Bild friert ein und die Bewegung verwandelt sich in einen langsamen, digital eingefügten Zoom-In, der langsam ins Schwarz überblendet. Die Musik verstummt. Der Ansatz von Veränderung wird audiovisuell eingefroren und mit einem „Just kidding“ im Voice Over in einer sprachlichen Geste weggewischt.
Zu einer Montage von Bankennamen und -logos ist im Voice Over weiter zu hören: “The banks took the money the American people gave them and used it to pay themselves huge bonuses and lobby Congress to kill big reform. And then they blamed immigrants and poor people. And this time, even teachers. And when all was said and done, only one single banker went to jail. This poor schmuck. Kareem Serageldin from Credit Suisse. He hid a few billion in mortgage bond losses, something most of the big banks did on a good day during the crisis.” Ein Bankensystem, das weder selbst Konsequenzen aus der Krise gefolgert hat noch von der Justiz zur Rechenschaft gezogen wurde, während andere anstelle der Banker:innen zu Sündenböcken wurden, wird im Erleben der Zuschauenden mit einem angespannten Stillstand verbunden.
Die Stimme von Ryan Gosling, der das Voice Over spricht, ist nun etwas leiser und weniger nachdrücklich. In den Bildern lässt sich kaum noch Bewegung ausmachen, die Kamera bleibt weitgehend unbewegt (Abb. 15, ‚Image Intrinsic Movement‘ und ‚Camera Movement Direction, blau hinterlegt). Es dominieren Außenaufnahmen von Bankgebäuden, Wolkenkratzern und Schilder, die die Namen von Banken zeigen.
Die in normaler Wiedergabegeschwindigkeit abgespielten Bilder sind in vielen Fällen kaum von den zahlreichen Stills zu unterscheiden (Abb. 15, ‚Recording/Playback Speed‘, blau hinterlegt). Viele der Schilder sind untersichtig gefilmt, bereits die erste Einstellung zeigt einen Wolkenkratzer in extremer Untersicht (Abb. 16, ‚Camera Angle‘, blau hinterlegt). Die aus dieser Perspektive übermächtig wirkenden Gebäude erscheinen von außen unerschütterlich, unzugänglich und monumental, was den Eindruck von Stasis noch verstärkt. Das knallige Farbspektrum wird abgelöst von gleichbleibenden Schwarz-, Grau- und Blautönen.
Bei dieser audiovisuellen Aufzählung geht es weniger um die Nennung der einzelnen Geldinstitute, als darum, möglichst viele Namen in Reihe zu stellen, um den Eindruck eines ganzen Systems zu schaffen. Die gezeigten Banken sind nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Die wenigen Menschen in den Aufnahmen wirken wie Statist:innen. Als unscharfe Gestalten, von hinten oder vor Gegenlicht gefilmte dunkle Silhouetten oder in Arbeitskleidung versteckt, sind sie nur die Randfiguren eines Systems aus Hochhäusern und großen Namen – Jamie Dimon als Gesicht von JPMorgan Chase eingeschlossen. Die überdimensionale Bank-of-America-Animation auf dem leuchtenden Weiß der digitalen Werbetafel überstrahlt alles andere im Bild. Die Menschen auf der Straße darunter sind leicht zu übersehen.
Mit 17 Einstellungen von ähnlicher Länge in 17 Sekunden (das Foto von Kareem Serageldin als letzte Einstellung dauert zwölf Sekunden) entspricht der Schnittrhythmus sehr genau dem des ersten Abschnitts. Auch die angespannten Pianoklänge in Moll, die sich fast wellenförmig bewegen und als nervös und unschlüssig beschreiben lassen, vermitteln eher ein unwohles als ruhiges Gefühl (Abb. 15, ‚Music Mood‘, blau hinterlegt). Im Zusammenspiel der Kompositionsebenen und gerade auch in ihrem Widerspruch entsteht das Erleben eines angespannten Stillstands. Zum letzten Bild der Montage, einem Foto des Bankers Kareem Serageldin, ist ein explosives Geräusch zu hören, das klingt wie eine ins Schloss fallende Gefängnistür. Das Foto auf schwarzem Hintergrund wird immer kleiner, es scheint sich zu entfernen, bis die Leinwand komplett schwarz ist und mit dem Ausklingen des Geräuschs auch die letzte Bewegung zum Erliegen kommt.
Die Bilder der Veränderung werden in der zeitlichen Anordnung nacheinander, aber auch gestalterisch denen entgegengestellt, die sich verändern müssen. Die Veränderung wird als ein In-Bewegung-Sein für die Zuschauenden körperlich erlebbar und zugleich positiv mit der Übernahme von Verantwortung, auch im rechtlichen Sinne, sowie einem natürlichen Reifeprozess – der wachsende Mais auf dem Feld, die im Zeitraffer reifende Erdbeere – assoziiert. Die Bewegtheit wird in der zweiten Phase oberflächlich eingefroren, zum Beispiel auf Ebene von Kamera- und bildintrinsischer Bewegung, schwelt aber in Montage und Musik weiter, was in einem Unterdrücken der Bewegung einen angespannten Stillstand erzeugt. Die, im ersten Abschnitt über die expressive Bewegungsqualität aufgebaute, enorme energetische Ladung wird mit dem abrupten Einfrieren des Bildes und im Verlauf des zweiten Abschnitts sowohl über den Kontrast zum ersten Teil als auch den Konflikt in der Komposition in eine sich weiter steigernde Anspannung überführt, jedoch ohne die Möglichkeit zur Entladung.
Versteht man das Potential audiovisueller Affekte im körperlichen Erleben eines dynamischen Spannungsauf- und -abbaus, wie es Bakels (2017: 119, Hervorh. im Original) für den audiovisuellen Rhythmus definiert, ergibt sich daraus eine Art „affektive[…] Ökonomie“. Die Erfahrung von Be- und Entschleunigungen des audiovisuellen Tempos werde körperlich als Eindruck von Energie wahrgenommen. Eine Phase starker rhythmischer Beschleunigung, wie in dieser Montage, werde als Aufbau energetischer Spannung erfahren und strebe in einer Art körperlichen Antizipation nach einer anschließenden Entladung, was Bakels als „Ökonomie der energetischen Ladung und Entladung“ (ebd., Hervorh. im Original; vgl. zudem ebd.: 119–120) beschreibt.
Dieser Zustand körperlich empfundener, extremer energetischer Spannung, der nach Entladung strebt, lässt sich als Gefühl der Empörung charakterisieren. So definieren Christoph Demmerling und Hilge Landweer (2007: 289) die Körperlichkeit der Affekte Wut, Zorn und Empörung als „Impuls, aus der leiblichen Enge auszubrechen“, ein Streben ungehindert in alle Richtungen nach außen zu sprühen (vgl. ebd.), sprich zur Entladung der Energie in einem zentrifugalen Bewegungsimpuls.
In ihrer Ausrichtung auf eine moralische Ungerechtigkeit – in diesem Fall die Bereicherung weniger auf Kosten vieler und ohne nennenswerte Konsequenzen – verbindet das Gefühl der Empörung so die dynamische, körperliche Erfahrung angestauter Energie mit dem affektiven, erfahrungsbasierten Verstehen eines fehlerhaften, reformbedürftigen Systems. Das im ‚Inside‘ erfahrene Wissen wird zum Ende des Films – vor den finalen Einblendungen folgen lediglich noch fünf Einstellungen – die Basis für einen affektiven und verkörperten Appell für Veränderung und bestimmt so das Gefühl ebenso wie die Haltung, mit denen die Zuschauenden den Film verlassen: Es gilt ein System in Bewegung zu versetzen. Das Ziel für die Entladung der im Gefühl der Empörung aufgestauten Energie ist somit gefunden.
4.) Nach der Krise – ein Fazit
THE BIG SHORT kam im Dezember 2015 in die US-amerikanischen Kinos, sieben Jahre nach der Pleite von Lehman Brothers im September 2008. Die Texteinblendungen zum Ende des Films (2:01:51–2:03:43) legen jedoch nahe, dass sich am System Finanzen seitdem nicht viel geändert hat. Das Funktionsprinzip der CDOs sei erhalten geblieben und werde 2015, lediglich unter neuem Namen, als ‚bespoke tranche opportunity‘ verkauft. Gesetzesvorhaben, die in Folge der Krise auf den Weg gebracht werden sollten, seien nach Rana Foroohar (vgl. 2016: 8) nie in Kraft getreten.
Der Film nutzt damit keine aktuelle Krise als Möglichkeitsraum zur Veränderung, sondern schafft sich in der zeitlichen Expansion der Finanzkrise selbst eine „öffentliche, […] medial vermittelte und gestaltbare Umbruchsituation“ (Goeze / Strobel 2012: 513), eine rhetorische Krisensituation. Ein Zustand, der nach Annika Goeze und Korinna Strobel charakterisiert werde durch die Infragestellung existentieller, gemeinschaftlicher Grundwerte. Nicht selten stünden sich dabei in einem „Zustand unaufgelöster Spannung“ (ebd.: 512) das Streben nach gesellschaftlicher Veränderung und die Rückbesinnung auf alte Werte gegenüber (vgl. ebd.: 512–514).
Diese Spannung zieht sich durch die obigen Analysen: von der aufgeregten Anspannung, die in der Szene Wrong Call Leading to a Big Deal den Verstehensprozess grundiert, zur Steigerung der Spannung in ein Gefühl der Empörung in der letzten Szene. Das Ende des Films fordert eine Entladung der in der Spannung aufgebauten Energie in einer Auflösung des Krisenzustands und spricht sich dabei klar für gesellschaftliche Veränderung aus, was in diesem Fall eine stärkere Regulierung des Finanzsystems bedeutet.
Über die Verbindung affektdramaturgischer und rhetorisch orientierter Analyseperspektiven lässt sich die in der Erfahrung filmischer Bewegungsbilder begründete affektive Verkörperung von Verstehens- und Meinungsbildungsprozessen anschaulich nachvollziehen: Das im ersten Teil der Analyse herausgearbeitete komplexe Gefühl des ‚Inside‘ – konstituiert über ein affektives Mittendrin-Sein, die Erfahrung von Unmittelbarkeit und Unvorhersehbarkeit in einem Gefühl der Authentizität, die andauernde Affizierung in einem Gefühl der Sympathie sowie den verkörperten Prozess des Verstehens der Finanzprodukte – legitimiert den Film nicht einfach als vertrauenswürdige Quelle, sondern schafft in der Filmerfahrung ein Gefühl der Zugehörigkeit zu einer wissenden Gemeinschaft.
Dieser erfahrungsbasierte, affektive und dynamische Prozess ist entscheidend um eine affektive Zustimmung und damit eine Veränderung der Einstellung bei den Zuschauenden zu erreichen. Damit erweist sich die Annahme von Matthias Grotkopp (2017: 293), wonach „[d]ie audiovisuelle Komposition des Films […] in einem absolut nicht-metaphorischen Sinne einen Körper der Rede [bildet], der von den Zuschauern als eine permanente Übersetzungsmaschine erfahren wird und in letzter Instanz auf die Übersetzung in individuelle, verkörperte Einstellungen zielt“, auch im Kontext des Finanzkrisenfilms als wertvolle Basis für die Analyse. In der Adressierung des Publikums aus und in diesem ‚Inside‘ wird eine wissende Gemeinschaft im vorherigen ‚Outside‘ angestrebt. Auf diese Weise wird eben diese vormals auf Verstehensdefiziten aufgebaute Trennung unmöglich.
Literatur
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Filmographie
THE BIG SHORT. Adam McKay, USA 2015.