‚Inside the Doomsday Machine‘. Die affektrhetorische Bedeutung des ‚Inside‘ und seine Konsequenzen für das ‚Outside‘ im Finanzkrisenfilm THE BIG SHORT

Yvonne Pfeilschifter


1.) Inmitten der Krise

Wenn es in all der Ungewissheit und zwischen all den Unwägbarkeiten in der aktuellen Corona-Krise eine Gewissheit gibt, so scheint sie zu lauten: Diese Krise ist nur mit extremen Maßnah­men zu bewältigen und auch nur dann, wenn diese von allen befolgt werden. Wenn sich Bun­deskanzlerin Angela Merkel nun zu einer Fernsehansprache entschließt, geht es nicht darum, neue Hilfspakete anzukündigen oder weitere Einschränkungen zu begründen. Es geht nicht um Fakten und Grafiken, sondern darum, ein Gefühl von Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit als Basis für die ergriffenen Maßnahmen zu schaffen, über deren konkrete Ausgestaltung dann durchaus diskutiert werden darf.

Ein Ge­fühl der Einigkeit über Parteigrenzen und Gesellschaf­ten hinweg, das man andernfalls als fehlende Differenzierung kritisieren könnte, wird, ange­sichts des Virus, zum Mittel der Wahl. Wenn Merkel in ihrer Fernsehansprache vom 18. März 2020 angesichts der Corona-Krise von einer „histori­sche[n] Aufgabe“ (Bundesregierung März 2020: 0:11:31) spricht, die „nur ge­meinsam zu bewältigen“ (ebd.: 0:11:33) sei, dann wird das „kom­plexe[…] Gefühl[…] des Ein­ver­ständnis­ses“ (Grotkopp 2017: 273), dessen Herstellung Matthias Grotkopp als Basis einer jeden Rhetorik versteht (vgl. ebd.: 273–274), zur obers­ten Priorität.

Dennoch bleibt jede Krise ein Entscheidungsprozess (vgl. Goeze / Strobel 2012: 511–514), im aktuellen Fall ein Ab­wägen der Kapazitäten des Gesundheitssystems, der Einschränkung persönlicher Frei­heiten und auch wirtschaftlicher Kon­sequenzen. Die Ver­gleiche zur Finanzkrise 2008 liegen – trotz aller Unterschiede – derzeit nicht fern. Mit „der tiefsten Wirtschafts­krise seit 2008“ (Bartz März 2020a) sei zu rechnen, schreibt der Spiegel noch am 12. März. Am 6. April rechnet der KfW-Chef Günther Bräunig gegenüber der dpa bereits damit, dass die Di­mensionen der Finanz­krise weit überstiegen werden (vgl. Marx / Bender April 2020). Die Banken seien zwar stabiler als 2007, so Tim Bartz’ Einschätzung im Spiegel (vgl. Bartz März 2020b), den­noch kann die Corona-Krise jetzt zum Stresstest für sie und die Wirksamkeit der nach der Finanzkrise ergriffenen Maßnahmen werden.

Glaubt man dem Spielfilm THE BIG SHORT (Adam McKay, USA 2015) steht eine fundamentale Reform des US-amerikanischen Finanzsystems, auch sieben Jahre nach dem Kollaps der In­vest­mentbank Lehman Brothers, weiter aus. Der Film inszeniert die Finanz­branche als ein nach außen abgeschirmtes System des ‚Inside‘, in dem die Beteiligten dank unregulierter Finanz­pro­dukte absurde Gewinne erzielen – am Ende auf Kosten der Bevölkerung. Ziel des Filmes ist es, diese Trennung aufzuheben und die Zuschauer:innen über die Erfahrung der Funktionsweise der Finanz­welt zu Kritiker:innen und Erneuerer:innen des Systems zu machen.

Dazu – so eine These die­ser Arbeit – schafft der Film ein Erleben des ‚Inside‘, das die Erfahrung der Zuschau­enden und somit den verkörperten Verstehensprozess, in dem sich Sprache und expres­sive Be­wegungs­dynamik gegenseitig strukturieren, mit Authentizität und Ehrlichkeit grundiert. In der Verwendung des englischen Begriffspaares ‚Inside‘ und ‚Outside‘ wird dabei eine Assoziation dieser zunächst räumlichen Kategorien zu Wissen respektive Nicht-Wissen mitaufgerufen, wie sie beispielsweise in Begriffen wie ‚Insiderinformation‘, ‚Insiderhandel‘ oder auch der Figur des Insiders/der Insiderin angelegt ist und – wie die nachfolgenden Analysen zeigen sollen – auch in THE BIG SHORT konstituierend für ein komplexes Gefühl des ‚Inside‘.

Die Affektrhetorik soll als filmtheoretischer Ansatz dazu dienen, die affektive Adressierung der Zuschauenden als Modulierung von Wahrnehmen, Fühlen und Verstehen (vgl. Kappelhoff / Bakels 2011: 87) in der Zeit nachzu­vollziehen und zu rekonstruieren, wie darüber moralisch-affektive sowie kognitive Überzeu­gungen bei den Zuschauenden gestaltet werden. An die Herstellung sinnlicher Evidenz für die Funk­tionsweise von basalen Finanzprodukten und ihre Identifi­zierung als Ursache der Finanz­krise wird ein moralisches Unrechtsempfinden, ein Gefühl der Empörung gekoppelt, das sich auf das gesamte System Finanzen ausweitet und als Aufruf zur Reformierung, ausgehend vom früheren ‚Outside‘, zu verstehen ist – so eine weitere These.

Filmische Affizierung wird im Folgenden – basierend auf dem Konzept der Ausdrucksbewegung (vgl. dazu ebd. sowie Kappelhoff / Bakels 2019) von Hermann Kappelhoff – stets auf die konkrete audiovisuelle Komposition zurückgeführt. In Verbindung mit einem neo-phänomenologischen Embodiment-Verständnis nach Vivian Sobchack (1992; vgl. dazu auch Kappelhoff / Bakels 2019) lässt sich Filmwahrnehmung so als verkörpertes Erleben von audiovisuellen Bewegungen und Rhythmen verstehen. Wie von Matthias Grotkopp für die Rhetorik des Klimawandelfilms beschrieben (vgl. dazu Grotkopp 2017), soll nun in der Analyse nach den in der Erfahrung begründeten, verkörperten Verstehens- und Meinungsbildungsprozessen, einer Affektrhetorik von THE BIG SHORT gefragt werden.

Dazu wird zunächst eine Szene aus dem ersten Drittel des Films untersucht, die das Funktionsprinzip einer CDO, einem Finanzprodukt, in dem Hypotheken gebündelt werden, in den Fokus rückt. In der Analyse dieser Szene wird nachvollzogen, wie sich ein affektives Mittendrin-Sein, ein Gefühl von Authentizität sowie ein Gefühl von Sympathie im verkörperten Verstehen zu einem komplexen Gefühl des ‚Inside‘ formen. Um noch dezidierter auf den Verstehensprozess einzugehen, wird basierend auf dem Konzept der Cinematic Metaphor die CDO-Meeresfrüchte-Eintopf-Metapher aus der oben genannten Szene genauer untersucht. Eine dritte Analyse widmet sich der letzten Szene des Films, insbesondere der darin enthaltenen Montagesequenz, die das Gefühl der Empörung als angespannten Stillstand moduliert und die Zuschauenden mit dem aktivierenden Appell, ein System in Bewegung zu versetzen, aus dem Film entlässt.


2.) Von der Affektdramaturgie zu einer Rhetorik des Films

Während die Tatsache, dass affektive Wertungen „Entscheidungen, moralische Urteile und Handlungen Einzelner ebenso wie die kommunikativen Entscheidungsprozesse und Handlun­gen von Gruppen und Gesellschaften“ (Kappelhoff / Bakels 2011: 78) prägen – oft weit mehr als bloße Zahlen, Fakten und Argumente –, in der Medienwissenschaft kaum bestritten sei, bleibe die Frage nach einem grundlegenden Zusammenspiel von konkreten audiovisuellen Inszenierungen und „perzepti­ven, affektiven und Verstehensprozessen“ (ebd.: 80) noch unbeantwortet, so Hermann Kappelhoff und Jan-Hendrik Bakels in einem Aufsatz zum Zuschauergefühl (1) im Kino.


Audiovisuelle Affekte: Ausdrucksbewegung und Embodiment

Während die Tatsache, dass affektive Wertungen „Entscheidungen, moralische Urteile und Handlungen Einzelner ebenso wie die kommunikativen Entscheidungsprozesse und Handlun­gen von Gruppen und Gesellschaften“ (Kappelhoff / Bakels 2011: 78) prägen – oft weit mehr als bloße Zahlen, Fakten und Argumente –, in der Medienwissenschaft kaum bestritten sei, bleibe die Frage nach einem grundlegenden Zusammenspiel von konkreten audiovisuellen Inszenierungen und „perzepti­ven, affektiven und Verstehensprozessen“ (ebd.: 80) noch unbeantwortet, so Hermann Kappelhoff und Jan-Hendrik Bakels in einem Aufsatz zum Zuschauergefühl (1) im Kino.

In Abgrenzung zu kog­nitionstheoretisch informierten Emotionsmodellen in der Filmtheorie wird im Folgenden mit Bezug auf John Dewey ein Konzept von filmischer Erfahrung als „bewusste[m] Erleben der ungeteilten Einheit eines sich in der Zeit entfaltenden Prozesses kontinuierlicher Gefühls­mo­dulation“ (ebd.) zugrunde gelegt. Damit wird eine affektive Qualität ins Feld geführt, die weder an Figurenemotionen noch narrative Elemente zurückgebunden ist, sondern in der ästhetischen Erfahrungsmodalität des Films begründet liegt. Geht man davon aus, dass affektive Prozesse dort be­reits als „komplexe Skripte“ (ebd.) angelegt sind, führt das von einem individuell verschie­denen Filmerleben zur intersubjektiven ästhetischen Figuration von Gefühlen, die direkt aus der tem­poralen Struktur einer audiovisuellen Komposition gewonnen werden können (vgl. ebd.: 78–83).





(1) Aus Rücksicht auf eine gendergerechte Sprache möchte ich in meinen eigenen Ausführungen anstelle der Verwendung des Zuschauer-Begriffs von Zuschauenden sprechen und auch darüber hinaus möglichst alle Geschlechter gleichermaßen adressieren. Feststehende Begriffe aus verwendeten Texten oder Zitate werde ich zur Nachvollziehbarkeit der Quellen – wie in diesem Fall – nicht verändern.

Einen Ausgangspunkt für diese theoretische Näherung an das Zuschauergefühl bietet für Kap­pelhoff und Bakels (2019: 445) das medienäs­thetisch begründete Konzept der Ausdrucksbewegung, das sich wesentlich durch die Idee auszeichne, „Zeit und Bewegung im Sinne expressiver Gesten und Muster auszuge­stalten – und darüber die Gefühle eines anonymen Publikums zu adressieren“ (2). Das fil­mische Bild in seiner Zeit­lich­keit ist somit selbst als Ausdruck physischer Bewegung zu begreifen (vgl. Kappelhoff / Bakels 2011: 84–85).


(2) Entscheidend ist auch hier, dass von spekulativen Zuschauenden ausgegangen wird und damit nicht von empirisch belegbaren Emotionen, sondern ästhetisch figurierten Gefühlen.

Um nun die Erfahrung filmischer Expressivität als intersubjektiven körperlichen Affekt zu ver­stehen, fungiert das neo-phänomenologische Konzept des Embodiments von Vivian Sobchack als zentraler Bezugspunkt. Diesem zufolge entfalte sich das filmische Bewegungs­bild nicht auf der Leinwand, sondern – in Annahme einer doppelten Subjektivität – als di­rektes, körperliches, sinnliches Er­leben der Wahrnehmung eines an­deren Subjekts am eigenen Leib (vgl. Kappelhoff / Bakels 2019: 449). Diese Verkörperung filmi­scher Bewegung, die sich in den Zuschauenden als „subjektives Bewegt-Sein“ (ebd., Hervorh. von Y.P.) aus­drücke, sei ausschließlich als dynamischer Prozess durch in sich selbst dynamische filmische Affekte zu verstehen (vgl. ebd.).

Jan-Hendrik Bakels (2017: 220, Hervorh. im Original) beschreibt dies in seiner Dissertationsschrift zur Entwicklung eines audio­visuellen Rhythmus als Zusammenspiel „energetischer Spannungen und kinetischer Kräfte“, das von den Zuschauenden körperlich als dynamische Intensität eines Spannungsauf- und -abbaus erlebt werde (vgl. ebd.: 220–222). Dieser kontinuierliche Verlauf der temporalen Strukturen des au­dio­visuellen Bildes lege es nahe, nicht von einzelnen, distinkten Affekten, sondern besser von Affektivität (vgl. ebd.: 216–217), und damit einer fortlaufenden Modulierung der ästhetisch figurierten Gefühle bei den Zuschauenden über die Dauer des ge­samten Films hin­weg, einer Affektdramaturgie, zu sprechen (vgl. Kappelhoff / Bakels 2011: 86–90).

Der Zugang zum Zuschauergefühl liegt damit in der „tempo­rale[n] Organisation des ästhetischen Erlebens des Films“ (ebd.: 86). Für die nachfolgende Analyse zu THE BIG SHORT bleibt daher festzuhalten: „Es ist die Er­fahrungs­form audiovisueller Bilder selbst, die als Inhalte zu analysieren sind“ (ebd.: 95). Zunächst gilt es aller­dings die Affektdramaturgie zu einer Rhetorik des Films ins Verhältnis zu setzen.


Affektrhetorik: Das „Gefühl des Einverständnisses“

Wie groß der Einfluss von Gefühlen auf Entscheidungsprozesse ist, seien es individuelle oder gesellschaftliche, legen bereits die obigen Ausführungen nahe. In seinem Dissertationskapitel zur Rhetorik des Klimawandelfilms geht Matthias Grotkopp (2017: 261) noch einen Schritt weiter, wenn er schreibt, „dass die Überzeugung von der ‚Richtigkeit‘ von Fakten und Argumenten ein af­fekti­ver Pro­zess ist, dass Einverständnis einhergeht mit affektiver Übereinstimmung.“ In die­sem Ver­ständnis von Rhetorik als „affektive und leibliche Begründung von Moral und Han­deln“ (ebd.: 263) geht es nicht um Gefühle als schmückendes Beiwerk für ‚faktenbasierte‘ und damit schein­bar rationale Argumente, sondern um die These, dass erst eine affektive Über­zeugung auch Zustimmung bedeute.

Dies ist keines­falls als Kritik an der Rhetorik zu verstehen, sondern be­schreibt ihre Notwendigkeit für eine funktionie­rende Gesellschaft in der (medialen) Herstel­lung einer „Plattform der Gemeinsam­keit“ (ebd.: 261), die sich durch affektiv geteilte Werte und Normen aus­zeichne. Damit sei das Ziel einer jeden rhe­tori­schen Operation nicht die Überzeugung der rhe­torischen Oppo­sition (vgl. ebd.: 261–264), sondern, wie der Philo­soph Hans Blumen­berg (1981: 119) es nennt, „die Si­cherung des Nicht-Wi­derspruchs“. Bereits Aristo­teles (2002: 22) zufolge liegt die Aufgabe der Rhetorik darin „an jeder Sache das vorhan­dene Überzeugende zu sehen“ – oder in anderen Worten, auf Basis der vorhandenen ‚Fakten‘ eine Meinung zu formulieren – und so, in Ermangelung einer eindeutig auszumachenden Wahr­heit, die Herausbildung eines Konsenses zu ermöglichen so­wie zur Entschei­dungsfin­dung bei­zutragen (vgl. Arend 2012: 16–17).

In einer Gesellschaft, die weit entfernt ist von den absoluten Wahr­heiten einer aris­totelischen An­tike, werde, so Blumenberg (1981: 108), die „angestrengte Herstellung der­jenigen Über­ein­stimmungen, die anstelle des ›substantiellen‹ Fundus an Regu­lationen treten müssen“ zur zentralen Auf­gabe einer modernen Rhetorik (vgl. Arend 2012: 17). In diesem Sinne stellt sich Grotkopp (2017: 258) gegen die Fehlannahme einer rein ratio­nalen Ar­gumentation und versteht Rhetorik als ba­salen Teil jegli­cher Kommu­nikation, deren „sprachliche[…] und symboli­sche[…] Formen […] selbst affektiv grun­diert“ seien (vgl. zudem ebd.: 258–263).

Damit käme auch für den Film eine Identifi­zie­rung von Sprache als argumentativer Ebene und audiovisuellen Bewegungsbildern als emotio­na­lisierender Komponente einem extremen theo­retischen Kurzschluss gleich. In der Ana­lyse einer audiovisuellen Rhetorik gehe es vielmehr darum, inwiefern sich Sprache und andere audiovisuelle Gestaltungsmittel gegenseitig struktu­rieren, als Erfahrung die Zuschauenden af­fizieren und so in „spezifische[n] Formen des Bewei­sens und des Schlussfolgerns“ (ebd.: 269) Meinun­gen oder Handlungsoptio­nen moralisch richtig erschei­nen lassen. Grotkopp verknüpft so die Rhetorik mit der zuvor beschriebenen Perspektive auf das Zuschauer­ge­fühl als einer dynamischen Affizierung in der verkörperten Erfahrung der fil­mischen Bewe­gungsbil­der. Anstelle von Emotio­nen als Folge von rationalen Urteilen oder re­präsentierten Sach­verhalten treten damit ästhetisch figurierte Gefühle, die auf der Erfahrung eines „komplexen Gefühls des Einver­ständnisses“ (ebd.: 273) basieren.

Grotkopp beschreibt damit expli­zit nicht die Zu­stim­mung in einzelnen Momenten, son­dern versteht audio­visuelle Rhetorik als „die zeitliche Ent­faltung einer Zu­schau­ererfahrung als einer Erfahrung der Evidenz von Ge­sproche­nem und Ge­zeigtem“ (ebd.: 267) und gelangt damit zu einem Verständnis von filmischer Rheto­rik, das Wahrnehmen und Verstehen als ver­körperte Prozesse ernst nimmt und moralische Überzeugungen direkt in der Affektdramaturgie und damit der fortlaufenden Modulierung des Zuschau­ergefühls über die Dauer des Films begründet sieht, einer Affektrhetorik (vgl. ebd.: 268–273). Auf Basis dieses Verständnisses einer Affektrhetorik soll in den folgenden Analysen zu THE BIG SHORT nachvollzogen werden, wie die Verstehensprozesse an ein komplexes Gefühl des ‚Inside‘ ge­koppelt sind, um letztlich eine Haltung gegenüber dem Finanzsystem, in diesem Fall ein mora­lisches Gefühl der Empörung, zu formen.


3.) Ein System verstehen und verändern – THE BIG SHORT

Der Spielfilm THE BIG SHORT (USA 2015) von Regisseur Adam McKay basiert auf dem 2010 erschienenen Buch The Big Short – Inside the Doomsday Machine von Michael Lewis und be­schäftigt sich mit den Entwicklungen, die zur globalen Finanzkrise 2008 geführt haben. In drei parallelen Erzählsträngen folgt der Film mehreren Protagonisten, die den Kollaps des US-ame­rikanischen Immobilienmarktes 2007 antizipiert und dadurch in der anbrechenden Finanz­krise enorme Gewinne gemacht haben.

In den folgenden Analysen soll vor allem der Erzählstrang um Hedgefonds-Manager Mark Baum (Steve Carell) und sein Team im Fokus stehen, die von Deutsche-Bank-Trader Jared Venett (Ryan Gosling) von der Fragilität des Im­mobilienmarktes erfahren und über Credit Default Swaps die Möglichkeit erhalten, ex­t­rem pro­fitabel gegen den Markt zu wetten, ihn zu shorten. Gewissermaßen erfunden hat dieses Fi­nanz­produkt Hedgefonds-Manager Michael Burry (Christian Bale), der bereits 2005 die sich am Immobilienmarkt bildende Blase erkannte. Auch die beiden Newcomer Charlie Geller (John Magaro) und Jamie Shipley (Finn Wittrock) steigen mithilfe des ehemaligen Traders Ben Ri­ckert (Brad Pitt) in den Handel mit Credit Default Swaps ein und wetten erfolgreich sogar gegen gut bewertete mortgage-backed securi­ties (durch Immobilien gesicherte Wertpapiere).

„[T]he key to reforming our current system is making the American public understand just how deeply and profoundly things aren’t working for the majority of people in this country and, just as important, why they aren’t work­ing“, so die These von Wirtschaftsjournalistin Rana Fo­roohar (2016: 24–25, Hervorh. im Original) – und die Idee des Films, denn die aristotelische ‚Wahrheit‘ von der THE BIG SHORT überzeugen möchte, ist die Wirklichkeit eines fehlerhaften Systems. Die Finanzkrise als Symp­tom dieses Systems bildet dafür lediglich ein geeignetes Setting.

Als ein zentrales Anliegen der audio­visuellen Argumen­tation darf daher das verkörperte Verstehen der Finanzpro­dukte angenommen werden. Anhand der im Folgenden analysierten Szene kann nachvollzogen werden, wie das Prinzip der CDOs, grundiert von einem komplexen Gefühl des ‚Inside‘, sowohl über das Funktionsprinzip des Jenga­turms als auch in der Meeresfrüchte-Eintopf-Metapher erlebbar gemacht wird. In einer Analyse der letz­ten Szene soll deutlich werden, wie das im ‚Inside‘ gewonnene Wis­sen in einem emoti­ona­len Schluss­appell zu einer entschiedenen Haltung dem Finanzsystem gegenüber ge­formt wird.


Teil der wissenden Gemeinschaft werden

In der Inszenierung des Finanzsektors greift der Film eine Wahr­nehmungserfahrung aus dem Alltag auf: die Dicho­tomie zwischen dem ‚Inside‘ der Finanzbranche und dem ‚Outside‘. Rana Foroohar iden­tifiziert in ihrem 2016 erschienenen Buch Makers and Takers die financia­liza­tion, einen im Vergleich zur Gesamtwirtschaft unverhältnismäßig großen und einflussrei­chen Finanzsektor, als Kernproblem der US-amerikanischen Wirtschaft und Grund für die Fi­nanz­krise 2008 (vgl. ebd.: 4–9).

Trotz des mit der financialization stetig wachsenden Einflusses der Finanz­branche auf die Gesell­schaft, werde diese – ebenso wie die Politik – durch einen Fokus auf Zahlen, kompli­zierte Risikokalkulationen sowie eine eigene Fachsprache gezielt aus der De­batte aus­ge­schlos­sen und so Reformen verhindert. Die Verwendung von „insider jargon to in­timidate and obfuscate“ (ebd.: 309) verursache ein Gefühl der Verunsicherung bei den ‚Outsider:innen‘. Es bleibe ein abge­schottetes System schwer durchschaubarer Fachbegriffe, nur von Exper­t:innen (‚In­sider:innen‘) zu ver­stehen, einzuschätzen und zu kontrollieren (vgl. ebd.). THE BIG SHORT schafft nun – wie nachfolgend gezeigt werden soll – ein Erleben in eben diesem ‚Inside‘, ein komplexes Gefühl des ‚Inside‘.


‚Inside the Doomsday Machine‘

Mark Baum und sein dreiköpfiges Trader-Team erfahren in der Szene Wrong Call Leading to a Big Deal (3) (0:25:59–0:37:24) nach einem fehlgeleiteten Telefon­an­ruf von Jared Venetts Vor­haben, gegen den Immobilienmarkt zu wetten. Bei einer an­schließen­den Präsentation versucht dieser, sie davon zu überzeugen, in den Handel einzu­steigen.

Die Szene lässt sich räumlich wie narrativ in vier Abschnitte unterteilen. Sie beginnt mit einem kurzen Auftakt auf der Straße. Mark steigt aus einem Taxi und eilt – während er halbherzig ein paar Sätze mit seiner Vorgesetzten austauscht – in ein Bürogebäude. Im Büro seines Hedgefonds angekommen, stellt ein Voice Over, gesprochen von Ryan Goslings Charakter Jared, Marks Team vor: drei erstklassige Trader, dem System gegenüber ähnlich misstrauisch eingestellt wie Mark. Ein Anruf der Deutschen Bank, der eigentlich einen anderen Hedgefonds mit gleichem Namen erreichen sollte, lässt sie aufhorchen. Irritiert vom Vorhaben des Anrufers gegen den Immobilienmarkt zu wetten und nach einem kurzen Blick auf die Entwicklung des entsprechenden Index, sitzen die vier wenig später in einem Konferenzraum mit Jared und dessen Assistent, der sich zuvor verwählt hatte.


(3) Der Szenentitel entstammt – wie auch alle folgenden – der Szeneneinteilung des Films, wie sie im Rahmen der Nachwuchsforschergruppe Affektrhetoriken des Audiovisuellen (AdA) vorgenommen wurde.

Es folgt das Kernstück der Szene: Jareds Präsentation rund um einen Jengaturm, der nicht nur das Funktionsprinzip einer CDO verkörpert, sondern letztlich auch den Zusammenbruch des Immobilienmarktes prophezeit. Jared sieht darin kein strukturelles Problem, sondern lediglich eine neue Einnahmequelle und so liegt sein Fokus vor allem darauf, die Trader davon zu überzeugen in den Deal einzusteigen, um seinen eigenen Profit weiter zu erhöhen. Zurück in ihrem Büro lassen Mark und sein Team das Gespräch mit Jared kurz Revue passieren. Nach wie vor skeptisch, wollen sie vor einem Investment einem womöglich maroden Immobilienmarkt zunächst selbst auf die Spur zu gehen. Anhand dieser Szene lässt sich exemplarisch darlegen, wie THE BIG SHORT den verkörperten Prozess des Verstehens von Finanzprodukten, des mit dem ‚Inside‘ assoziierten Wissens, über ein affektives Mittendrin-Sein sowie ein Gefühl der Authentizität und der Sympathie mit einem komplexen Gefühl des ‚Inside‘ verbindet.


Mitten im Geschehen

Bereits auf Ebene des Settings findet zu Beginn der Szene eine Verlagerung von draußen in die – beispielsweise aus Nachrichtensendungen meist nur in Außenaufnahmen bekannten – Wol­ken­kratzer der Banken, Hedgefonds und Ratingagenturen statt. Der Raumeindruck zieht sich von ver­gleichsweise weiten Einstel­lungen, angefangen mit einer Halbtotalen, in der Mark von Kopf bis Fuß zu sehen ist, über amerikanische beim Small Talk, zu überwiegend halbna­hen und nahen Einstellungen im Büro zusammen. Das ‚Inside‘ wird so audiovisuell über einen Eindruck von Nähe mit den abgegrenzten Innen- und Büroräumen verknüpft.

Abb. 1: Still aus THE BIG SHORT (Adam McKay, USA 2015), Min. 0:25:59.
Abb. 1: Still aus THE BIG SHORT (Adam McKay, USA 2015), Min. 0:25:59.

Abb. 2: Still aus THE BIG SHORT (Adam McKay, USA 2015), Min. 0:27:16.
Abb. 2: Still aus THE BIG SHORT (Adam McKay, USA 2015), Min. 0:27:16.

Der kurze Small Talk auf der Straße (0:25:59–0:26:21) ist vor allem über Farb- und Lichtge­staltung als filmi­sche Aus­nahme inszeniert. Die Bilder sind ver­gleichsweise hell und strahlend, das Gelb der Taxis domi­niert die Farbpalette vor einem leuchtenden, fast weiß wirkenden Grau des Asphalts (Abb. 1). Dagegen steht ein mattes, relativ mono­tones Farbspektrum aus Grau-, Blau-, Schwarz- und Weiß­tönen im Inneren des Büros. Blickt die Kamera in Richtung der Fenster, ver­schwindet die Außen­welt im hel­len Ge­gen­licht (Abb. 2). So besteht die Grenze zwischen ‚Inside‘ und ‚Outside‘ gewisserma­ßen fort, wird von den Zuschauenden jedoch von der anderen Seite aus wahrgenommen. Im Erleben der Zuschauenden wird in der Inszenierung des Raums, vor allem über den Eindruck von Nähe und Abgeschlossenheit nach außen, die affektive Qua­lität eines Mittendrin-Seins als Komponente eines komplexen Gefühls des ‚Inside‘ angelegt.

Die Verortung der Zuschauenden mitten im Geschehen ist für den weiteren Verlauf der Szene zentral. Die Vorstellung der Trader (0:26:21–0:28:49) setzt mit einem sehr intimen Ge­spräch ein, in dem Danny seinen beiden Kollegen von seinem stark vergrößerten Nebenhoden berichtet. In Verbindung mit den nahen Ein­stellungen, der geringen Tiefenschärfe, die die Umgebung um die Figuren visuell unwichtig werden lässt und der bewegten Anwesenheit der Kamera ergibt sich auch hier eine Figuration von Nähe, die als ein Gefühl zwischen Intimität und Offenheit beschrieben werden kann. Die Zuschau­enden werden in die Lage von Augenzeug:innen versetzt, während sich der Alltag der Trader, später die Aufregung nach dem Telefonat, direkt vor ihren Augen ent­faltet.

Auch die Ästhetik der Handkamera trägt wesentlich zur Figuration eines affektiven Mittendrin-Seins bei. Um die audiovisuelle Gestaltung des Films in ihrer Zeitlichkeit, in diesem Fall die Art der Kamerabewegung, besser nachvollziehen zu können, verwende ich die Open-Source Annotationssoftware Advene (Aubert / Prié 2005), die im Rahmen der Nachwuchsforschergruppe Affektrhetoriken des Audiovisuellen (AdA) als Werkzeug zur Filmanalyse eingesetzt und weiterentwickelt wurde. In den folgenden Analysen sollen ausgewählte Visualisierungen der zu THE BIG SHORT im Rahmen des Projektes erstellten Annotationen die Argumentation stützen. Zur Annotation wurde dabei ein ebenfalls in der Nachwuchsforschergruppe erarbeitetes systematisches Beschrei­bungsvokabular, die AdA Filmontology, genutzt (vgl. Agt-Rickauer et al.).

Abb. 3: Mit Advene generierte Visualisierung von ‚Camera Movement Type‘ (Kamerabewegung Typ) für die Szene Wrong Call Leading to a Big Deal.
Abb. 3: Mit Advene generierte Visualisierung von ‚Camera Movement Type‘ (Kamerabewegung Typ) für die Szene Wrong Call Leading to a Big Deal.

Der mit wenigen Ausnahmen durchgängig annotierte Wert ‚minimal‘ verweist auf eine stets wahrnehmbare, jedoch nicht orchestrierte oder gerichtete Bewegtheit in Abgrenzung zu einem statischen Zur-Welt-Sein (Abb. 3). In Verbindung mit dieser anhaltenden Bewegtheit sind viele kurze, ruckartige Zoom-Ins und Zoom-Outs, die meist kaum einen Unterschied von einer Einstel­lungsgröße ausmachen, festgehalten. Auch die Zooms lassen sich nicht als gerichtete Bewe­gung fassen, wie es beispielsweise in der Verdichtung des Bildes auf ein Detail oder der Wei­tung für einen Überblick der Fall wäre, sondern charakterisieren eine Kameraführung, die ob der Unvorhersehbarkeit der Situation spontan Bildausschnitt und Schärfe anpasst.

Obwohl sich die Figuren kaum im Raum bewegen, orientiert sich die Kamera im­mer wieder neu, verbindet die Gesprächspartner in der beinahe durchgehend als Schuss-Gegen­schuss-Montage inszenier­ten Szene über horizontale und vertikale Schwenks (‚pan‘ und ‚tilt‘), die oft gemeinsam in einer Bewegung auftreten (Abb. 3). In der Verbindung dieser vier Elemente ergibt sich eine starke, in gewis­sem Maße freie Bewegtheit, die das Erleben der Zuschauenden als affektives Mittendrin-Sein strukturiert.

Abb. 4: Still aus THE BIG SHORT (Adam McKay, USA 2015), Min. 0:31:18.
Abb. 4: Still aus THE BIG SHORT (Adam McKay, USA 2015), Min. 0:31:18.

Abb. 5: Still aus THE BIG SHORT (Adam McKay, USA 2015), Min. 0:31:18.
Abb. 5: Still aus THE BIG SHORT (Adam McKay, USA 2015), Min. 0:31:18.

Abb. 6: Mit Advene generierte Visualisierung von ‚Field Size‘ (Einstellungsgröße), ‚Camera Angle‘ (Kameraperspektive) und ‚Montage Figure Macro‘ (Montagefigur Makro) für die Szene Wrong Call Leading to a Big Deal.
Abb. 6: Mit Advene generierte Visualisierung von ‚Field Size‘ (Einstellungsgröße), ‚Camera Angle‘ (Kameraperspektive) und ‚Montage Figure Macro‘ (Montagefigur Makro) für die Szene Wrong Call Leading to a Big Deal.

Die Kamerabewegun­gen und Bild­ausschnitte orien­tieren sich an der sprechenden Figur oder derjeni­gen, deren Re­aktion am interessantesten wäre, fast so, als würde die Kamera angesichts der ra­santen Dialoge im Fach­jargon Halt und Orientierung suchen. Dabei bleibt sie in halbnahen bis nahen Einstellungen stets dicht an den Pro­tagonisten (Abb. 4–5). Auf eine Totale, die einen Überblick über das Büro oder den Konferenzraum bieten würde, wird verzichtet. Die wenigen amerikanischen Ein­stellungen die­nen lediglich dazu, die räumliche Opposition von Jared und Mark während der Präsentation klarzustellen (Abb. 6, ‚Field Size‘).

Auch die Per­spektive der Kamera orientiert sich an den Per­so­nen. Die meiste Zeit bleibt die Kamera unge­fähr auf Au­genhöhe mit den Protagonisten, ent­spre­chend der Gesprächs­situation im Schuss-Gegenschuss sind Einstellungen auf Jared, ste­hend, oft etwas untersichtig, Perspekti­ven auf Mark und sein Team im Sitzen etwas aufsich­tig (Abb. 6, ‚Camera Angle‘ und ‚Montage Figure Macro‘). All diese Ele­mente gestalten ein Erle­ben des Raums von innen heraus und bieten im Fokus auf die Figuren zugleich einen audiovisuellen Anker der Orientierung. So weicht auch die akustische Belebtheit der Arbeitsatmosphäre aus klingelnden Telefonen und Tippgeräuschen während der Präsentation einer Stille, die Jareds Vortrag ins Zentrum rückt.

Abb. 7: Mit Advene generierte Visualisierung der Einstellungen (‚Shot‘) der Szene Wrong Call leading to a big Deal, wobei Höhe, Breite und Farbe der Säulen die Einstellungslänge anzeigen.
Abb. 7: Mit Advene generierte Visualisierung der Einstellungen (‚Shot‘) der Szene Wrong Call leading to a big Deal, wobei Höhe, Breite und Farbe der Säulen die Einstellungslänge anzeigen.

Der vierte Abschnitt der Szene (der Nachklang des Gesprächs) ist in dieser Darstellung ausgenommen und wird an späterer Stelle gesondert thematisiert.

Der relativ schnelle Schnittrhythmus – in der ge­samten Szene, den Nachklang ausgenommen, dauert eine Einstellung durchschnittlich vier Se­kunden (Abb. 7) – in Verbindung mit der sehr bewegten Kamera – häu­fige, schnelle Schwenks, zahlreiche Zooms, verzögerte Schärfe so­wie ein kon­stan­tes Bewegt-Sein der Ka­mera – verortet die Zuschauenden inmitten der hektischen Aufge­regtheit. Dieses Zusammenspiel von Nähe, Belebtheit und einem bewegten Zur-Welt-Sein in der Erfahrung der Zuschauenden lässt sich als affektives Mit­tendrin-Sein beschreiben, durch das sich ein komplexes Gefühl des ‚Inside‘ entfaltet.

Die besondere Ästhetik der Handkamera, die nicht nur diese Szene, sondern weite Teile des Films dominiert, verortet aber nicht nur die Zuschauenden mitten im Geschehen, sondern ge­staltet über die Erfahrung von Unmittelbarkeit und Unvorhersehbarkeit auch ein Gefühl der Au­thentizität. Eine Annäherung an dieses Gefühl soll zunächst theoretisch über die dokumentarische Kamerageste, wie sie in den Überlegungen Harun Farockis angelegt ist, erfolgen.


Dokumentarische Kameragesten und das Gefühl der Authentizität

In einem unvollendeten Text Über das Dokumentarische, der auf Harun Farockis Computer entdeckt und posthum veröffentlicht wurde, setzt sich der Filmemacher mit der Unterscheidung zwischen dokumentarischem und fiktionalem Film auseinander, einer Differenzierung, die sich in ihrer Herleitung in vielen Auseinandersetzungen als problematisch erweist (vgl. zum Beispiel Tröhler 2006: 155–156 oder Odin 1998: 286), und auch bei Farocki (2015: 11) abgelöst wird von dem „was dem Film selbst für dokumentarisch oder nicht-dokumen­tarisch gilt.“ Die Trennung vollzieht sich demnach nicht in der Herstellung, sondern in dem, was die Zuschauenden als dokumentarisch erleben.

Für seine vor allem aus der Perspektive der Filmproduktion verfassten Überlegungen greift Farocki als argumentative Brücke den­noch auf eine ‚klassische‘ Trennung von Spielfilm als dem Reich der Kontrolle und Do­kumentar­film als dem Bereich der Kontingenz zurück, wenn er schreibt: „Die Kamera im Spielfilm – im klas­si­schen Spielfilm – antizipiert. Die Kamera im Dokumentarfilm verfolgt“ (ebd.: 13). Dass diese Tren­nung eine fiktive ist, wird bereits am Einschub deutlich. Vielmehr steht eine durch be­stimmte Effekte von den Zuschauenden antizipierte Art der Herstellung im Fokus, die sich in der Äs­thetik wie­derfinden lasse.

Als „dokumentarische[…] Gesten“, wie sie Volker Panten­burg (2015: 25) in seiner Aus­einandersetzung mit dem Text nennt, identifiziert Farocki (2015: 18) neben Störgeräu­schen oder einem verspäteten Ton, eine „ruckelnde Kamera, Schärfe­nachstel­len“, „schwen­kend oder zoomend den Bildausschnitt [zu] korrigieren“ (ebd.: 14), Reaktionen einer Kamera, die die Gescheh­nisse nicht vollständig vorausahnen könne, sondern ihnen im Gesche­hen folgen müsse – eine Beschrei­bung, die der Kameraästhetik, wie sie für die obige Szene charakterisiert wurde, genau entspricht. Diese „dokumen­tarische[n] Stilelemente“ (ebd.) findet Farocki in Werbespots, Nachrich­tensendun­gen und Spielfil­men, in denen sich die Kamera über Bewegungen bemerkbar mache, wofür er „kei­nen prak­tischen Grund und nur einen rhetorischen“ (ebd.: 12; vgl. zudem ebd.: 11–18) sieht.

In THE BIG SHORT entsteht so eine Rhe­torik des Dokumentierens, die die filmischen Bewegungsbilder in einer Unmittelbarkeit und Unvorhersehbarkeit erfahrbar werden lässt und darüber ein Gefühl der Au­thentizität figuriert. Oder wie Farocki schreibt: „Wir machen nicht Bilder, wir nehmen sie“ (ebd.: 15). Dieser Eindruck unverfälschter, authentischer Bilder und Töne kann nicht in einer Produk­tionssituation vorgefunden werden, sondern ist, wie Farocki deutlich macht, etwas genuin Filmisches.

In einem neo-phänomenologischen Verständnis von Filmerfahrung lässt sich das Gefühl der Authentizität damit als körperlich-affektive Erfahrung von Unmittelbarkeit und Un­vorhersehbarkeit fassen, das entscheidend über die Ästhetik der Handkamera strukturiert wird. Somit lässt sich das Gefühl der Authentizität neben der Erfahrung des Mittendrin-Seins als wei­tere Komponente eines komplexen Gefühls des ‚Inside‘ beschreiben. Um allerdings das rhetorische Ziel eines „komplexen Gefühls des Einverständnisses“ (Grotkopp 2017: 273) zu er­reichen, bedarf es nach Matthias Grotkopp einer „sanfte[n], andauernde[n] Affekt-Brücke zwi­schen Film und Zuschau­ern“ (ebd.: 290), eines grundlegenden Gefühls der Sympathie in der Filmerfah­rung, das im Folgenden in der vorliegenden Szene nachvollzogen werden soll.


Die „Affekt-Brücke“ und das Gefühl der Sympathie

Nach der Auffassung von Grotkopp lässt sich dieser sanfte, kontinuierliche Affekt „auf Seiten der Zu­schauer als ein gefühltes Wohlgefallen“ (ebd.) beschreiben, das „durch eine Wertung von ‚Ehrlich­keit‘ entsteht“ (ebd.), beispielsweise, wie im Fall von THE BIG SHORT, durch den offe­nen Umgang mit der eigenen Rhetorizität. Das selbst­refle­xive Potential in Momenten direk­ter Pub­likums­an­sprache mit Blick in die Kamera wird hier in zwei­facher Weise genutzt. Einerseits stellt die­ses Vorgehen den Film selbst als Inszenierung aus, was an sich schon als ehrlicher Moment gewer­tet werden kann, andererseits wird der Blick in die Kamera an einigen Stellen dazu ge­nutzt, die Narration und auch den Film als solchen (4) zusätzlich auf sprachlicher Ebene direkt zu adressie­ren, um einzelne Si­tua­tionen oder gar eine ganze Szene als ‚erfunden‘ zu kennzeich­nen – nicht ohne den vermeint­lich ‚wahren‘ Ab­lauf in der diegetischen respektive refe­ren­zierten Welt in der Erklärung anzuschließen.




(4) Jamie stellt so beispielsweise an die Zuschauenden gewandt klar, dass die ‚wahre Begebenheit‘, wie Charlie und er von der Immobilienblase erfahren haben, eine andere als die im Film inszenierte sei (0:39:54–0:40:48).

Ein Beispiel: Jared nutzt den Ma­thematiker Jiang auf extrem ras­sistische Art als Begründung für die Kor­rektheit seiner Berech­nungen: “His name’s Yang. He won a national math compe­ti­tion in China. He doesn’t even speak English.” Darauf wendet sich Jiang an die Zuschau­en­den und stellt richtig: “Actually, my name is Jiang and I do speak Eng­lish. Jared likes to say I don’t because he thinks it makes me seem more authentic. And I got second in that national math competi­tion.” (Abb. 8–9) Diese Auf­lös­ung legt nicht nur Jareds Argumentationsstruk­tur offen, die auf einem Klischee in Ver­bin­dung mit einer aggres­siven An­sprache beruht, son­dern macht Authentizität als Konstrukt ex­plizit.

Noch entscheiden­der ist, dass den Zuschau­en­den in diesem Moment suggeriert wird, dies seien die einzigen Fak­ten in dieser Begegnung, die es zu be­rich­tigen bedarf. Warum eine Lüge, deren einen niemand be­zichtigt hat, aufklären, um direkt da­nach eine neue zu erfinden? Dieser offene Umgang mit Inszenierung, sowohl die Die­gese als auch den referentiellen Bezug des Films betreffend, be­stärkt einen Eindruck von Ehrlichkeit.

Abb. 8: Stills aus THE BIG SHORT (Adam McKay, USA 2015), Min. 0:31:42.
Abb. 8: Stills aus THE BIG SHORT (Adam McKay, USA 2015), Min. 0:31:42.

Abb. 9: Stills aus THE BIG SHORT (Adam McKay, USA 2015), Min. 0:31:55.
Abb. 9: Stills aus THE BIG SHORT (Adam McKay, USA 2015), Min. 0:31:55.

Der Film unterläuft in diesem Moment außerdem die Auto­rität von Jared als Erzähler. So wird deutlich, dass die Ehrlichkeit des Films nicht an seine Figur oder Erzählerposition geknüpft ist. Der Film distanziert sich somit selbst vom theoreti­schen Fehlschluss einer Identifi­zierung von diegetischem Erzähler und Rhetor. Die inhärente Komik dieser Richtigstellung ist zudem nur ein Beispiel für die humoristischen Elemente, die entscheidend zu einem durchgehenden Gefühl der Sympathie in und gegenüber der Erfahrung der Zuschauenden beitragen. Die Präsentation aber auch die Gespräche der Trader untereinander sind gespickt mit verbalen Spitzen und zynischen Kom­men­taren. Besonders sticht die ironische Einblendung einer Abbil­dung zu Dannys Epididymis, akzentuiert von einem ‚Pling‘ hervor, die diesen inhaltlich irrelevanten Moment un­proportional heraushebt.

Die sanfte, kontinuierliche Affizierung der Zuschauenden – in dieser Szene über Ehrlichkeit und Humor –, die sich als grundlegendes Gefühl von Sympathie und Wohlgefallen charakteri­sieren lässt, strukturiert eine weitere Facette des komplexen Gefühls des ‚Inside‘. In Verbindung mit der Verortung der Zuschauenden mittendrin und dem Ge­fühl der Authentizität grundiert dieses Ge­fühl der Sympathie das verkörperte Verstehen der Ursprünge der Finanzkrise, das im Folgenden als finale Komponente des komplexen Gefühls des ‚Inside‘ nachvollzogen werden soll und die Grundlage liefert, eben diese Trennung in ‚Inside‘ und ‚Outside‘ unmöglich zu machen.


Verkörpertes Verstehen: Der Jengaturm

Im Fokus der Präsentation von Jared (0:28:49–0:35:59) steht ein Jengaturm, der zunächst unter einem Karton mit Logo und Namen der Deutschen Bank verborgen ist – und somit, wenn man möchte, bereits vorwegnimmt, was im Inneren der Bank vorgeht, wie fragil ihre Struktur auf­gebaut ist. Noch einen Schritt weitergedacht, ist in der Logik eines Jengaturms be­reits das Spiel mit einer sich bildenden Blase angelegt. Bei einem Turm, dem der Zusammenbruch bereits eingeschrieben ist, geht es nicht um die Frage, ob er einstürzt, sondern darum, das Heraus­nehmen wie vieler Bausteine respektive den Ausfall wie vieler Wertpapiere er bis dahin ver­kraften kann.


Clip 1: THE BIG SHORT (Adam McKay, USA 2015), Min. 0:29:56–0:31:13.

Dem Jengaturm werden im Laufe der Szene mehrere Entsprechungen zugeordnet, die einzelne Eigenschaften des Turms in den Fokus des Verstehens rücken. Zunächst steht der Turm für das Funktionsprinzip der mortgage bonds, zu großen Zahlen gebündelter Hypothekenanleihen. Im Gegensatz zu den ursprünglichen mortgage bonds, bestehend aus tausenden, exzellent bewer­teten Hypotheken und damit sehr ausfallsicher, seien die modernen mortgage bonds privat, un­durch­sichtig und zu­sammengesetzt aus sogenannten tranches, in der Turm-Entsprechung ein­zelnen Bausteinen.

Die Definition einer tranche wird inszenatorisch stark herausgehoben. Schlagartig verwandelt sich die stark bewegte, unruhige Handkamera in eine ruhige, kontrol­lierte Fahrt nach unten, den Jengaturm entlang. An der Erklärung hat die nach Orientie­rung suchende Kamera Halt gefunden. Dazu setzt ein Funkinstrumental mit dominan­tem Bass und Schlagzeug ein, unterlegt mit atmosphärischen E-Gitarren-Klängen. Zeitgleich erklärt eine Texteinblendung: “A tranche is a French word meaning ‘a portion of something.’” Kurz und simpel, dieses Wissen bietet inszenatorisch Sicherheit. Zugleich wird eine elementare Eigen­schaft des Turms akzentuiert: er besteht aus einzelnen Bestandteilen und ist keinesfalls der stabile, massive Block, den man noch hinter dem Karton vermuten konnte. Dennoch bleibt die Definition, ohne die ‚portion‘ zu kennen, ohne Aussage. Dieses Nicht-Wissen ist Teil der Er­klärung, denn ‚portion‘ kann damit alles, auch eine extrem unsichere Hypothek meinen.

Die einzelnen Steine aus dem Turm, die Jared nun in den Müll­ei­mer schleudert, repräsentieren mög­liche Aus­fallgründe einer solchen risikoreichen Hypo­thek und damit letztendlich den Grund für den Zu­sammenbruch des Turms respektive das Platzen der Blase: ein schlechter fico score – vergleich­bar mit der in Deutschland üblichen Schufa-Auskunft – kein nachweisbares Einkom­men, fle­xible Ra­ten. In den einzelnen in den Müll geworfenen Bau­steinen wird der spätere Einsturz des Turms im Kleinen vorweggenommen. Als kleine, schlagartige Entladung der vor­her in der ste­ti­gen Anspannung des Mittendrin-Seins aufge­bauten Energie akzentuiert das ex­plo­sive, klap­pernde Geräusch der im Mülleimer landenden Klötzchen diese Momente und ver­knüpft sie af­fektiv mit dem Wort ‚dog shit‘ auf sprachlicher Ebene, das später, ebenfalls ver­bunden mit einer ex­plosiven akustischen Geste, wieder aufgegriffen wird. Generell ist der Ein­satz von Musik so­wie einzelnen distinkten Geräuschen in dieser Szene sehr spärlich und hebt die dezidiert erklä­renden Momente, die musikalisch untermalt sind, umso mehr hervor.


Clip 2: THE BIG SHORT (Adam McKay, USA 2015), Min. 0:33:16–0:33:57.

Zu risikoreiche Hypotheken in einem mortgage bond wären eigentlich illegal, wirft Danny ein. Hier kommt die zweite Entsprechung des Jengaturms als Collateralized Debt Obligation, kurz CDO, einer Bündelung von nicht verkäuflichen und/oder zu risikoreichen Hypotheken, ins Spiel. Die Erwähnung der CDOs auf sprachlicher Ebene wird von einem Akzent sowohl auf der Bild- als auch auf der Tonebene begleitet. Das Aussprechen der drei Buchstaben ist je mit einem schreib­ma­schinenähnlichen Klackgeräusch unterlegt. Zeitgleich erscheint in der rechten unteren Ecke die Texteinblendung ‚C·D·O‘, darunter die ausgeschriebene Form des Akronyms ‚Collateralized Debt Obligation‘, begleitet von einem stark beschleunigten Schreibmaschi­nen­klackern.

Abb. 10: Still aus THE BIG SHORT (Adam McKay, USA 2015), Min. 0:33:33.
Abb. 10: Still aus THE BIG SHORT (Adam McKay, USA 2015), Min. 0:33:33.

Auf Bildebene wird der Begriff mit den zum Teil gestapelten, zum Großteil verstreut auf dem Tisch liegenden Bausteinen assoziiert. Komposition, Schrift­design und -anordnung sowie der schriftliche Zusatz ‚abbr.‘ für Abkürzung erinnern an einen Lexikoneintrag – die basalste der Definitionsformen und damit ein erneuter audiovisueller Ankerpunkt des Wissens (Abb. 10). Hiermit ein­her geht die zweite Eigenschaft des Turms: niemand kennt jeden Baustein, in ihrer Funktion als Turm werden die Einzelteile quasi unsichtbar. Niemand weiß, woraus die CDOs zusam­menge­setzt sind.

Bezeichnenderweise ist nicht zu sehen, wie aus kleineren Häufchen ein CDO-Turm ent­steht. Nach den verstreuten Steinen ist kurz der Deutschen-Bank-Karton zu se­hen. Als kur­zes, helles Aufblitzen unterlegt mit einem klicken­den Ge­räusch erinnert dieser audiovisuelle Ge­dankenblitz an die Verknüpfung von Deutscher Bank und Jengaturm. Auf sprachlicher Ebene wird er in diesem Moment als ‚considered diversified‘ gelabelt, was so viel bedeutet wie: die Hypotheken sind so verschieden, dass ein gleichzeitiger Ausfall vieler un­wahrscheinlich scheint. Der Moment, in dem der Jengaturm im Bankenalltag wieder unter dem Karton ver­schwinden würde und niemand wüsste, was sich unter ihm ver­birgt.

Die dritte Eigenschaft des Turms wird mit dem Zusammenbruch des US-amerikanischen Im­mobilienmarktes verknüpft. Auch wenn viele Bausteine zuerst noch sicher stehen, reicht das Fehlen einiger, um den gesamten Turm zum Einstürzen zu bringen. Visuell wird dieser unaus­weichliche Zusammenbruch immer präsenter. Ist der Fall des ersten Turms weder zu hören noch zu sehen – die Bausteine liegen von einer auf die andere Einstellung über den Tisch verteilt – sind beim zweiten Turm zumindest Jareds Bewegung, die den Turm vom Tisch fegt, und einige flie­gende Steine, gekoppelt an das laute Krachen in den Mülleimer, zu sehen. Beim letz­ten Turm ist deutlich zu beobachten wie einzelne Bausteine entnommen werden, der Turm kippt und – angekündigt vom Klappern einzelner Steine – sich krachend über den Tisch verteilt. Die aufgebaute Spannung wird sich zwangsläufig in einem großen Knall entladen (5). Im wiederhol­ten Erleben des Prinzips des Turms wird das auch körperlich immer unausweichlicher.

Die Abschnitte zwischen diesen erklärenden Momenten dienen dem Aufbau einer angespann­ten Atmosphäre. Die oben dargelegten Inszenierungsmuster der gesamten Szene – bewegte Ka­mera, schneller Schnittrhythmus, nahe Einstellungen auf Gesichter – werden während der Prä­sen­tation durch die Opposition der beiden Gruppen noch intensiviert. Das Ge­spräch gleicht an vielen Stellen einem verbalen Schlagabtausch, unterstützt vom aggressiven Schau­spiel vor al­lem Ryan Goslings, der hohen Sprechgeschwindigkeit und Lautstärke. So ergibt sich ein Bild aufgeregter Anspannung. Abgewechselt mit der klaren und exponierten Insze­nierung der Erklärungen, den audiovisuellen Ankern der Orientierung, wird daraus das Gefühl, etwas auf der Spur zu sein, langsam zu ver­stehen, eine angespannte Neugierde.






(5) Das Funktionsprinzip des Turms lässt sich auch mit dem Modus des Suspense beschreiben, wie ihn Hauke Lehmann in seiner Dissertation darlegt. Auch wenn der Turm räumlich betrachtet noch steht, befindet er sich doch in einer Art Schwebezustand, der „bereits insofern die Dimensionen Zeit und Bewegung mit ins Spiel bringt, als es sich erkennbar um einen labilen Zustand handelt, der einer gewissen Dynamik ausgesetzt ist“ und in diesem Fall im Einsturz enden wird (Lehmann 2017: 65).

Die Abschnitte zwischen diesen erklärenden Momenten dienen dem Aufbau einer angespann­ten Atmosphäre. Die oben dargelegten Inszenierungsmuster der gesamten Szene – bewegte Ka­mera, schneller Schnittrhythmus, nahe Einstellungen auf Gesichter – werden während der Prä­sen­tation durch die Opposition der beiden Gruppen noch intensiviert. Das Ge­spräch gleicht an vielen Stellen einem verbalen Schlagabtausch, unterstützt vom aggressiven Schau­spiel vor al­lem Ryan Goslings, der hohen Sprechgeschwindigkeit und Lautstärke. So ergibt sich ein Bild aufgeregter Anspannung. Abgewechselt mit der klaren und exponierten Insze­nierung der Erklärungen, den audiovisuellen Ankern der Orientierung, wird daraus das Gefühl, etwas auf der Spur zu sein, langsam zu ver­stehen, eine angespannte Neugierde.

Abb. 11: Mit Advene generierte Visualisierung der Einstellungen (‚Shot‘) der Szene Wrong Call leading to a big Deal, wobei Höhe, Breite und Farbe der Säulen die Einstellungslänge anzeigen.
Abb. 11: Mit Advene generierte Visualisierung der Einstellungen (‚Shot‘) der Szene Wrong Call leading to a big Deal, wobei Höhe, Breite und Farbe der Säulen die Einstellungslänge anzeigen.

Neben den letzten Einstellungen der Szene stechen zwei weitere durch ihre Länge heraus. So wird zum einen der ersten Einstellung in Marks Büro und damit der Einführung dieses neuen Raums sowie der damit asso­ziierten Figuren und zum anderen der Einführung des Jengaturms, der für den Verste­hensprozess zentral ist, vergleichsweise viel Zeit gewidmet.

In einer deutlichen Entschleunigung des Schnittrhythmus von durchschnittlich vier Sekunden auf 10,5 Sekunden pro Einstellung (Abb. 11) und einer Weitung des Bildraums klingt die Szene bei einer kurzen Besprechung von Marks Team (0:35:59–0:37:24) aus, ein Moment, in dem sich das soeben neu erlangte Wissen setzen kann. Die Spannung einer sich aufbauenden Blase und die Aufregung, mehr zu wissen als Banken, Ratingagenturen und sogar die Regierung sehen wol­len, soll in den Plan fließen, dies durch eigene Recherchen zu belegen.

Um das System Finanzbranche und seine inhärenten, strukturellen Probleme verständlich zu machen, konzentriert sich der Film auf die Erklärung und Erfahrbarmachung weniger Finanz­produkte – in dieser Szene den Collateralized Debt Obligations, den CDOs – anstelle etwa einer Chronologie der Ereignisse, die zur Finanzkrise geführt haben. Die Struktur des Films setzt dabei, wie Jareds Präsentation (0:28:49–0:35:59), stark auf die Wiederho­lung der immer glei­chen Funktionsmechanismen und Argumente, die sich in dieser Szene um den wiederholten Einsturz des Jengaturms drehen.

Das zugrundeliegende Prinzip wird be­reits in der ersten Szene des Films etabliert, mit einem Finanzprodukt, das die Branche in den 1970er Jahren aus ihrer schläfrigen Zeitlupe reißt und eine unfassbare Beschleunigung er­fahren lässt – finan­ziell wie in Bewe­gungsbildern (0:01:18–0:03:43). Das Vorgehen, Hypo­theken un­ter der Annahme, dass diese stets extrem ausfallsicher seien, zur Erzielung höherer Gewinne zu bün­deln, bleibt bis zu den CDOs erhalten. Das Problem: Extrem aus­fallsi­chere Hypotheken sind endlich. Mit risiko­reicheren Hypotheken lässt sich zudem mehr Geld ver­dienen. Sicherheit und Profit, zwei Stell­schrauben, die nicht zusammen in die gleiche Richtung ge­dreht werden können – ohne eine Blase zu provozieren.

Diese simple Formel ist zugegebe­ner­maßen stark vereinfacht, „[b]ut when it comes to finance, as in so many things, complexity is the enemy“, so Rana Foroohars (2016: 25) Ansatz. In der Reduzierung von Komplexität im körperlichen Verstehen reißt der Film die in der Fach­sprache aufgebaute Mauer zwischen ‚Inside‘ und ‚Outside‘ ein. Das Ziel ist dabei nicht, die Ursachen für die Finanzkrise zu verkürzen, sondern deutlich werden zu lassen, wie grund­sätzlich und am Ende doch einfach der Fehler im System ist. Das darauf auf­bauende Ar­gument einer notwendi­gen Reform des Finanzsektors ergibt sich so gewissermaßen von selbst.

Die obige Analyse hat nun gezeigt, wie ‚Insiderwissen‘ für die Zuschauenden erfahrbar und so verständlich gemacht wird, während sich durch diesen Verstehensprozess zugleich ein komplexes Gefühl des ‚In­side‘ entfaltet. Ein Erkenntnisgewinn, neu erlangte Informationen allein wären, wie in der theoretischen Herleitung der Affektrhetorik dargelegt, keine Basis für ein „komplexe[s] Gefühl[…] des Einverständnisses“ (Grotkopp 2017: 273). Entscheidend ist eine gefühlte Übereinstimmung, ein Kon­sens, der in der Filmerfahrung der Zuschauenden entsteht und in diesem Fall über ein af­fektives Mit­tendrin-Sein, ein Gefühl von Authentizität sowie ein Gefühl von Sympathie zu ei­nem kom­ple­xen Gefühl des ‚Inside‘ geformt wird. So wird eine „Plattform der Gemeinsam­keit“ (ebd.: 261) geschaf­fen, die die Zuschauenden sich als Teil der wissenden Gemeinschaft fühlen lässt.

Bevor diese erlebte Zugehörigkeit nachfolgend zur Grundlage für ein moralisches Gefühl der Empörung wird, soll zunächst noch auf eine spezifische Form verkörperten Verstehens eingegangen werden, den Einsatz von Metaphern. Auch der vorhergehenden Analyse zu einem komplexen Gefühl des ‚Inside‘ liegt bereits eine Metapher zugrunde, die Wissen und Gruppenzugehörigkeit über eine räumliche Konfiguration erfahrbar macht, indem sie das zuvor abgeschottete Innen für das Außen zugänglich macht. Um nun eingehender zu zeigen, wie Metaphern über die Verwen­dung als sprachliches Stilmittel hinaus in filmischen Bewegungsbildern gestaltet werden, um komplexe Zusammenhänge erlebbar wer­den zu lassen, wird im Folgenden kurz das Konzept der Cinematic Metaphor dargelegt, um anschließend das in die analysierte Szene ein­gebettete, bisher aber ausgesparte Segment der CDO-Meeres­früchte-Eintopf-Metapher zu un­tersuchen.


Der CDO-Eintopf als Cinematic Metaphor

Eine Näherung an die Bedeutungskonstruktion durch Film und damit auch die Ver­mittlung von Wissen bilden Metaphern. Dabei liegt dem Konzept der Cinematic Metaphor das bereits zu Beginn ausgeführte theoretische Verständnis von audiovi­suellen Bildern als filmischen Bewe­gungsbildern zu­grunde, welches sich abgrenzt von der Idee le­diglich Inhalt und Narration re­präsentierender Bewegt­bilder (vgl. dazu Müller / Kappelhoff 2018). Damit distanziert sich die Cine­matic Metaphor von einer in den Medienwissenschaften durchaus ak­tuellen Idee der Metapher als statischer bedeutungsge­bender Einheit und verlagert die Bedeu­tungsgenerie­rung auf die Ebene der Zuschauen­den (vgl. dazu Schmitt 2020).

Der Begriff des Bewe­gungsbildes trage da­bei dem spezifi­schen „media-character of audiovi­sual images“ (Greifenstein et al. 2018: 1) Rechnung und beziehe sich auf den „specific mode of perception that unfolds temporally and experien­tially along viewers’ process of film-viewing“ (ebd.: 2). Dieser dyna­mischen Erfahrung filmischer Ex­pressivität wohne stets eine affek­tive Qualität inne, die jede Bedeu­tungs­kon­struktion grundiere. In dieser Beschrei­bung eines Wahrnehmungsmodus für alle For­men audiovisueller Bilder liegen bereits die drei grundlegenden Eigenschaften der Cinematic Metaphor: Erfah­rung, Affektivität und Zeitlich­keit (vgl. ebd.: 1–5).

Wie bereits im Konzept des Embodiments nach Vivian Sobchack beschrieben, wird der Film als Erfahrung eines vom Zuschauer/der Zuschauerin getrennten Subjekts durch die Expressivität des fil­mischen Bewegungs­bil­des zur eigenen körperlichen Er­fahrung und bleibt dennoch wahrnehm­bar einer anderen Sub­jektivität zugehörig. Diese De­finition von filmischer Erfahrung als „in­tersubjective, re­fle­xive, and dynamic interaction“ (ebd.: 4) könne selbst als metaphorischer Prozess im Sinne George La­koffs und Mark Johnsons (1980: 5, Hervorh. im Original) bezeichnet werden, die eine Metapher als „under­standing and expe­riencing one kind of thing in terms of another“ definieren.

Das als Interak­tion cha­rakte­risierte Verhält­nis von Zuschauer:in und Film widerstrebt dabei jedem Konzept der Zu­schau­enden als passiven Empfänger:innen, die von Sender:innen intendierte Bot­schaften de­kodieren, son­dern sieht aktive Zuschauende durch einen verkörperten Pro­zess in der Rezeption Be­deutung kon­struieren. Dieses An­eignen audiovisueller Bilder als Form der Herstellung auf Sei­ten der Zuschauenden nennt Hermann Kappelhoff (2018: 11) die „Poiesis des Filme-Se­hens.“ Dieses ‚doing‘ von Metaphern (vgl. Greifenstein et al. 2018: 6) als Prozess der Bedeutungskonstruktion in ei­ner kon­kreten Er­fahrungs­situation stelle sich so jeglichem Verständnis von Metaphern als Instanzierungen be­reits beste­hender universaler kognitiver Schemata entgegen. Das Ge­genteil sei der Fall, Meta­phern „de­velop, form, model, and transform the con­cep­tual systems that con­sti­tute our reality and create a com­monly shared scope of different experi­ential perspec­tives“ (ebd.: 4).

Die Af­fektivität als zweite Eigen­schaft schließt direkt hieran an und lasse sich eben­falls aus dem Zu­sammen­spiel der Kon­zepte des Embodiments sowie der Ausdrucksbewe­gung be­grün­den. Die expressive Bewe­gungs­quali­tät audiovisueller Bilder werde durch das kör­perli­che Er­leben von Bewegung von den Zu­schau­enden als Bewegt-Sein empfunden. Das ‚doing‘ einer Metapher lasse sich so­mit als affek­tive Erfahrung beschreiben und ergebe sich nicht aus dem repräsentierten In­halt.

Das Entfalten einer Metapher sei, drittens, an die spezifi­sche Zeit­lichkeit filmischer Bewe­gungs­bilder gebun­den, das bedeute an das körperliche Erle­ben der dy­nami­schen Ent­faltung einer audiovisuellen Kom­position. „[A]s temporal process un­folding on dif­ferent layers and different time scales, con­stantly changing along the procedural experi­ence of film-viewing“ (ebd.: 7), könne diese prozess­hafte Bedeutungskonstruktion Metaphern und me­ta­phorische Themen sowohl auf der Mikro-, Meso- und Makroebene eines audiovisuel­len Me­di­ums be­deuten (vgl. ebd.: 1–7).

Als Beispiel auf der Mikroebene soll die CDO-Meeresfrüchte-Eintopf-Metapher, eingebettet in die oben analysierte Szene, dienen. Der TV-Koch Anthony Bourdain erklärt in diesem kurzen Einschub (0:34:09–0:34:54) das einer CDO zugrundeliegende Prin­zip, schwer verkäufliche Wertpapiere zu bündeln, am Beispiel eines Meeres­früchte-Eintopfs, in dem der übrig geblie­bene Fisch der letzten Tage doch noch den Weg auf den Teller findet. In beiden Fällen werden un­verkaufte Produkte die Komponenten eines neuen, das sich als Summe besser ver­kauft als in einzelnen Teilen. Diese Analogie auf Sprachebene wird nun nicht nur audiovisuell ausge­führt, sondern lässt das Prinzip einer CDO in einer Cinematic Metaphor körperlich er­fahrbar werden und liefert damit die Basis für eine Bedeutung über ein sprachli­ches Stilmittel hinaus.


Clip 3: THE BIG SHORT (Adam McKay, USA 2015), Min. 0:33:57–0:35:08.

Bourdain ist in einer Restaurantküche zu sehen, während er mit direktem Blick in die Kamera das Prinzip einer CDO erklärt. Unterbrochen werden seine Ausführungen be­sonders am Anfang von Aufnahmen der Zutaten für den Eintopf (Abb. 14, orange hinterlegt). Auf eine nähere Einstellung des Kochs, die erste des Einschubs, folgen zehn Nah- und Großaufnahmen von Zutaten extrem schnell geschnitten aufeinander (Abb. 14, ‚Shot‘, erste orange hinterlegte Fläche von links). Die Zutaten sind meist nicht einmal eine Se­kunde lang zu se­hen (im Durch­schnitt stehen die Ein­stellungen 0,7 Sekunden). Den Bildinhalt wirklich wahrzu­nehmen ist, ohne den Film anzuhalten, kaum möglich. Sie erscheinen als ein­zelne zerstückelte Eindrücke, ein Aufblitzen, was an zwei Stellen durch Weißblitze noch ver­stärkt wird. In vielen Fällen ist der direkte Blick auf die Zutaten zudem durch die Bildkom­po­sition verstellt (Abb. 12–13). Auch die Kameraführung bleibt, sofern die Zutaten und der Kochvorgang gezeigt werden, bei der bewegten Ästhetik der Handkamera (Abb. 14, ‚Camera Movement Type‘, orange hinterlegt).

Abb. 12: Stills aus THE BIG SHORT (Adam McKay, USA 2015), Min. 0:34:11.
Abb. 12: Stills aus THE BIG SHORT (Adam McKay, USA 2015), Min. 0:34:11.

Abb. 13: Stills aus THE BIG SHORT (Adam McKay, USA 2015), Min. 0:34:12.
Abb. 13: Stills aus THE BIG SHORT (Adam McKay, USA 2015), Min. 0:34:12.

Deutliche akustische Gesten auf der Geräuschebene intensivieren den Eindruck von Durch­einander und Bewegtheit (Abb. 14, ‚Sound Gesture Dynamics‘). Es sind scharfe Messer zu hören, die in rasan­ter Geschwindigkeit etwas zerhacken, klackernde Metallschalen, das Kna­cken von Schalentie­ren, zum Teil exakt auf den Schnitt getimt, um die Continuity-Sprünge in der hektischen Mon­tage zu betonen. Dazu vermitteln extrem sphärische Klänge einen chaoti­schen Eindruck. Ein Gewirr an Instrumenten, eingeleitet von einer Trompete, vermischt sich akustisch beinahe naht­los mit dem Klangteppich von Küche und Köch:innen. Eine klare Unter­scheidung von Küchen­ge­räuschen und Percussion-Sounds ist nicht möglich.

Im Zusam­men­spiel von Einstellungsgröße, Schnittrhythmus, Kamerabewegung, Musik und Geräuschen wird so ein hek­tisches Durcheinander inszeniert, das sich als Gefühl der Überforderung und Orien­tierungslosigkeit beschreiben lässt. Le­diglich eine Einstellung sticht in diesem ersten Ab­schnitt durch ihre Länge heraus (Abb. 14, ‚Shot‘, erste orange hinterlegte Fläche von links, „Ko­chen“). Sie zeigt einen Blick auf Bourdains Arbeitsplatz, der an späterer Stelle in der Mon­tage wieder aufgegriffen wird (Abb. 14, ‚Shot‘, vierte orange hinterlegte Fläche von links, „Ko­chen“) und kündigt so eine Verschie­bung vom Durcheinander zu einer audiovisuellen Orien­tierungshilfe an.

Abb. 14: Mit Advene generierte Visualisierung für die Cinematic Metaphor in der Szene Wrong Call leading to a big Deal.
Abb. 14: Mit Advene generierte Visualisierung für die Cinematic Metaphor in der Szene Wrong Call leading to a big Deal.

In Abb. 14 sind die Spuren ‚Shot‘ (Einstellungslänge), ‚Image Content‘ (Bild­inhalt), ‚Camera Movement Type‘ (Kamerabewegung Typ) und ‚Sound Gesture Dynamics‘ (Geräusch Geste Dynamik) dargestellt.

Das Gefühl der Überforderung und Orientierungslosigkeit wird in den langen, – die Nahauf­nahmen zu Beginn und Ende des Einschubs ausgenommen – eher weit gestalteten Einstellungen (amerikanisch bis halbtotal) mit Fokus auf den Koch wieder aufgefangen (Abb. 14, ‚Shot‘, „Koch“ bzw. „Kochen“). Die Einstellungen auf ihn dauern zwischen sechs und fast zehn Se­kunden, was einer extremen Entschleunigung des Schnittrhythmus entspricht. Auch die Kame­raführung verändert sich. Die freie Bewegtheit der Handkamera wird abgelöst von einer kon­trollierten Bewegung in der Kamerafahrt und schließlich – mit Ausnahme einer Einstellung – in ein statisches Bild überführt (Abb. 14, ‚Camera Movement Type‘).

Nach den anfänglich gezeigten Zutaten folgen nur noch drei ähnliche Aufnah­men (Abb. 14, zweite, dritte und vierte orange hinterlegte Fläche von links), dieses Mal allerdings durch Bourdain in den Hand­lungskontext der Eintopfzubereitung gestellt. Der Fokus im Bildinhalt verschiebt sich so von den Zutaten zu Bourdain bis er in der letzten Einstellung der Montage schließlich allein zu sehen ist (Abb. 14, ‚Image Content‘). Distinkte Geräusche sind kaum noch zu hören (Abb. 14, ‚Sound Gesture Dynamics‘). Im Zusammenspiel von Einstellungsgröße, Schnittrhythmus, Kamerabewegung, Bildinhalt und Geräuschen wird so ein affektives Zur-Ruhe-Kommen insze­niert, das das Gefühl der Orientie­rungslosigkeit in einem Gefühl der Sicherheit auffängt.

Die Erklärung ist geleitet von Bourdains Stimme, die auf sprachlicher Ebene die oben dargelegte Metapher erläu­tert. Der Fokus der Zuschauenden liegt dabei wie beschrieben nicht auf dem Produkt und auch nicht auf den einzelnen Zutaten des Produkts, sondern fast ausschließlich auf demjenigen, der es verkauft. In den ame­rikanischen Einstellun­gen ist der Fisch, während Bourdain ihn zerschneidet, in gewisser Weise sogar hinter dem riesigen Topf ver­steckt. Präsent ist so nur, worin die Zutaten zusam­men­gefasst werden, nicht was sich wirklich im Eintopf be­findet. Während zuvor Jared durch visu­elle und auditive Prä­senz im Gefühl der Orientierungs­losigkeit zum Zentrum des Verste­hens­pro­zesses wurde, bietet hier der TV-Koch Orientierung und wird direkt mit dem Gefühl der Sicherheit verknüpft.

Auch wenn sich die Bilder in der audiovi­suellen Insze­nierung stark vom Rest der Szene unter­scheiden – die Musik vermittelt eine be­lebte Stim­mung, die Bilder sind sehr kontrastreich und stark gesättigt, die domi­nieren­den Farben Schwarz und Weiß stehen ei­ner sehr gemäßigten Farbpalette mit vielen Grau- und Blautönen gegenüber – wird das Verste­hen über ein ähnliches Prinzip strukturiert. In einer wei­teren Wie­derholung und mit fri­scher Aufmerksamkeit wird das zentrale Prob­lem der CDOs nochmals auf den Punkt gebracht: Kei­ner weiß, woraus sie zusam­mengesetzt sind.

Die einzel­nen Hypo­theken werden inszeniert als ein unüberschaubares Durch­einander an Zutaten, von denen letzt­lich nur der­je­nige weiß, der sie in den Topf geworfen hat. Ein genaues Hinsehen, wie es Michael Burry getan hat, um die vielen ‚faulen‘ Kredite zu ent­decken, ist an dieser Stelle nicht möglich. Über ein wieder­holt zu hörendes Buzzer-Geräusch werden die von Michael geshorteten mortgage bonds (von Bourdain in der ersten Einstellung erwähnt), der drei Tage alte Heilbutt im Eintopf (erwähnt im vor­letz­ten Satz) und schließlich die CDOs als „dog shit wrapped in cat shit“ in Marks Zu­sam­menfas­sung akustisch verknüpft – in der explosiven Geräuschgeste ein finaler Konnex zu den Bausteinen.

Über das verkörperte Erleben eines hektischen Durcheinanders – konstituiert über die extreme Dynamik vor allem in Montage, Sounddesign und Musik – wird ein Gefühl der Überforderung und Orientierungslosigkeit figuriert, das in der Fokussierung auf die erklärende Person sowie der Entschleunigung in Montage, Kamerabewegung und Sounddesign audiovisuell zur Ruhe kommt und damit in ein Gefühl der Sicherheit überführt wird. In der Erfahrung der Zuschau­enden entsteht so eine kom­plexe Cinematic Metaphor, die das Funktionsprinzip der CDOs und damit ihr Problem erlebbar macht. CDOs erscheinen nicht nur als Meeresfrüchte-Eintopf, son­dern als die konkrete Erfahrung von unüberschaubarer Kom­plexität als einem Gefühl der Orientierungslosigkeit, welches mangels eigenen Wissens für ein Gefühl der Sicherheit ange­wiesen macht auf die Expertise einer anderen Person – ein Umstand, aus dem der Film im gleichen Moment zu befreien versucht. Denn wie sowohl die Szene um den Jengaturm als auch die Cinematic Metaphor deutlich machen, kann dieses Vertrauen ein­fach ausgenutzt werden, um Profit zu machen – auf Kosten anderer.

Nicht zuletzt wird eine körperliche Dimension des Ekels adressiert, die den Erwerb des Finanzproduktes mit dem Verspeisen von verdorbenem Fisch gleichsetzt und mit tierischen Hinterlassenschaften assoziiert. Aus dem abstrakten Verlustgeschäft wird so in gewisser Weise das Vergiften des eigenen Körpers respektive eines ganzen Systems. Die Unwissenheit kann so je nach Umstand einen verdorbenen Magen, den Einsturz eines Holzturms oder eben eines gesamten Finanzsystems zur Folge haben. Wie das in dieser Szene und im Verlauf des Films erlangte Wissen nun in der letzten Montage zur Grundlage für einen emotionalen Appell für Veränderung wird, soll im Folgenden untersucht werden.


Der Schlussappell: Ein starres System in Bewegung versetzen

Der Film endet mit dem Kollaps der Investmentbank Lehman Brothers am 15. September 2008. Mit der letzten Szene Making money is dirty (1:54:16–2:01:51) verlässt der Film seine Prota­gonisten und entlässt auch die Zuschauenden wieder aus dem ‚Inside‘. Michael schließt seinen Fonds mit einem Plus von 489 Prozent, Jamie und Charlie finden sich in einem leeren Groß­raumbüro von Lehman Brothers, in dem plötzlich Still­stand eingetreten ist. Die weiterlaufenden Börsenticker und das Fernsehbild stehen als ein­zige Bewegungen einem wie eingefroren wir­kenden Durcheinan­der gegenüber.

Gerahmt wird die Szene von Mark, der alleine auf einer Dachterrasse über den Dächern New Yorks sitzt und mit Vinnie, einem seiner Trader, telefo­niert. Auch Marks Team hat das ‚Inside‘ des Büros verlassen und sitzt vor der St. Bartholo­mew’s Cathedral. Mark sträubt sich dagegen, seine Credit Default Swaps zu verkaufen und so Profit aus der Krise zu schlagen. Er fürchtet, es werde keine Konsequenzen für die Banken geben: “I have a feeling that in a few years people are gonna be doing what they always do when the economy tanks. They will be blaming immigrants and poor people.” Jareds Voice Over re­agiert direkt darauf: “But Mark was wrong.” Eine Montagesequenz folgt, die die tat­sächlichen Folgen der Finanzkrise gegen eine fiktiv möglich gewesene Zukunft stellt. Nach ihr stimmt Mark dem Verkauf der Wertpapiere zu und der Film verlässt ihn in einer Totalen. Im Folgenden werden die Montage (1:59:57–2:00:48) und ihr rhe­torisches Ziel genauer analysiert.


Clip 4: THE BIG SHORT (Adam McKay, USA 2015), Min. 1:59:57–2:00:46.

Die Montagesequenz funktioniert vor allem über das rhetorische Prinzip der Opposition. Ge­genüber stehen sich die erste Phase, die ein Gefühl von Aufbruch und Ver­änderung als ein In-Bewegung-Sein inszeniert, während die zweite Phase dominiert wird von einem Still­stand, der Bewegung unterdrückt und darin eine ungemeine Spannung aufbaut.

Abb. 15: Mit Advene generierte Visualisierung für die Montagesequenz in der Szene Making money is dirty.
Abb. 15: Mit Advene generierte Visualisierung für die Montagesequenz in der Szene Making money is dirty.

In Abb. 15 sind die Spuren ‚Field Size‘ (Einstellungsgröße), ‚Image Intrinsic Movement‘ (bildintrinsische Bewegung), ‚Camera Movement Direction‘ (Kamerabewegung Richtung), ‚Recording/Playback Speed‘ (Aufnahme-/Wiedergabegeschwindigkeit) und ‚Music Mood‘ (Musik Stimmung) dargestellt.

Zu Jareds „But Mark was wrong“ ist ein Bild des New Yorker Straßenverkehrs zu sehen, das mit dem Ende des Satzes einfriert. In dem Moment setzt Neil Youngs Song ‚Rockin’ in the Free World‘ ein (Abb. 15, ‚Music Mood‘, orange hinterlegt) und unterlegt folgendes Voice Over: “In the years that followed, hun­dreds of bankers and rating agencies executives went to jail. The SEC was completely over­hauled. And Con­gress had no choice, but to break up the big banks and regulate the mortgage and derivatives industries.” Das, was man hier auf Ebene der Sprache als grundlegende Um­strukturierung und Reform des Bankensystems, von der US-Börsenaufsichtsbehörde über die Ratingagentu­ren bis zu den Banken selbst, zusammenfassen kann, wird im Er­lebens der Zuschau­enden als ein affektives In-Bewegung-Sein gestaltet.

Der Eindruck von Bewegung wird über das Zusammenspiel zahlreicher kompositorischer Ebenen ge­staltet. Die hohe bildintrinsische Dynamik (Abb. 15, ‚Image Intrinsic Movement‘, orange hinterlegt), zum Beispiel über die Bewegung des Stra­ßen­verkehrs oder der Wolken her­gestellt, wird durch den Einsatz zahlreicher Zeitrafferaufnah­men noch intensiviert (Abb. 15, ‚Recording/Playback Speed‘, orange hinterlegt). Diese zeigen Naturaufnahmen, den nächtlichen Sternenhim­mel über ei­nem Feld, eine sich öffnende Blüte, das Reifen einer Erdbeere, aber auch Tourist:innen vor dem Pariser Eifelturm, die inei­nanderflie­ßenden Lichter des nächtlichen Straßen­verkehrs über die Nanpu Bridge in Schanghai sowie vor dem Kreml in Moskau. Bewegungen, die in dieser Qua­lität erst durch den Zeitraffer sicht- und erlebbar werden.

Die Bilder sind do­miniert von kräfti­gen, leuchtenden Farben, dem strahlenden Blau des Himmels, dem intensiven Orange der Blüte vor schwarzem Hintergrund, den roten und gelben Lichtern der Straßen. Der starke Be­wegungs­eindruck wird auch durch den extrem schnellen Schnittrhythmus (17 Einstel­lungen mit ähnli­cher Länge in 17 Sekunden bis zum Ein­frieren der letzten Einstellung in diesem Abschnitt) erreicht. Zum Höhe­punkt ist ein Zusammen­schnitt von Himmelsbildern zu sehen, die zum Teil nur einen Frame lang und damit nur noch als pure Bewegt­heit wahrzunehmen sind. Auch der Wechsel zwischen nahen und weiten Einstellungen (Abb. 15, ‚Field Size‘, orange hinterlegt) intensi­viert einen starken Eindruck von Bewegtheit in einem wiederholten Verengen und Weiten des Raumein­drucks.

Die Sternschnuppen, die über den Nachthimmel in verschiedene Rich­tungen schie­ßen, sind mit Geräuschen unterlegt, die an explo­dierende Silves­ter­raketen erinnern und unterstreichen die einzelnen Bewegungsakzente. Zentral für das wahr­ge­nom­mene Gefühl von Aufbruch ist zudem Neil Youngs ‚Rockin’ in the Free World‘ (6). Do­mi­nante E-Gitarren-Riffs, der schnelle Takt des Schlagzeugs und die da­runterlie­genden Bass-Sounds erzeugen einen schnellen, konstanten, antreibenden Beat. Damit bestimmt der energie­ge­ladene Rocksong den Puls der Montage und des Erlebens der Zuschauenden. Letztlich for­ciert alles an dieser kurzen Sequenz den Eindruck extremer Bewegt­heit. Diese Er­fahrung wird verbunden mit einem globalen Anspruch auf Ver­änderung. Orte wie Schanghai als wichtigste Industriestadt Chinas, der Kreml als Russlands Zentrum der Macht, Paris als eu­ropäischer Stell­vertreter sind nicht nur globale Zentren von Krise und Kapi­talismus, sondern auch Verräum­lichungen politischer Macht und Ent­scheidungsgewalt und damit Adres­saten der Veränderung.

Die oben beschriebenen Bilder des ersten Abschnitts werden stetig unterbrochen von Found-Footage-Aufnahmen, die in normaler Geschwindigkeit abgespielt oder sogar als Stills eingefügt sind. Eingeleitet von in Handschellen gelegten Handgelenken, wird die Fest­nahme der beiden Bear-Stearns-Hedgefonds-Manager Ralph Cioffi und Matthew Tannin ge­zeigt, Bilder der An­hörung von Lehmann-Brothers-CEO Dick Fuld vor dem United States House Committee on Oversight and Reform sowie ein Foto von Countrywide-CEO Angelo Mozilo. Das Farbspekt­rum besteht überwiegend aus gedeckten Schwarz-, Grau-, Braun- und Weißtönen. Die niedri­gere Bildqua­lität der Aufnahmen, die vermutlich Nachrichtensendungen ent­stammen, so­wie das wech­selnde Format legen eine Iden­tifizierung als mediale Zeitzeugen nahe.




(6) Im Songtext prangert Young Missstände in der US-amerikanischen Gesellschaft an und kritisiert auch den damaligen Präsidenten George H. W. Bush, den Vater des Präsidenten der Finanzkrise, George W. Bush. In Verbindung mit der audiovisuellen Inszenierung von Aufbruch kann das Bild enttäuschter politischer Hoffnung, das der Song zeichnet, durchaus als ironischer Kommentar zur Reform des Finanzsystems gewertet werden, die sich im zweiten Abschnitt der Montage als fiktiv herausstellt (vgl. Greene Juli 2015).

Auch wenn sie sich durch ihre Gestaltung deutlich von den weiter oben beschriebenen Bildern unterschei­den, bilden die Found-Footage-Aufnah­men mit ihnen zusammen einen festen Verbund. Zwar brem­sen sie den Bewegungsfluss etwas, vor allem überträgt sich aber umgekehrt der Ein­druck von extremer Bewegtheit auf die kurzen Einstellungen und bindet sie so in den Prozess der Verän­derung ein. Die rhythmische Beschleunigung auf Ebene der Montage, der Musik so­wie des schnell gesprochenen Voice Overs bleiben erhalten. So wird ein affektives In-Be­we­gung-Sein ver­knüpft mit Festnahmen und Anhörungen. „I take full responsibility“ ist zu hören, aus den weiteren kurzen Nachrichten-Snippets ist nur das Wort ‚decisions‘ verständlich. Die Über­nahme von Verantwortung wird inszeniert als entscheiden­der Schritt in Richtung Um­struktu­rierung des Systems.

Zum Stehen kommt der Wandel mit einem Geräusch, das klingt wie zer­brechen­des Glas, einem akustischen Zerbersten der Wunschvorstellung. Das Bild friert ein und die Be­wegung verwandelt sich in einen langsamen, digital eingefügten Zoom-In, der lang­sam ins Schwarz überblendet. Die Musik verstummt. Der An­satz von Veränderung wird audiovisuell eingefroren und mit einem „Just kidding“ im Voice Over in einer sprachlichen Geste wegge­wischt.

Zu einer Montage von Bankennamen und -logos ist im Voice Over weiter zu hören: “The banks took the money the American people gave them and used it to pay themselves huge bo­nuses and lobby Congress to kill big reform. And then they blamed immigrants and poor people. And this time, even teachers. And when all was said and done, only one single banker went to jail. This poor schmuck. Kareem Serageldin from Credit Suisse. He hid a few billion in mort­gage bond losses, something most of the big banks did on a good day during the crisis.” Ein Banken­system, das weder selbst Konsequenzen aus der Krise gefolgert hat noch von der Justiz zur Rechen­schaft gezogen wurde, während andere anstelle der Banker:innen zu Sündenböcken wurden, wird im Erleben der Zuschauenden mit einem ange­spannten Stillstand verbunden.

Die Stimme von Ryan Gosling, der das Voice Over spricht, ist nun etwas leiser und weniger nachdrücklich. In den Bildern lässt sich kaum noch Bewegung ausmachen, die Kamera bleibt weitgehend unbewegt (Abb. 15, ‚Image Intrinsic Movement‘ und ‚Camera Movement Direc­tion, blau hinterlegt). Es dominieren Außenaufnahmen von Bankgebäuden, Wolken­kratzern und Schilder, die die Namen von Banken zeigen.

Die in normaler Wiedergabegeschwindigkeit abgespielten Bilder sind in vielen Fällen kaum von den zahlreichen Stills zu unterscheiden (Abb. 15, ‚Recording/Playback Speed‘, blau hinterlegt). Viele der Schilder sind untersichtig ge­filmt, bereits die erste Einstellung zeigt einen Wolkenkratzer in extremer Untersicht (Abb. 16, ‚Camera Angle‘, blau hinterlegt). Die aus dieser Per­spektive übermächtig wirkenden Ge­bäude erscheinen von außen unerschütterlich, unzugäng­lich und monu­mental, was den Ein­druck von Stasis noch verstärkt. Das knal­lige Farbspekt­rum wird abgelöst von gleichbleibenden Schwarz-, Grau- und Blautönen.

Abb. 16: Mit Advene generierte Visualisierung von ‚Camera Angle‘ (Kameraperspektive) für die Montagesequenz in der Szene Making money is dirty.
Abb. 16: Mit Advene generierte Visualisierung von ‚Camera Angle‘ (Kameraperspektive) für die Montagesequenz in der Szene Making money is dirty.

Bei dieser audiovisuellen Aufzählung geht es weniger um die Nennung der einzelnen Geld­institute, als darum, möglichst viele Namen in Reihe zu stellen, um den Eindruck eines ganzen Systems zu schaffen. Die gezeigten Banken sind nicht die Aus­nahme, sondern die Regel. Die wenigen Menschen in den Aufnahmen wirken wie Statist:innen. Als unscharfe Gestalten, von hin­ten oder vor Gegenlicht gefilmte dunkle Silhou­etten oder in Arbeitskleidung versteckt, sind sie nur die Randfiguren eines Systems aus Hoch­häusern und großen Namen – Jamie Dimon als Gesicht von JPMorgan Chase eingeschlossen. Die überdimensionale Bank-of-America-Anima­tion auf dem leuch­tenden Weiß der digitalen Werbetafel überstrahlt alles andere im Bild. Die Menschen auf der Straße darunter sind leicht zu übersehen.

Mit 17 Ein­stellungen von ähnlicher Länge in 17 Se­kunden (das Foto von Kareem Serageldin als letzte Einstellung dauert zwölf Sekunden) ent­spricht der Schnittrhythmus sehr genau dem des ersten Abschnitts. Auch die an­gespannten Pi­anoklänge in Moll, die sich fast wellenförmig bewegen und als nervös und un­schlüssig be­schreiben lassen, vermitteln eher ein unwohles als ruhiges Gefühl (Abb. 15, ‚Music Mood‘, blau hinterlegt). Im Zusammen­spiel der Kom­positionsebenen und gerade auch in ihrem Widerspruch entsteht das Erleben eines ange­spannten Stillstands. Zum letzten Bild der Montage, einem Foto des Bankers Kareem Sera­geldin, ist ein explosives Geräusch zu hören, das klingt wie eine ins Schloss fallende Ge­fäng­nistür. Das Foto auf schwarzem Hinter­grund wird immer kleiner, es scheint sich zu entfer­nen, bis die Leinwand komplett schwarz ist und mit dem Ausklingen des Geräuschs auch die letzte Bewegung zum Erliegen kommt.

Die Bilder der Veränderung werden in der zeitlichen Anordnung nacheinander, aber auch ge­stalterisch denen entgegengestellt, die sich verändern müssen. Die Veränderung wird als ein In-Be­wegung-Sein für die Zuschauenden körperlich erlebbar und zu­gleich positiv mit der Über­nahme von Verantwortung, auch im rechtlichen Sinne, sowie einem natür­lichen Reifeprozess – der wachsende Mais auf dem Feld, die im Zeitraffer reifende Erd­beere – assoziiert. Die Be­wegtheit wird in der zweiten Phase oberflächlich eingefroren, zum Beispiel auf Ebene von Ka­mera- und bildintrinsischer Bewegung, schwelt aber in Montage und Musik weiter, was in ei­nem Un­terdrücken der Bewegung einen ange­spannten Stillstand erzeugt. Die, im ersten Ab­schnitt über die ex­pressive Bewegungsqualität aufgebaute, enorme energetische La­dung wird mit dem abrupten Einfrieren des Bildes und im Ver­lauf des zweiten Abschnitts so­wohl über den Kontrast zum ersten Teil als auch den Kon­flikt in der Kom­position in eine sich weiter steigernde Anspannung überführt, jedoch ohne die Möglichkeit zur Entladung.

Versteht man das Potential audiovisuel­ler Affekte im körperlichen Erleben eines dynamischen Span­nungs­auf- und -abbaus, wie es Ba­kels (2017: 119, Hervorh. im Original) für den audiovisuellen Rhythmus definiert, ergibt sich daraus eine Art „affektive[…] Ökonomie“. Die Er­fah­rung von Be- und Entschleunigun­gen des audiovisuellen Tempos werde körperlich als Ein­druck von Energie wahrgenommen. Eine Phase starker rhythmischer Be­schleunigung, wie in dieser Montage, werde als Aufbau energetischer Spannung erfahren und strebe in einer Art körperlichen Antizipation nach einer anschließenden Ent­la­dung, was Bakels als „Ökonomie der energetischen Ladung und Entla­dung“ (ebd., Hervorh. im Original; vgl. zudem ebd.: 119–120) be­schreibt.

Dieser Zu­stand kör­perlich empfundener, extremer energetischer Span­nung, der nach Entladung strebt, lässt sich als Gefühl der Empörung charakterisieren. So defi­nieren Christoph Demmerling und Hilge Land­weer (2007: 289) die Körperlichkeit der Affekte Wut, Zorn und Empörung als „Impuls, aus der leibli­chen Enge auszubrechen“, ein Streben unge­hindert in alle Richtungen nach außen zu sprü­hen (vgl. ebd.), sprich zur Entladung der Energie in einem zentri­fugalen Bewegungs­impuls.

In ihrer Aus­richtung auf eine moralische Ungerechtigkeit – in die­sem Fall die Berei­cherung weniger auf Kosten vieler und ohne nennenswerte Konsequenzen – ver­bindet das Gefühl der Empörung so die dynamische, körperliche Erfahrung angestauter Energie mit dem affekti­ven, erfahrungsbasier­ten Verstehen eines fehlerhaften, reformbedürftigen Sys­tems. Das im ‚In­side‘ erfahrene Wissen wird zum Ende des Films – vor den finalen Einblen­dungen folgen le­diglich noch fünf Ein­stel­lungen – die Basis für einen affektiven und verkör­perten Appell für Veränderung und bestimmt so das Gefühl ebenso wie die Haltung, mit denen die Zuschauenden den Film verlassen: Es gilt ein System in Bewe­gung zu versetzen. Das Ziel für die Ent­ladung der im Gefühl der Empörung aufgestauten Energie ist somit gefunden.


4.) Nach der Krise – ein Fazit

THE BIG SHORT kam im Dezember 2015 in die US-amerikanischen Kinos, sieben Jahre nach der Pleite von Lehman Brothers im September 2008. Die Texteinblendungen zum Ende des Films (2:01:51–2:03:43) legen jedoch nahe, dass sich am System Finanzen seitdem nicht viel geändert hat. Das Funktionsprinzip der CDOs sei erhalten geblieben und werde 2015, lediglich unter neuem Namen, als ‚bespoke tranche opportunity‘ verkauft. Gesetzesvorhaben, die in Folge der Krise auf den Weg gebracht werden sollten, seien nach Rana Foroohar (vgl. 2016: 8) nie in Kraft getreten.

Der Film nutzt damit keine aktuelle Krise als Möglichkeitsraum zur Verände­rung, sondern schafft sich in der zeitlichen Expansion der Finanzkrise selbst eine „öffentliche, […] medial vermittelte und gestaltbare Umbruchsituation“ (Goeze / Strobel 2012: 513), eine rhetorische Krisensitua­tion. Ein Zustand, der nach Annika Goeze und Korinna Strobel charakterisiert werde durch die Infrage­stel­lung existentieller, gemeinschaftlicher Grundwerte. Nicht selten stünden sich dabei in einem „Zu­stand unaufgelöster Spannung“ (ebd.: 512) das Streben nach gesellschaftlicher Veränderung und die Rückbesinnung auf alte Werte gegenüber (vgl. ebd.: 512–514).

Diese Spannung zieht sich durch die obigen Ana­lysen: von der aufgeregten Anspannung, die in der Szene Wrong Call Leading to a Big Deal den Verstehensprozess grundiert, zur Steigerung der Spannung in ein Gefühl der Empörung in der letzten Szene. Das Ende des Films fordert eine Entladung der in der Spannung aufgebauten Energie in einer Auf­lö­sung des Krisenzustands und spricht sich dabei klar für ge­sellschaftliche Verände­rung aus, was in diesem Fall eine stärkere Regulierung des Finanzsys­tems bedeutet.

Über die Verbindung affektdramaturgischer und rhetorisch orientierter Analyseperspektiven lässt sich die in der Erfahrung filmischer Bewegungsbilder begründete affektive Verkörperung von Verstehens- und Meinungsbildungsprozessen anschaulich nachvollziehen: Das im ersten Teil der Analyse herausgearbeitete komplexe Gefühl des ‚Inside‘ – konstituiert über ein affektives Mit­tendrin-Sein, die Erfahrung von Unmittelbarkeit und Unvorhersehbarkeit in einem Gefühl der Authen­tizität, die andauernde Affizierung in einem Gefühl der Sympathie sowie den verkör­perten Pro­zess des Verste­hens der Finanz­produkte – legitimiert den Film nicht einfach als ver­trauenswür­dige Quelle, sondern schafft in der Filmerfahrung ein Gefühl der Zugehörigkeit zu einer wis­senden Gemeinschaft.

Dieser erfah­rungsbasierte, af­fek­tive und dynami­sche Pro­zess ist entscheidend um eine affektive Zustimmung und damit eine Verän­derung der Ein­stellung bei den Zuschauenden zu erreichen. Damit erweist sich die Annahme von Matthias Grot­kopp (2017: 293), wonach „[d]ie audiovisuelle Komposition des Films […] in einem absolut nicht-meta­phori­schen Sinne einen Körper der Rede [bildet], der von den Zu­schauern als eine permanente Über­setzungsma­schine erfahren wird und in letzter Instanz auf die Übersetzung in individuelle, ver­körperte Einstel­lungen zielt“, auch im Kontext des Finanzkrisenfilms als wertvolle Basis für die Analyse. In der Adressierung des Publikums aus und in die­sem ‚Inside‘ wird eine wissende Gemeinschaft im vorherigen ‚Outside‘ ange­strebt. Auf diese Weise wird eben diese vormals auf Verstehensdefiziten aufgebaute Trennung unmöglich.

Ein verkörper­tes, affektiv grundiertes Ver­stehen der Finanz­pro­dukte – als ästhetische Figurationen in der Zeit gestaltet – bildet die Basis für ein moralisches Unrechtsempfinden. Au­diovisuell ausgestaltet wird dieses Unrechts­empfinden in der letzten Szene des Films, die das Gefühl der Empörung als einen angespannten Stillstand erlebbar macht, der über den Film hinaus nach Entladung strebt und den Zuschau­enden so einen verkör­perten Appell für Veränderung mitgibt, der auch 2020 nichts von seiner Aktualität eingebüßt zu haben scheint (7).




(7) In anekdotischer Evi­denz lassen sich auch in der Corona-Krise Vorgänge an den Finanzmärkten finden, die allzu ver­traut erscheinen. So hat beispiels­weise Hedgefonds-Manager Bill Ack­mann, der be­reits 2008 zu den Profiteur:innen der Finanzkrise zählte (vgl. Kremer Juli 2015), im März 2020 dank einem Investment in Credit Default Swaps 2,6 Milli­arden Dollar Gewinn gemacht (vgl. Rottwilm März 2020).


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Tröhler, Margrit: Eine Kamera mit Händen und Füssen. Die Faszination der Authentizität, die (Un-)Lust des Affiziertseins und der pragmatische Status der (Unterhaltungs-)Bilder von Wirklichkeit. In: Brigitte Frizzoni / Ingrid Tomkowiak (Hg.): Unterhaltung. Konzepte – Formen – Wirkungen. Zürich 2006.


Filmographie

THE BIG SHORT. Adam McKay, USA 2015.