Bild(schirm)räume der Finanzkrise – INSIDE JOB/CAPITALISM: A LOVE STORY

Rebecca Zorko

1.) Einleitung

Der Raum alltäglicher Wahrnehmung im 21. Jahrhundert ist ein durch und durch medialer, bildlicher Raum. Nicht nur im Kino, oder vor dem Fernseher, sondern überall sind Bewegtbilder. Sie gestalten den Raum unserer Freizeit genauso wie den Raum unserer Arbeitszeit. Nachrichten in der U-Bahn, Programm-Interfaces auf der Arbeit, Serien im Wohnzimmer, Pornos im Schlafzimmer, und das ganze Internet immer dabei - auf dem Telefon. Laut einer Studie von bitkom, die 2020 veröffentlicht wurde, liegt der Anteil von Videodaten am gesamten Internetverkehr bei etwa 75 Prozent. Der CO2-Verbrauch des globalen Daten-Streaming hat bereits den des Flugverkehrs überholt. Wir verbringen mehrere Stunden täglich an Bildschirmen und selbst wenn wir eigentlich mit Menschen kommunizieren, findet die direkte Interaktion dabei häufig auf einem Bildschirm statt. Das ist die geteilte Welt der elektronifizierten Wahrnehmung, die für die meisten Menschen im 21. Jahrhundert längst Alltag geworden ist.

In diesem elektronischen Raum ereignet(e) sich die Finanzkrise. Diese Krise ist nicht ohne ihre mediale Darstellung denkbar, schließlich ist ihre Ursache virtueller Art: Das Versagen diverser Finanzinstrumente und folgende Pleiten ereignen sich zunächst in einem virtuellen Bildschirmraum ungreifbarer Quantitäten und Abstraktionen, der erst durch Film, Fernsehen und Internet Teil unseres medialisierten Alltags wird.

Im Rückblick auf das Fehlen ernsthafter politischer Konsequenzen nach der Finanzkrise kann die Untersuchung ihrer audiovisuellen Vermittlung Aufschluss geben über die phänomenologische Dimension dieser Krise, deren abstrakter Raum der Finanzwelt für die sinnliche Erfahrung gelebter Körper besonders unzugänglich scheint. Ich werde diese Unzugänglichkeit nicht nur mit dem flachen Bildschirmraum der Finanzwelt erklären, sondern auch mit dem Wandel unseres geteilten Erfahrungsraumes angesichts der Omnipräsenz des Elektronischen. Körperlichkeit bedingt Räumlichkeit und ist ein wichtiger Faktor für die buchstäbliche Zugänglichkeit zu den abstrakten und riesigen Räumen globalisierter Wirtschaft und aufgeblähter Finanzmacht, die in audiovisuellen Medien ganz unterschiedlich dargestellt werden können. 

Die US-amerikanischen Dokumentarfilme CAPITALISM: A LOVE STORY (Michael Moore, USA 2009) und INSIDE JOB (Charles Ferguson, USA 2010) sind in Reaktion auf die Finanzkrise entstanden und bringen ähnliche Ursachen für ihre Entstehung an. Beide Filme appellieren an die Zuschauenden, die US-amerikanische Demokratie vor der Unterwanderung durch eine Finanzoligarchie zu retten. Sie nutzen dezidiert filmische Bildräume, um den flachen Bildschirmräumen der Finanzwelt buchstäblich Tiefe zu verleihen, und ihre elektronischen Abstraktionen auf unsere konkrete Welt zu beziehen. 

Das Konzept des Bildraums (Kappelhoff, 2005) beschreibt den immersiven, affizierenden und zeitlichen Raum, den filmische Bilder – insbesondere Spielfilme – hervorbringen. Ich werde das Konzept auf die Analyse eines filmischen Raumes im Dokumentarfilm beziehen, und dabei auch im Hinblick auf einen zeichenhaften, flachen, anti-realistischen Bildschirmraum nutzen.

Im Vergleich der Bildräume beider Filme werde ich große Unterschiede hinsichtlich der Affektwirkung und der ethischen Positionierung ihrer Zuschauenden aufzeigen. Sie werten und appellieren auf unterschiedliche Weise, obwohl sie ähnliche Aussagen treffen. Die Bildräume, die sie hervorbringen, schaffen ganz unterschiedliche Wahrnehmungsweisen der Finanzwelt – und zwar nicht bloß, weil sie unterschiedliche Orte abbilden, also verschiedene Schauplätze der Finanzkrise wählen. 

Die verschiedenen Bildräume entstehen durch unterschiedliche Verkörperungsstrategien und suggerieren unterschiedliche Haltungen angesichts der Polit- und Finanzwelt der USA in den Jahren um 2008: eine verkörperte, subjektive und explizit affektive Haltung des durch Michael Moore personifizierten Filmkörpers von CAPITALISM: A LOVE STORY und eine entkörperte, objektivistische und distanzierte Haltung des gottgleichen Blicks von INSIDE JOB.

Ich möchte in diesem Text die Beziehung ausloten zwischen den medialen Räumen auf bzw. hinter dem Bildschirm und unseren konkreten gelebten und alltäglichen Wahrnehmungsräumen. Angesichts des immersiven, affektiven und ethischen Potentials, mit dem filmische Bildräume der Unzugänglichkeit und Immaterialität abstrakter Bildschirmräume begegnen können, wird mein Fokus auf der Art und Weise liegen, wie dieses Potential genutzt wird. Unterschiedliche Zugänge zur Welt bringen unterschiedliche affektive und ethische Haltungen mit sich. Virtuelle mediale Räume und konkrete leibliche Wahrnehmungsräume formen sich nicht nur gegenseitig, sie sind auch niemals sauber voneinander zu trennen. Erst recht in einer Welt, deren Alltag so durchsetzt ist von Bewegtbildern, kann die Trennung von medialen und konkreten Räumen nur der Analyse ihrer Verschränkung dienen.


2.) Wahrnehmungsräume: Fotografischer, kinematischer und elektronischer Raum

Es wäre falsch das Anwachsen eines die Wahrnehmung ändernden bildlichen Raumes allein auf Smartphones und Internet, Digitalisierung und Smartifizierung zurückzuführen. 

Im Kapitel “The Scene of the Screen: Envisioning Photographic, Cinematic, and Electronic ‘Presence’” ihres Buches “Carnal Thoughts” beschreibt Vivian Sobchack die Wechselwirkungen zwischen den gelebten Körpern, die wir sind, und den medialen Technologien des Fotografischen, des Kinematischen und des Elektronischen anhand ihrer Effekte auf unsere räumliche und zeitliche Wahrnehmung (Sobchack 2004: 135-164).

Ich werde hier auf die jeweils spezifischen Räumlichkeiten dieser Technologien eingehen, und somit von fotografischem, kinematischem und elektronischem Raum sprechen, obwohl Sobchack den allgemeineren Begriff der „presence“ verwendet. Ihr Fokus liegt mehr auf der Zeitlichkeit. Fotografische, kinematische und elektronische Präsenz meint hier nicht nur die Technologie des Fotografischen, den Raum des Kinos, oder die Zeit, die wir vor elektronischen Bildmedien verbringen. Es meint intersubjektiv geteilte Wahrnehmungsweisen von gelebten Körpern, die im Verhältnis zu diesen bildlichen Medien stehen und durch sie verändert werden. 

Sobchack beschreibt die unterschiedlichen Zeitlichkeiten und Räumlichkeiten, die diese Technologien mit dem menschlichen Körper produzieren. Demzufolge hat die Technologie des Fotografischen einen abgeschlossenen, objekthaften Raum der materiell gebannten Vergangenheit geschaffen. Der fotografische Raum ist somit die verdinglichte Verewigung eines unwiederbringlich vergangenen Raumes. Er lässt zwar auf den verorteten Blick einer potentiell subjektiven Kameraposition schließen, doch auf objektifizierte Weise: „It does not really invite the spectator into the scene so much as it invites contemplation of the scene“ (Ebd: 144). Der fotografische Raum ist immer fern und flach – sichtbar, nicht erfahrbar.

Der kinematische Raum hingegen „thickens the thin abstracted space of the photograph into a concrete and habitable world“ (Ebd: 151). Dabei verschmelzen zwei unterschiedliche Räume: zum einen eine Objektwelt, also das Sicht- und Hörbare; zum anderen der Wahrnehmungsraum eines „cinematic body“, der die dargestellte Objektwelt immer auf eine bestimmte Weise, mit einer bestimmten Perspektive vermittelt. Der kinematische Raum bringt diese Räume zusammen durch den Filmkörper, der seine subjektive Erfahrung der dargestellten Objektwelt intersubjektiv für die Zuschauenden erfahrbar macht. Der Begriff des Filmkörpers verweist dabei auf die Gemeinsamkeiten mit den gelebten Körpern der Zuschauenden. So ist der Film zugleich objektiv sichtbar und hat eine subjektive Wahrnehmungsweise, die im- oder explizit auch immer eine Haltung zu seiner Objektwelt vermittelt. Der Film ist also auf eine Weise verkörpert, die Subjektivität und Objektivität ähnlich verschränkt wie verkörperte menschliche Wahrnehmung.

Ganz anders verhält es sich nun mit dem elektronischen Raum, der nicht nur den fotografischen und den kinematischen Raum mehr und mehr einzunehmen scheint, sondern jeglichen geteilten Raum unserer digitalisierten und smartifizierten Welt. Der elektronische Raum ist körperlos und verdrängt die Materialität und Indexikalität, die Fotografie und Film – in umstrittenem Maße – ausmachten. Der elektronische Raum vermittelt keine intersubjektive Erfahrung einer Objektwelt. Überhaupt verweist er gar nicht mehr unbedingt auf eine materielle Welt, häufig bloß auf Repräsentationen ohne greifbaren Raum, ohne Ursprung. Der elektronische Raum erscheint wie abgekoppelt von subjektiver Körperlichkeit.

„Indeed, the electronic is phenomenologically experienced not as a discrete, intentional, body-centered mediation and projection in space but rather as a simultaneous, dispersed, and insubstantial transmission across a network or web that is constituted spatially more as a materially flimsy latticework of nodal points than as the stable ground of embodied experience“ (Sobchack 2004: 154).

Während ich hier die Effekte dieser drei Bildtechnologien auf Räumlichkeit hervorhebe, liegt Sobchacks Fokus auf der Zeitlichkeit, insbesondere dem Verhältnis von objektiver und subjektiver Zeit. Die Präsenz des Fotografischen ordnete demnach subjektiv erlebte Zeit einer objektiven, linearen Zeit unter, bevor die Präsenz des Kinematischen eine Zeitlichkeit produzierte, die die Simultanität von objektiv messbarer und subjektiv erlebter Zeit im Medium Film erfahrbar machte.

Während die Diskontinuität von subjektiver Zeit in der aktuellen Präsenz des Elektronischen bestehen bleibe, verliere objektiv-lineare Zeit an Wahrnehmbarkeit – tatsächlich scheint eine zerstückelte, unstete Zeitlichkeit die geteilte Wirklichkeit der elektronischen Präsenz in einer digitalisierten Welt zu konstituieren: „Temporality is now constituted and lived paradoxically as a homogeneous experience of discontinuity“ (Ebd: 156). Da Raum und Zeit sich gegenseitig bedingen, halte ich es für sinnvoll, diese Einsicht auch auf Räumlichkeit auszuweiten. Gerade im Vergleich von kinematischem und elektronischem Raum scheint mir die Parallele naheliegend. Der kinematische Raum entsteht schließlich zwischen der abgebildeten Objektwelt und der abbildenden Subjektivität einer filmischen Wahrnehmungsform, die Sobchack Filmkörper nennt.

As the multiplicity and discontinuity of time are synthesized and centered and cohere as the experience of a specific lived body, so are multiple and discontiguous spaces synopsized and located in the spatial and material synthesis of a particular body (Ebd: 152).

Die Subjektivität räumlicher Wahrnehmung kann im kinematographischen Raum erlebt werden. Die Objektivität der abgebildeten Welt war zwar auch schon in Zeiten von Zelluloid und unikalem, analogem Filmmaterial umstritten. Dennoch bleibt der zumindest suggerierte Verweis auf eine ‚abgefilmte‘ Objektwelt ein konstantes Merkmal. Ob ‚unvermittelt‘ mit hohem Realitätseffekt oder voller Reflektionen und Referenzen – der kinematographische Raum ist ein körperlicher Raum, der immer auch auf seinen vor-bildlichen Ursprung verweist. Dabei bleibt das Verhältnis von subjektivem und objektivem Raum im ständigen Konflikt, handelt sich kontinuierlich neu aus und bringt dabei eine bildliche Räumlichkeit hervor, die mit der materiellen Räumlichkeit einer geteilten vor-filmischen Objektwelt im Austausch steht.

Der elektronische Raum hingegen verliert diese Tiefe. Bildschirme sind seine omnipräsente Schnittstelle, doch ihre Bildlichkeit zeichnet sich durch einen Konkurrenzkampf um Aufmerksamkeit aus und bleibt meist oberflächlich. Der elektronische Raum ist diskontinuierlich, dezentriert und zerbrechlich. Außerhalb des Bildschirms setzt er sich nicht fort. Was wir dort sehen und hören ist häufig viele Ebenen entfernt vom Aufzeichnungsmoment einer vor-bildlichen Realität durch die Kamera – wenn es diesen Moment überhaupt gab. Viele elektronische Bilder entstehen hauptsächlich in unerkannten Räumen wie Interfaces von CGI-Programmen, Rechenzentren und stromerzeugenden Kraftwerken, und sie alle sind diesen Räumen näher als den Räumen, die sie vermeintlich abbilden. Sie entziehen sich der Indexikalität, ganz unabhängig davon, ob sie im Einzelfall ursprünglich durch diese motiviert waren oder nicht. Gleichzeitig und augenscheinlich paradoxerweise, durchdringt der Bildschirmraum unsere vor-filmische Welt unvergleichbar stärker, als Kino und Fotografie. Diese haben zwar auch Wahrnehmungsräume geschaffen, die über konkrete Orte wie Kinosäle und Fotoausstellungen hinausgehen. Doch die phänomenologische Dimension des elektronischen Raumes vereint das Nirgendwo der abstrakten Bildschirmwelt mit dem Überall der konkreten Alltagswelt. 

Dieser wahrnehmungsspezifische Wandel hat auch ethische Konsequenzen, auf die ich im Verlauf dieses Textes wiederholt zurückkommen werde:

„At the risk of sounding reactionary I would suggest that it [the electronic presence] also can be dangerous—and this not merely because its abstraction tends to cause car accidents. At a much deeper level its lack of specific and explicit interest and grounded investment in the human body and enworlded action, its free-floating leveling of value, and its saturation with the present instant could well cost us all a future“ (Sobchack 2004: 159).

Die Wahrnehmungsräume des Fotografischen, des Kinematischen und des Elektronischen haben keine klaren und definitiven Grenzen. Obwohl das elektronische Bild im 21. Jahrhundert überwiegt, bleibt das Fotografische und das Kinematische bestehen, es gibt Überlappungen. Fernsehen und Heimkino sind dafür ein gutes Beispiel, sowie die digital produzierten Dokumentarfilme, die hier analysiert werden sollen. Selbst wenn sie auf Bildschirmen geschaut werden sind die Wahrnehmungsweisen, die sie produzieren, nicht allein durch Sobchacks elektronische Präsenz zu beschreiben – sie aktivieren auch Wahrnehmungsweisen typisch für das Fotografische und das Kinematische. Es gilt die Überlappungen, Verschachtelungen und Wechselwirkungen dieser phänomenologischen Räume zu untersuchen. Im Folgenden soll daher die Durchdringung ‚typischer‘ Bildräume, die sich durch eine geschlossene Diegese und viele realistische Bilder auszeichnen, von ‚typischen‘ Bildschirmräumen thematisiert werden, die sich durch Grafiken, abstrakte Zeichen und ikonische Videofragmente auszeichnen.


3.) Filmische Räume: Bildraum und Bildschirmraum

Jenseits des Konzepts eines Filmkörpers, der seine subjektive und menschentypische Wahrnehmungsweise für die Dauer des Films den Zuschauenden zugänglich macht, fragt Hermann Kappelhoff nach „kinematographischen Räumen, die sich zwar auf die Realität der Alltagswahrnehmung beziehen, deren ästhetische Funktion sich aber nicht in deren Reproduktion erfüllt“ (Kappelhoff 2005: 140). 

In Abgrenzung zum ideologiekritischen Begriff des Erzählraums und dem kognitionswissenschaftlich geprägten Begriff des Handlungsraums, soll das Konzept des Bildraums der Tatsache Rechnung tragen, dass filmischer Raum erst durch die aktive und subjektive Wahrnehmung der Zuschauenden entsteht und somit mit ihrer kulturellen und historischen Situiertheit wechselseitig produktiv verknüpft ist.

Die Rezeption filmischer Bilder und ihr Realitätseffekt lasse sich weder mit dem ideologischen Apparat des Kinos erklären, der seine passiven und unkritischen Zuschauenden einer hegemonialen Form der Subjektivierung unterwirft, noch mit einer natürlich gegebenen menschlichen Wahrnehmungsweise, die Filme bloß reproduzieren (Vgl. Kappelhoff 2018: 44).

Der Bildraum eines Films muss zwar immer zur Erfahrungsrealität seiner historisch situierten Zuschauenden in Bezug gesetzt werden, schließlich entsteht er in der Interaktion von Film und Zuschauenden, welche durch die Erfahrung ihrer eigenen Körperlichkeit eine dreidimensionale Filmwelt in zweidimensionalem Film hervorbringen. Allerdings erschöpft sich der Bildraum niemals in der bloßen Reinszenierung einer bekannten Alltagswelt. Vielmehr kann filmischer Bildraum auch Wahrnehmungsweisen schaffen, die Alltagswahrnehmung verändern. Der Erfahrungshorizont der Zuschauenden wird sich verschieden auf den Bildraum auswirken, den ein und derselbe Film eröffnet.

Hermann Kappelhoff geht es dabei auch um den Erhalt des utopischen Potentials des Kinos. Dieses sollte weder in der Subjektivität eines Filmkörpers, der dem gelebten menschlichen Körper gleicht, gesucht werden, noch in der vermeintlichen Objektivität des Kameraauges. Beide Wahrnehmungskonzepte sollen durch das Konzept des Bildraums in diesem Beitrag hinterfragt werden. 

Der Bildraum ist ein dezidiert filmischer Raum, der sich von anderen (Bild-)Medien unterscheidet. Er lässt sich nicht durch eine fixe Subjektposition beschreiben, sondern entsteht in der Bewegung. Er überschreitet die Grenzen von Subjektivität und Objektivität. Er ist zeitlich, denn er befindet sich während der Dauer eines Films im konstanten Wandel. So werden Sichtweisen konstruiert, „in denen die Alltagswahrnehmung des Zuschauers sich in ihrer eigenen Begrenztheit begegnet“ im Angesicht des „artifiziellen Körpers kinematographischer Wahrnehmung.” Der Bildraum verweise „mindestens ebenso auf einen technisch-maschinellen, einen ahumanen Wahrnehmungskörper wie auf die menschliche Wahrnehmung“ (Kappelhoff 2018: 65).

Doch was passiert wenn unsere Alltagswahrnehmung bereits durchzogen ist von technisch-maschineller Wahrnehmung – wie im elektronischen Raum, in dem sich die Finanzkrise ereignet(e)? Was passiert wenn die Grenzen zwischen Leinwand und Bildschirm verschwimmen – wie durch Heimkino, XXL-Flachbildschirme und mediale Omnipräsenz? Das Konzept des Bildraums entstand im Fokus auf Raumfigurationen im Spielfilm des Kinos – es erschöpft sich aber nicht in diesen.

Den dokumentarischen Formen, um die es im Folgenden gehen soll, kommt in mehrfacher Hinsicht eine Sonderrolle zu, da keine klassische Diegese geschaffen wird, keine abgeschlossene Welt im Film, in der fiktive Figuren leben. Sie nehmen ganz explizit Bezug auf die Alltagsrealität der Zuschauenden, und ihre Bildlichkeit ist nicht bloß filmtypisch – sie verweist ständig auf Fernsehen und Internet. Die Filme sind durchzogen von Found Footage, Nachrichten und Grafiken, dessen räumliche Wirklichkeit sich nicht hinter dem Bildschirm bzw. der Leinwand fortsetzt, sondern die direkten Bezug nimmt auf die Welt vor dem Bildschirm. Die Erzähler der Dokumentarfilme sprechen ihre Zuschauenden direkt an und treffen Aussagen, die faktische ‚Wahrheit‘ über die historische Realität der USA beanspruchen. Gerade durch das konstante Evozieren einer vertrauten “electronic presence”, wie Sobchack die Omnipräsenz bildlicher Medien beschreibt, wird eine Wahrnehmungsform geschaffen, die eng mit der Alltagserfahrung der Zuschauenden und ihrer digitalisierten Welt verknüpft ist. Nicht die Kontinuität eines bestimmten Blickmodus, sondern der ständige Wechsel zwischen medialen, medialisierten und konkreten Räumen prägt den Alltag vieler Menschen – und damit auch den Erfahrungsraum der Finanzkrise.

Dieser elektronische Raum ist zwar bekannt und alltäglich, er riskiert aber auch das Gefühl der Unbeteiligtheit bei Zuschauenden hervorzurufen, vor dem Sobchack warnt: Im elektronischen Raum verlieren Zuschauende das Gefühl der eigenen Bedeutsamkeit als Zuschauende, die durch ihr Sehen beteiligt sind am Geschehen. Wie also versuchen Dokumentarfilme über die Finanzkrise dem elektronischen Raum des Alltags im Globalen Norden zu begegnen, einen zeichenhaften Bildschirmraum voll grafischer und computeranimierter Abstraktionen zu nutzen, und dabei dennoch Zuschauende in eine aktive, wertende und handlungsmächtige Position zu versetzen?

Die Dokumentarfilme CAPITALISM: A LOVE STORY und INSIDE JOB zielen darauf ab, einen Bildraum zu erzeugen, der sich, wie von Kappelhoff betont, eben nicht in der Reproduktion der Alltagswahrnehmung der Zuschauenden erschöpft sondern über sie hinausgeht. Sie wollen weit verbreiteten Gefühlen von Unverständnis und Ohnmacht angesichts der Finanzkrise im historischen Raum der USA um 2008 entgegenwirken und tiefere und direktere Zugänge zur Finanz- und Politwelt schaffen, als die omnipräsenten Bilschirmräume der sich überschlagenden Nachrichten, absurd hohen Zahlen und flachen grafischen Abstraktionen sie bieten können.

Außerdem müssen die Bildräume beider Filme interessant und ohne Fachwissen nachvollziehbar bleiben – Finanzwesen und Realpolitik sind im Allgemeinen keine Entertainment-Hits und sowohl CAPITALISM: A LOVE STORY als auch INSIDE JOB richten sich an ein breites Publikum, sie sprechen explizit alle US-Amerikaner*innen an. Die Filme müssen also den Herausforderungen der “electronic presence” begegnen – das heißt, auch im Konkurrenzkampf um Aufmerksamkeit bestehen, angesichts des flüchtigen Wahrnehmungsraumes eines Alltags voller Bildschirmen:

„Such a superficial space can no longer precisely hold the interest of the spectator/user but has to constantly stimulate it. Its flatness – a function of its lack of temporal thickness and bodily investment – has to attract spectator interest at the surface. (...) Thus, along with this transformation of aesthetic characteristics and sensibility emerges a significant transformation of ethical investments. Whether negative or positive in effect, the dominant cultural techno-logic of the electronic and its attendant sense of electronic ‚freedom‘ have a tendency to diffuse and/or disembody the lived body’s material and moral gravity“ (Sobchack 2004: 158).

Ich werde die Filme im Folgenden anhand ihres jeweils spezifischen Bildraums analysieren, mit Augenmerk auf dem Verhältnis von Nähe und Distanz, Konkretion und Abstraktion. Es gilt den Bezug zur gelebten Körperlichkeit der Zuschauenden herauszuarbeiten. Der räumliche Rhythmus, der über die Dauer der Filme entsteht, soll durch ihre Einteilung in unterschiedliche filmische Räume untersucht werden, die über die Gesamtlänge der Filme spezifische Wahrnehmungsweisen schaffen.  Dabei werde ich das Konzept des Bildraums durch die Integration eines nicht Film-, sondern Fernseh- und Computer-typischen Bildschirmraumes erweitern: Obwohl dieser flache, zeichenhafte Raum in einem gewissen Gegensatz steht zu jenem tiefen, affizierenden und synästhetischen Bildraum, werde ich zeigen, dass der Bildschirmraum – gerade aufgrund seiner alltäglichen Omnipräsenz – auf ganz unterschiedliche Weise Einzug halten kann in filmische Bildräume.


4.) Dokumentarfilmische Bildräume der Finanzkrise

Die US-amerikanischen  Dokumentarfilme CAPITALISM: A LOVE STORY und INSIDE JOB wurden beide zeitnah nach Beginn der Finanzkrise gedreht und legen ähnliche Gründe für die Entstehung dieser Krise vor: Reagans Politik der Deregulierung, Finanzialisierung der Märkte, korrupte CEOs und hypokritische Politiker*innen. Implizit erklären beide Filme die Unfähigkeit der US-amerikanischen Demokratie die Interessen der prekarisierten Mehrheit zu vertreten mit einem mangelnden Verständnis der Umstände, die die Finanzkrise verursachten und versuchen dem entgegenzuwirken. Beide Filme verweisen auf zwei bekannte mediale Schlüsselbilder, die den historischen Prozess des politischen Verfalls rahmen. Das erste Schlüsselbild, jeweils im ersten Drittel des Films, zeigt Ronald Reagan in der New Yorker Börse bei einer Rede kurz nach Beginn seiner Präsidentschaft (INSIDE JOB Min. 14, Capitalism Min. 19). Das zweite Schlüsselbild, jeweils im letzten Drittel des Films, zeigt den damaligen Präsidenten George W. Bush bei einer TV-Ansprache, in der er die Bailouts der großen Finanzfirmen rechtfertigt (INSIDE JOB Min. 69, Capitalism Min. 75). Der Appell: Wir (US-Amerikaner*innen) müssen aktiv werden, um diese ursprünglich gute, hart-arbeitende Nation vor dem Betrug durch die Superreichen zu retten. Beide Filme bedienen sich einem “expository mode”, wie Bill Nichols ihn beschreibt: 

„This mode assembles fragments of the historical world into a more rhetorical or argumentative frame (…). The expository mode addresses the viewer directly, with titles or voices that propose a perspective, advance an argument, or recount history“ (Nichols 2017: 121).

Sie beruhen auf gesprochener Sprache eines Erzählers, der die Bilder in einen bestimmten Bedeutungszusammenhang stellt und sie dabei zu Beweismitteln der Argumentation macht. Die Filme setzen sich aus jeweils drei bzw. vier unterschiedlichen Bildräumen zusammen, die ich anhand ihrer affektiven Wirkung auf die Zuschauenden unterscheiden werde, sowie anhand der unterschiedlichen Art und Weise Konkretion oder Abstraktion, sowie Nähe oder Distanz zu erzeugen.


4.1 INSIDE JOB

Charles Fergusons fachkundiger Film besteht im Wesentlichen aus vier klar unterscheidbaren Bildräumen: Einem Raum des Found Footage, innerhalb dessen der Raum der Archivfotos eine besondere Stellung einnimmt; einem Bildschirmraum der Graphiken und der Schrift, einem transzendentalen Bildraum der Stadt- und Landschaftsbilder, und einem affektiven Raum der Interviews.

Ein “voice of god”-Kommentar (Nichols 2017: 55) hält diese Bildräume zusammen. Die Stimme ist nicht verkörpert, denn der Sprecher ist nie zu sehen. Dennoch klingt sie vertraut, denn es handelt sich um die Stimme des bekannten Schauspielers Matt Damon. Auch die Professionalität der Intonation fördert Verständlichkeit, trotz sachlicher Sprache und komplexer Inhalte. Die Interviews hingegen führt der ebenfalls nie sichtbare, aber dennoch durch pointierte Fragen und Kommentare exponierte Regisseur Charles Ferguson. Alle Bildräume sollen im Folgenden nacheinander analysiert werden.

Abb. 1 zeigt die zeitliche Verortung und Dauer der verschiedenen Formen von Found Footage, die den Bildraum des Rückblicks in INSIDE JOB bilden. Erstellt mit der Video-Annotations-Software Advene.
Abb. 1 zeigt die zeitliche Verortung und Dauer der verschiedenen Formen von Found Footage, die den Bildraum des Rückblicks in INSIDE JOB bilden. Erstellt mit der Video-Annotations-Software Advene.

INSIDE JOB zeigt zu einem Viertel seiner Dauer Found Footage, vor allem Fernsehnachrichten und mitgeschnittene Gerichtsverhandlungen. Sie eröffnen einen filmischen Raum, der zwar auch auf den Ursprung des Materials in der historischen Welt verweist. Genauso sehr verweist er allerdings auf einen geteilten elektronischen Raum – viele der Found Footage Sequenzen haben großen Wiedererkennungswert, wir Zuschauenden haben diese oder ähnliche Bilder bereits gesehen. Der Wahrheitsgehalt der Bilder stützt sich nicht zuletzt auf die journalistische Anerkennung ihrer medialen Quelle. Fernseharchive gelten als verlässlich und geprüft in zweierlei Hinsicht. 

Abb. 2: Still aus INSIDE JOB (Charles Ferguson, USA 2010).
Abb. 2: Still aus INSIDE JOB (Charles Ferguson, USA 2010).

Sie bilden relativ objektiv eine vor-filmische Realität ab und die Ausstrahlung und damit ein von vielen geteiltes Wissen um diese Realität gelten ebenfalls als gesichert. Ihre Zugänglichkeit ist durch die Vertrautheit der Erfahrungsform von TV-Nachrichten und Reportagen gewährt. Es ist der Raum des Rückblicks. Er funktioniert sowohl als Beweismaterial für Geschehnisse in der historischen Welt, aktualisiert aber auch Affekte, die die Zuschauenden während der heißen Phase des Finanzcrashs erlebten. Viele der wiederverwendeten US-amerikanischen Nachrichten-Formate erzeugen einen dramatischen Katastrophen-Modus, der selbst mit zeitlichem Abstand und dem Wissen um die berichteten Geschehnisse in einen Raum erhöhter Intensität und Geschwindigkeit einlädt.

Abb. 3: Still aus INSIDE JOB (Charles Ferguson, USA 2010).
Abb. 3: Still aus INSIDE JOB (Charles Ferguson, USA 2010).

Einen ebenfalls wichtigen Anteil am Found Footage macht Archivfotografie aus – dieser Raum jedoch unterscheidet sich vom bewegten Raum des Found Footage. Er bildet Akteure, sehr häufig die Schuldigen bzw. die Gewinner*innen der Finanzkrise ab: mächtige Politiker*innen und CEOs. Typisch für den Raum des Fotografischen, erzeugt er trotz vieler Großaufnahmen keine Nähe oder Sympathie, sondern ein detektivisches Moment des „Erwischt!“ Es ist ein Raum des öffentlichen Zurschaustellens, und durch seine unbewegte Objektifizierung vermeidet er das Ein- und Mitfühlen, das bewegte Bilder durch lebendige Körpersprache oft mit sich bringen. 

Sie verweisen auf Menschen, dessen unethisches Handeln unwiderruflich festgehalten ist, gebannt in die Dokumentform von Fotografie. Die sachliche sprachliche Erläuterung ihrer Taten und Verantwortlichkeiten vermittelt gleichzeitig Empörung und Genugtuung beim ‘Festnageln’ der Schuldigen. Mehrfach werden die ‘Beweisfotos’ von Texttafeln begleitet, die über die Ablehnung eines Interview-Angebots für den Film, oder einzelne sehr belastende Zahlen und Fakten des Fehlverhaltens der Abgebildeten informieren. Hier wird die Objektifizierung eines fotografischen Raums durch Schriftsprache und Zahlen verstärkt: Fakten, weiß auf schwarz. Die pure, flache Faktizität, wie sie in diesen Zeichen zu liegen scheint, lässt jede Mehrdeutigkeit des fotografischen Raumes, jede Rest-Tiefe, verschwinden. 

Abb. 4: Diese Spur zeigt den Anteil des flachen Bildschirmraums am ganzen Film. Die halben Balken markieren Hybridformen: Schrift oder graphische Elemente sind Teil des Bildes, aber nicht das zentrale Element - wie in Abb. 3. Erstellt mit der Video-Annotations-Software Advene.
Abb. 4: Diese Spur zeigt den Anteil des flachen Bildschirmraums am ganzen Film. Die halben Balken markieren Hybridformen: Schrift oder graphische Elemente sind Teil des Bildes, aber nicht das zentrale Element - wie in Abb. 3. Erstellt mit der Video-Annotations-Software Advene.

Diese Texttafeln sind Teil eines anderen Raumes – eines Raumes ohne fotografische oder kinematische Eigenschaften. Durch Schriftart und Farbgebung sind die Texttafeln eindeutig elektronischen Ursprungs, genauso wie die Bilder, die Auszüge aus elektronischen Dokumenten darstellen und dabei oft digital Worte markieren, oder über Websites scrollen und dabei die Recherchearbeit des Films inszenieren. 

Sie zeigen einen Bildschirmraum, der eben nicht nur die Finanzwelt maßgeblich gestaltet, sondern genauso den mehrheitlich geteilten elektronischen Raum des 21. Jahrhunderts. Besonders bedeutend für den Bildschirmraum von INSIDE JOB sind die Grafiken, die Statistiken animieren oder die Funktion von Finanzinstrumenten veranschaulichen. Denn genau über diesen flachen virtuellen Raum werden abstrakte Komplexitäten und Quantitäten ausreichend heruntergebrochen, dass sie ohne Fachwissen nachvollzogen werden können. Es ist der Raum des Einblicks. Entscheidend ist aber nicht nur die zusammenhängende Verständlichkeit der Daten dieses Bildschirmraums. Vielmehr ist seine Einbettung in die anderen Räume des Films ausschlaggebend, um eine Verbindung zur konkreten Welt herzustellen. 

Für diese Verbindung ist der Raum des Überblicks wichtig. Aufsichten oder hohe Kamerapositionen geben einen distanzierten Blick von oben auf kapitalistische Räume, der hohe Produktionswert stützt den Eindruck eines Blicks ohne Ursprung, da er die Drehbedingungen vergessen macht: Nichts erinnert an den Hubschrauber oder die Drohnen, die die Aufnahmen machten. Es gibt viele Luftaufnahmen des urbanen Raums von Manhattan und von Orten des Reichtums wie Luxus-Villen und -Yachten; aber auch Vorstadtsiedlungen, Firmensitze des Finanzsektors, industrielle Räume wie Häfen und Fabriken, Baustellen und -ruinen – all diese Räume werden zum Großteil von einer erhöhten Kameraperspektive aus gezeigt.

Dieser Raum des Überblicks generiert eine – wenngleich distanzierte – Verbindung zur konkreten Welt und er rahmt den Film: eröffnet wird INSIDE JOB mit malerischen Bildern der isländischen Landschaft – Gebäude und energetische Infrastruktur betten sich harmonisch in die spektakuläre Umgebung ein: eine Zivilisation im Einklang mit der Natur. Dies symbolisiert auch den Einklang von gut reguliertem Finanzmarkt und stabiler Wirtschaft, der durch geldgierige Politik zerstört wurde, wie die Prolog-Sequenz darlegt. 

Abb.12: Die Annotation “object” markiert hier in den allermeisten Fällen ein Gebäude oder ähnliches, das zum Bildraum des Überblicks gezählt werden kann - genauso wie der Wert “location”. Erstellt mit der Video-Annotations-Software Advene.
Abb.12: Die Annotation “object” markiert hier in den allermeisten Fällen ein Gebäude oder ähnliches, das zum Bildraum des Überblicks gezählt werden kann - genauso wie der Wert “location”. Erstellt mit der Video-Annotations-Software Advene.

Das pathetische Abschlussbild des Films setzt die US-amerikanische Freiheitsstatue ehrerbietig in Szene, eins der wichtigsten Symbole der US-amerikanischen Nation. Sie trägt Verweise auf die Unabhängigkeit von der englischen Krone und auf die Macht der Rechtsprechung, Errungenschaften der modernen Zivilisation. Die Kamera umfliegt die Freiheitsstatue im Halbkreis, die schillernde Wasseroberfläche des New Yorker Hafens tief unter ihr, die Stadt bedeckt den Horizont. Matt Damon spricht: „Some things are worth fighting for“ und die spannungsgeladene Musik setzt aus. 

Abb. 13: Still aus INSIDE JOB (Charles Ferguson, USA 2010).
Abb. 13: Still aus INSIDE JOB (Charles Ferguson, USA 2010).

Besonders im Vergleich zum Rest des Films sind Eröffnung und Abschluss des Films auffallend stark affektiv geladen: Dramatische Musik und spektakuläre Panorama-Aufsichten kreieren einen Raum, der über-menschliche und herrschaftliche Dimensionen von Zivilisation erfahrbar macht, die Kamera gibt einen Blick auf die Welt, der für das menschliche Auge nur durch hochentwickelte Technologie möglich wird. Dieser Raum verleiht artifiziellen Räumen Macht, indem er sie naturalisiert. Er suggeriert die Möglichkeit der harmonischen Verflechtung Menschen-gemachter Abstraktionen mit der konkreten Welt, bei einer latenten Überordnung des „zivilisierten“ Raumes: Wird doch die materielle Welt, die Oberfläche unserer Erde, zum Großteil als Relief modernistischer Metropolen gezeigt, die Wolkenkratzer so stark, stabil und ewig wie Berge, die Straßenschluchten erinnern an Colorados berühmte Canyons. Es ist ein ästhetischer Raum der Entkörperung und des göttlichen Blicks, der über allem schwebt.

Der letzte wichtige Raum, den INSIDE JOB eröffnet, ist der des Interviews. Er nimmt ein Drittel der Dauer des Films ein. 

Abb. 14: Die Annotationen markieren Einstellungen im Interview-Format. Erstellt mit der Video-Annotations-Software Advene.
Abb. 14: Die Annotationen markieren Einstellungen im Interview-Format. Erstellt mit der Video-Annotations-Software Advene.

Zu Anfang lässt der Film die Interviewees frei sprechen, ihre Aussagen belegen den Kommentar, ihr Expertenstatus wird durch ihre eingeblendeten Namen und Funktionen gesichert. Im Verlauf des Films wandelt sich der Raum des Interviews, zumindest für manche Befragten. Während die Argumentation immer größere Bereiche des Finanzsektors und der Politik immer schwerer belastet, werden die Gesichter der Interviewees in die anderen filmischen Räume hinein montiert. Waren sie zu Anfang glaubhafte Expert*innen, macht ihre eingeblendete (Ex-)Funktion sie zunehmend verdächtig. Oftmals kommen sie nicht mehr zu Wort. Im Kontrast zur sachlichen, doch inhaltlich zunehmend anklagenden Argumentation rückt ihre Mimik in den Vordergrund. Jedes Blinzeln, jedes Zögern, jedes Lachen wird wichtig und lädt zum Hinterfragen ein, während die Bedeutung ihrer Worte abnimmt – sie könnten voreingenommen sein, vielleicht sogar lügen. Der Raum steht zunehmend unter Spannung, Vertrauen wird zu Misstrauen. Aufgrund der Assoziationskette durch vorhergehende Einstellungen, nehmen wir Zuschauenden die Mimik der Interviewees häufiger als heuchlerisch und unglaubwürdig wahr. Die Distanzierung verstärkt sich, wenn Charles Fergusons Fragen und Kommentare hörbar werden. Manche Interviewees scheinen überrascht über die Informiertheit und Direktheit der Fragen. Zögern, Unsicherheit und Sprachlosigkeit sind die Folge. Die mitgefühlte Peinlichkeit macht den filmischen Raum körperlich unangenehm – er ist zerrissen zwischen Fergusons beißenden Fragen und den sichtbar pikierten Befragten. Die Kamera suggeriert zwar Fergusons Perspektive, wir Zuschauenden sind aber affektiv dem oder der Interviewee viel näher – Ferguson war nie zu sehen, wir wissen nichts über ihn, während die Gesichter der Interviewees ganz nah sind, teilweise glaubwürdig erschienen. Ihre Verlegenheit steckt uns an. Diese körperliche Anspannung, diese unangenehme Konfrontation im Raum des Interviews ist auffallend explizit in ihrer affektiven Wirkung angesichts eines Films, der durch Sachlichkeit überzeugen möchte - daher werde ich einige Höhepunkte skizzieren. 

Abb. 15: Still aus INSIDE JOB (Charles Ferguson, USA 2010).
Abb. 15: Still aus INSIDE JOB (Charles Ferguson, USA 2010).

Frederic Mishkin wurde für eine Studie bezahlt, die Islands Finanzkrise mitverschuldete und er verließ das Board of Directors der Fed im Höhepunkt der Krise, angeblich musste er ein Lehrbuch korrigieren. Seine Miene versteinert sich in der Großaufnahme als Ferguson trocken fragt: „I‘m sure your textbook is important and widely read but in August 2008 some somewhat more important things were going on, don‘t you think?” (Min. 64). Dann blinzelt Mishkin und es wirkt so zerschmetternd wie ein schuldbewusstes Geständnis. Fergusons beißender Sarkasmus stellt ihn so bloß, dass selbst wir Zusehenden uns schämen im geteilten filmischen Raum zu sitzen. Die Nähe zu Mishkin und die unterdrückte Affiziertheit seiner Mimik sind unangenehm.

Auch David McCormack, der Under Secretary of Treasury der Bush Regierung, kapituliert vor Fergusons Gesprächsführung. Gefragt nach dem mangelnden Eingeständnis des Fehlverhaltens von Henry Paulson, der die Regulierung des Finanzsektors aktiv verhinderte, stottert McCormick: „C-Could we turn this off for a second?“ (Min. 68). Dabei gesteht er dem investigativen Filmteam seine Unterlegenheit ein, die allein durch den filmischen Raum erzeugt wird. Die Bitte, die Kamera auszustellen, verweist auf die Macht des Films, die selbst ein Regierungsmitarbeiter nicht immer kontrollieren kann. Das Eingeständnis erzeugt Genugtuung, und ein wenig abfälliges Mitleid. Der filmische Raum beweist seine Macht – angesichts der Übermacht des Finanzsektors ein kleines Kunststück.

Selbst Glenn Hubbard, einem der Hauptverantwortlichen für die Deregulierung des Finanzmarktes, entgleitet seine Maske der Seriosität, nachdem Ferguson beharrlich nach seinen Einkommensquellen fragt, und damit seine mangelnde wissenschaftliche Neutralität impliziert: „This isn‘t a deposition, Sir! I was polite enough to give you time, foolishly, I now see.“ Wie im Erinnern an den filmischen Raum, dessen Schauobjekt er sein wird, fügt er übertrieben sachlich hinzu: „You have three more minutes.“ Dann gönnerisch und arrogant: „Give it your best shot” (Min. 88). 

Abb. 16: Still aus INSIDE JOB (Charles Ferguson, USA 2010).
Abb. 16: Still aus INSIDE JOB (Charles Ferguson, USA 2010).

 Ob er hoffte, damit seine Autorität wiederherzustellen, oder sich die verbale Kampfansage nicht verkneifen konnte – in jedem Fall entblößt der filmische Raum an Glenn Hubbards Fassungsverlust eine Verlogenheit der Verantwortlichen, die selten so eindringlich filmisch dokumentiert wurde. Seine Mitschuld an der Finanzkrise bei absoluter Reuelosigkeit ist mimisch und stimmlich erfahrbar, sein fehlendes Gewissen wird spürbar. Dadurch erhalten die abstrakten Prozesse, die Milliarden an Steuergeld an die Reichen umverteilten, ein buchstäbliches Gesicht. Dieses Gesicht, das arrogante Gesicht von Glenn Hubbard, erinnert daran, dass der Finanzmarkt nicht naturgegeben ist, dass sein Scheitern, die Wirtschaft stabil zu stützen statt sie zu zertrümmern, menschengemacht ist, und dass viele dieser Menschen ihren eigenen Profit über das Gemeinwohl stellen. Der Raum des Interviews in INSIDE JOB wird ein Raum der filmischen Gerichtsbarkeit. Obwohl er seine Objekte zur Schau stellt, behält er seine Glaubwürdigkeit – viele Interviewees bleiben bis zuletzt anerkannte Gesprächspartner*innen auf Augenhöhe, und wir kommen ihnen selten näher als in einer halbnahen Einstellung. Die wichtigsten Beispiele sind die Finanzexperten Nouriel Roubini (Min. 54) und Raghuram Rajan (Min. 92), New Yorks ehemaliger Bürgermeister Eliot Spitzer (Min. 9), und Jonathan Alpert (Min. 43), der Therapeut vieler Wall Street Banker. Während das Setting der meisten anderen Interviews kaum Rückschlüsse auf den Umgebungsraum zulässt, werden sie in einem Setting interviewed, das sie in einem gläsernen Hochhaus verortet, hoch über einer Metropole. Dieses Setting verweist auf den gleichen Raum, auf den auch der Großteil des transzendentalen Raumes des Überblicks verweist. Wie die vielen Luftaufnahmen Manhattans, schweben auch die glaubwürdigen Interviewees über der Stadt. Zwar wird ihr Blick nicht filmisch zu unserem, sie werden damit aber auf eine ähnlich hohe Ebene der Vertrauenswürdigkeit gehoben. Ihre vermeintliche Objektivität wird ästhetisch über ihre erhöhte, distanzierte Position zum Ausdruck gebracht.


4.2  CAPITALISM: A LOVE STORY

Die Recherche von Michael Moores humoristischem Dokumentarfilm CAPITALISM: A LOVE STORY geht über die Mängel der Finanz- und Politwelt hinaus und findet den tieferen Ursprung der Finanzkrise im Kapitalismus. Der Erzähler des Films kann mit Bill Nichols als “voice of authority” bezeichnet werden (2017: 55),  spricht doch Michael Moore den voice over und ist zugleich auch selbst im Film zu sehen. Drei Bildräume lassen sich grob unterscheiden anhand ihres Verhältnisses zu Michael Moore bzw. zur abgebildeten Objektwelt. Das Verbindungsglied zwischen den filmischen Räumen ist Michael Moores einfache, oft emotional anmutende Sprache. Sowohl gegenüber Interviewpartner*innen als auch im Kommentar gegenüber seinen Zuschauenden, scheint Moores Sprache naiv ehrlich. Sie sichert die Zugänglichkeit zum heterogenen Bildraum. Ich werde bei der Analyse der Räume chronologisch vorgehen. Anfang und Ende sollen wieder – wie bei der Analyse der Räume von INSIDE JOB – hervorgehoben werden. 

Der erste und wichtigste filmische Raum, der einen Großteil des Films einschließt, lädt ein in Moores mentalen Raum: ein affektiver, oft ironischer, dezidiert subjektiver Raum, voll diversem Found Footage und nicht-diegetischer Musik. Er wird eröffnet mit einem Ausschnitt aus dem Trailer des Horrorfilms BLOOD FEAST (Herschell Gordon Lewis, US 1963), ein verschwitzer Mann warnt nachdrücklich vor dem folgenden Film, dann singt Iggy Popp dreckig rockig „The communist world is fallin' apart! The capitalists are just breakin' hearts! Money is the reason to be!“ begleitet von ruckeligen, verpixelten Aufnahmen von Überwachungskameras, die Banküberfälle mitschnitten. 

Abb. 17: Still aus CAPITALISM: A LOVE STORY (Michael Moore, USA 2009).
Abb. 17: Still aus CAPITALISM: A LOVE STORY (Michael Moore, USA 2009).

Ob er hoffte, damit seine Autorität wiederherzustellen, oder sich die verbale Kampfansage nicht verkneifen konnte – in jedem Fall entblößt der filmische Raum an Glenn Hubbards Fassungsverlust eine Verlogenheit der Verantwortlichen, die selten so eindringlich filmisch dokumentiert wurde. Seine Mitschuld an der Finanzkrise bei absoluter Reuelosigkeit ist mimisch und stimmlich erfahrbar, sein fehlendes Gewissen wird spürbar. Dadurch erhalten die abstrakten Prozesse, die Milliarden an Steuergeld an die Reichen umverteilten, ein buchstäbliches Gesicht. Dieses Gesicht, das arrogante Gesicht von Glenn Hubbard, erinnert daran, dass der Finanzmarkt nicht naturgegeben ist, dass sein Scheitern, die Wirtschaft stabil zu stützen statt sie zu zertrümmern, menschengemacht ist, und dass viele dieser Menschen ihren eigenen Profit über das Gemeinwohl stellen. Der Raum des Interviews in INSIDE JOB wird ein Raum der filmischen Gerichtsbarkeit. Obwohl er seine Objekte zur Schau stellt, behält er seine Glaubwürdigkeit – viele Interviewees bleiben bis zuletzt anerkannte Gesprächspartner*innen auf Augenhöhe, und wir kommen ihnen selten näher als in einer halbnahen Einstellung. Die wichtigsten Beispiele sind die Finanzexperten Nouriel Roubini (Min. 54) und Raghuram Rajan (Min. 92), New Yorks ehemaliger Bürgermeister Eliot Spitzer (Min. 9), und Jonathan Alpert (Min. 43), der Therapeut vieler Wall Street Banker. Während das Setting der meisten anderen Interviews kaum Rückschlüsse auf den Umgebungsraum zulässt, werden sie in einem Setting interviewed, das sie in einem gläsernen Hochhaus verortet, hoch über einer Metropole. Dieses Setting verweist auf den gleichen Raum, auf den auch der Großteil des transzendentalen Raumes des Überblicks verweist. Wie die vielen Luftaufnahmen Manhattans, schweben auch die glaubwürdigen Interviewees über der Stadt. Zwar wird ihr Blick nicht filmisch zu unserem, sie werden damit aber auf eine ähnlich hohe Ebene der Vertrauenswürdigkeit gehoben. Ihre vermeintliche Objektivität wird ästhetisch über ihre erhöhte, distanzierte Position zum Ausdruck gebracht.

Vielleicht sind manche Ausschnitte auch inszeniert - es geht sowieso weniger um die Vorfälle in einer vor-filmischen Realität, als um die elektronische Form der Bilder und ihre unterhaltsame Wirkung. Der Vorspann bettet sich vielversprechend ein – wird dies eine Gaunerkomödie? Dann folgt ein weiterer: Trompeten eröffnen einen alten Lehrfilm über LIVE IN ANCIENT ROME (William Deneen & John Eadie, GB 1964). Der Kontrast der plötzlichen Ernsthaftigkeit, sowie der historische Sprung zwischen zeitgenössischen Überwachungsbildern und einem Bildungsfilm aus den 1960ern, wirken humoristisch. Die Form der Bilder erzeugt ironische Distanz zur abgebildeten Objektwelt, der Wahrheitsgehalt wird hinterfragbar. Die Errungenschaften der römischen Gesellschaft werden anerkennend gepriesen, schnell gefolgt von der Kritik am Verfall: Sklavenhandel, Kriegstreiberei und autoritäre Brot und Spiele-Politik hätten zum Untergang geführt. Die Montagesequenz lässt langsam Bilder der aktuellen US-amerikanischen Gesellschaft einfließen. 

Washingtons Regierungsgebäude ersetzen die römische Architektur, Formel-1-Unfälle folgen auf antike Wagenrennen; Aufnahmen von Arbeiter*innen am Fließband, Waffenproduktion und Guantanamo belegen die Unmenschlichkeit, die offensichtlich nicht nur die Gesellschaft des antiken Roms zersetzte. Dann ein Schwarzbild während Michael Moore fragt, „how future civilisations will view our society“. Die Frage verweist auf etwas Grundlegenderes als Kapitalismus und Finanzkrise, die es zu kritisieren gilt. Sie verweist auf den historischen und medialen Raum von Gesellschaft, ihre Bildlichkeit und Abbildbarkeit. Wie sieht der bildgewaltige Raum unserer aktuellen Gesellschaft aus und wie kann er medial vermittelt werden?

Moores erster Vorschlag ist ein Zusammenschnitt lustiger Katzenvideos – durchaus legitim, die Datenmenge an Katzenvideos im Internet übersteigt wahrscheinlich die von Videos über kapitalistische Ausbeutung. Sein zweiter Vorschlag markiert den Übergang zum zweiten Bildraum – einem Raum, der in erster Linie auf eine vor-filmische Realität verweist, und nicht dessen mediale Inszenierung oder Moores subjektive Bewertung. Es sind Amateuraufnahmen von einer Zwangsräumung, bei der die Polizei gewaltvoll die Tür aufbricht, während die angespannte Familie bewaffnet mit einem wackeligen Camcorder im Haus ausharrt. Sie filmen, um sich zu schützen – das Video beweist, dass sie nur passiv Widerstand leisten.


Der zweite filmische Raum in CAPITALISM: A LOVE STORY ist der Raum der normalen US-amerikanischen Bürger*innen; Menschen, die von Lohnarbeit abhängen und unter den Grausamkeiten des Kapitalismus leiden. Dieser Raum zeigt Menschen in Not, lässt sie selbst sprechen, aber hat auch keine Scheu ihr Leid ganz aus der Nähe zu dokumentieren. 

Häufig sind es Zwangsräumungen, aber wir begegnen auch Familien, die jemanden verloren haben, dessen Arbeitgeber vom Tod profitierte, oder ein privatisiertes Jugendgefängnis, das durch übermäßig lange Haftstrafen Gewinne einstrich. Es ist aber auch der Raum des Widerstands: Die Gemeinschaft eines ärmeren Viertels schließt sich zusammen, um Zwangsräumungen zu verhindern. Die Arbeiter*innen einer Fabrik organisieren sich, um das ihnen verweigerte Gehalt einzufordern. Michael Moore kommentiert diesen Raum im Voice-Over, aber er ist nicht zu sehen, allenfalls ganz selten aus dem Off zu hören. Der Fokus liegt auf den anderen Menschen, auf der Welt.


Der dritte Bildraum ist der Michael Moores körperlicher Anwesenheit. Er führt Interviews mit Priestern, besichtigt die Brache des ehemaligen GM-Werkes in seiner Heimatstadt Flint, fängt Abgeordnete vor Washingtons Kapitol ab, und er versucht sich Zutritt zu verschaffen zu den Tatorten der Finanzkrise: Mit einem gepanzerten Geldtransporter fährt er zum Hauptsitz der großen Finanzfirmen, erklärt den Sicherheitsbeamten sein legitimes Vorhaben, das geklaute Steuergeld zurückzubringen und wird aus allen Lobbys geworfen. Die Regierungs- und Finanzgebäude werden von außen gezeigt und aus Untersicht. Das eine Mal, dass Moore es schafft in einen Raum der Macht vorzudringen, besucht er das Original der US-amerikanischen Verfassung. 

Dieser Raum lebt von Moores körperlicher Anwesenheit. Sein verständnisloses Gesicht im Interview über Derivate ist wichtiger, als die erklärten Inhalte, genauso wie sein hoffnungsloser Versuch ins Goldman Sachs-Gebäude zu sprinten nicht als ernsthafte Lösungsstrategie des Finanzbetrugs vorgeschlagen wird. Sein saloppes Auftreten vermittelt, er sei „einer von uns (US-Amerikaner*innen)“. Familienvideos, in denen er als Kind zu sehen ist, ein Rückblick auf den Film, den er über seine Heimatstadt Flint gedreht hat, sowie das Gespräch mit seinem Vater, geben das Gefühl, ihn zu kennen. Seine körperliche Anwesenheit nimmt den Räumen der Macht ihre scheinbare Unerreichbarkeit.


Abb. 33: Der Annotationstyp ‚Important Persons‘ zeigt, wann Michael Moore im Film zu sehen ist – also den Körper-Raum – ein konstanter Bildraum, der auf unsere geteilte konkrete Alltagswelt verweist und durch einen starken Bezug auf Moores Körperlichkeit besonders zugänglich ist.  Dort, wo Found Footage und der Dialogue Type ‚voice over (Michael Moore)‘ sich abwechseln und eine hohe Dichte aufweisen - das ist der mentale Raum, der Michael Moores subjektiven und assoziativen Zugang zur Finanz- und Politwelt darstellt. Der Rest der Dauer – der Bereich ohne hier abgebildete Annotationen, oder mit wenigem Voice Over - entspricht dem Raum der Welt, getragen vom US-amerikanischen Prekariat. Erstellt mit der Video-Annotations-Software Advene.
Abb. 33: Der Annotationstyp ‚Important Persons‘ zeigt, wann Michael Moore im Film zu sehen ist – also den Körper-Raum – ein konstanter Bildraum, der auf unsere geteilte konkrete Alltagswelt verweist und durch einen starken Bezug auf Moores Körperlichkeit besonders zugänglich ist. Dort, wo Found Footage und der Dialogue Type ‚voice over (Michael Moore)‘ sich abwechseln und eine hohe Dichte aufweisen - das ist der mentale Raum, der Michael Moores subjektiven und assoziativen Zugang zur Finanz- und Politwelt darstellt. Der Rest der Dauer – der Bereich ohne hier abgebildete Annotationen, oder mit wenigem Voice Over - entspricht dem Raum der Welt, getragen vom US-amerikanischen Prekariat. Erstellt mit der Video-Annotations-Software Advene.

Diese drei Bildräume bilden eine Triade aus Geist-Welt-Körper. Sie ergänzen sich mit Blick auf den ganzen Film zu einem subjektiven Bildraum, der sich an Michael Moores Person verkörpert und dabei einen affektiven und explizit wertenden Zugang zum abstrakten Raum der kapitalistischen Markt- und Finanzwirtschaft eröffnet. Größte räumliche Objektivität und inhaltliche Ernsthaftigkeit suggeriert der filmische Raum der Welt. Er verweist auf eine vor-filmische Realität der Gegenwart. Wohnungslose Familien zeigen die objektive Notwendigkeit für Wandel. Widerstand gegen Ausbeutung sowie selbstorganisierte Kooperativen eröffnen Räume der Selbstermächtigung. Der Raum des Körpers stellt die Verbindung zwischen dem Raum der Welt und dem mentalen Raum. Moore tritt als absolut menschlicher, verletzlicher, materieller Körper auf, er nimmt uns Zuschauende quasi an die Hand, damit wir uns gemeinsam der Übermacht der kapitalistischen Polit- und Finanzräume stellen. Das ist zwar nicht ganz ernstzunehmen, sichert aber die Sympathie für und Zugänglichkeit zum wichtigsten Bildraum – dem mentalen Raum. In diesem filmischen Raum verdichten sich objektiver Raum und objektive Zeit zu einem gänzlich subjektiven Raum, der lange Zeitspannen und weite Distanzen überbrückt und dabei Witze macht und Werte vermittelt. 

Der feierliche Schluss erzeugt einen affektiven Höhepunkt in solch einem mentalen Raum. Statt des humoristischen Effekts des Eingangsraums erzeugt der letzte mentale Raum Trauer, Betroffenheit und Wut. Wie am Anfang beginnt auch diese Sequenz mit der direkten Zuschaueransprache durch einen ernst blickenden Mann auf historisch-körnigem Filmmaterial (Min. 110). Er warnt nicht vor dem folgenden Horrorfilm, sondern vor den zukünftig drohenden Ungerechtigkeiten liberaler Marktwirtschaft. Ohne eine sozialrechtliche Ergänzung der US-amerikanischen Grundrechte, würde es keinen nachhaltigen Frieden geben können. Es ist der Präsident Franklin D. Roosevelt bei seinem letzten öffentlichen Auftritt vor seinem Tod. Moore erklärt, dass es sich um eine Radio-Ansprache handelt, von der ausgewählte Sequenzen als Newsreel im Kino zu sehen waren. Wir sehen eine Kleinfamilie im heimischen Wohnzimmer, bevor der Präsident den Bildschirm füllt. Der filmische Raum ist ambivalent, das Material verweist auf zwei ganz unterschiedliche Räume zugleich: Wir sind in F.D.R.s Büro und gleichzeitig in unzähligen US-amerikanischen Wohnzimmern, wo seine Rede damals live gehört wurde. Es folgen Bilder des Trauermarsches durch Washington, viele Großaufnahmen weinender Bürger*innen. Wir hören Moore den frühen Tod beklagen – der Tod Roosevelts wird gleichgesetzt mit dem Scheitern seines Vorschlags einer sozialen Ergänzung der Grundrechte. Die starke Affektwirkung der Gesichter in Großaufnahme wird von einer tragend-klagenden Vertonung eines alten irischen Gedichts verstärkt. „The Last Rose of Summer“ ist voll melancholischer Trauer des Verlusts. Die Gesichter der weinenden Menschen scheinen nicht Roosevelt, sondern die mit ihm gestorbene Hoffnung auf ein sozialeres, gerechteres Amerika zu betrauern. Dann Nachkriegsbilder zerstörter Städte im Wiederaufbau, neugegründeter Regierungen. Moore erklärt, dass die Alliierten, ganz im Sinne Roosevelts, Verfassungen für die besiegten Achsenmächte kreierten, die sozialere Grundrechte garantieren als in den USA. Wie um dem Verlust noch einmal ins Auge zu blicken, füllt die zweite Bill of Rights den Bildschirm, dann eine Schwarzblende und der historische Bildraum verwandelt sich in New Orleans 2005. Statt das Land zu werden, dass Roosevelt erhoffte, ereignete sich, wie Moore kommentiert, etwas anderes – „we became this:“ Überflutete Vorstädte, Schwarze Menschen auf Dächern, nachdem Hurricane Katrina ihre Häuser zerstörte. Es sind enorm prägende Bilder neuerer US-amerikanischer Geschichte. Sie sind bezeichnend für die sich-selbst-verstärkende Wirkung von Armut und Not: Es waren zu überwältigender Mehrzahl untere Einkommensschichten, die die größte Last der Zerstörung und Vertreibung trugen. Dies bewirkte einen nachhaltigen sozialen Wandel New Orleans‘, dessen politisches Kalkül Naomi Klein als „Verachtung für die Armen“ kritisierte (Klein 2017).

Die Bildräume der historischen Welt, die in diesem fulminanten Filmfinale geöffnet werden, sind nicht zu trennen von ihrer medialen Präsenz – vom elektronischen Raum ihrer Verbreitung. Der Fernsehauftritt Roosevelts, die Luftaufnahmen vom zerstörten Nachkriegs-Europa, die überfluteten Viertel New Orleans‘ – der filmische Raum, den sie erzeugen, reinszeniert affektive Erinnerungsbilder, die bereits beim ersten Erleben medial vermittelt waren. Er verdichtet zeitlich und räumlich weit entfernte Orte im Geist und stellt sie in einen größeren Zusammenhang – immer explizit von Michael Moores subjektivem Standpunkt aus.


4.3 Bildschirmraum im Bildraum – ein Vergleich

Die Analysen der Bildräume von CAPITALISM: A LOVE STORY und INSIDE JOB haben gezeigt, wie verschiedene Raumkonfigurationen verschiedene Zugangsformen zur historischen Finanzwelt ermöglichen. Bildschirmräume werden dabei auf ganz unterschiedliche Art und Weise eingebunden – als Träger subjektiver Assoziationen und Affekte, oder auch als Neutralität versprechende Faktenliferanten. 

Anhand der folgenden Beispiel-Sequenzen soll nicht nur die unterschiedliche Integration von Bildschirmräumen in die jeweiligen Bildräume der zwei Filme deutlich werden. Ebenso zeigt die Gegenüberstellung der Ausschnitte einen großen Kontrast in der Zuschaueradressierung. Während die Bildräume in CAPITALISM: A LOVE STORY eine mitreißende Sogwirkung erzeugen, die uns Zuschauende im Strudel der Wirtschaftsentwicklungen körperlich anspricht und mitreißt, erzeugt INSIDE JOB Distanz zu seinem Material. Zuschauende sollen Abstand gewinnen von der gezeigten Objektwelt durch die ständige Kontrastierung von Bild und Ton, zeichenhaftem Bildschirmraum und realistischem Bildraum, sowie Abstraktion und Konkretion.

Während animierte Statistiken negative Entwicklungen innerhalb Ronald Reagans Amtszeit aufzeigen, wie stagnierende Löhne, steigende Privatverschuldung und steigende Gesundheitsversicherungskosten, sehen wir am unteren linken Bildrand ein Foto des Präsidenten. Sein fotografisch gefrorenes Lächeln wirkt im Kontrast zu den dramatisch steigenden roten Kurven hämisch. Oberhalb der Kurven sehen wir Gesichter von Arbeiter*innen - die von den Statistiken negativ Betroffenen werden durch die bildliche Teilung mit Reagan kontrastiert. Dann ein bemerkenswerter Übergang: Bankfilialen im Vollbild, darauf folgen Bankangestellte vor Bildschirmen der 1980er Jahre, die wiederum abgelöst werden von den fröhlichen Gesichtern reicher Herrschaften mit Champagnergläsern in den Händen. Der zweite Teil animierter Statistiken wird hinterlegt mit Händen, die Kreditkarten vorzeigen und Checks schreiben, um den steigenden Lebenshaltungskosten durch Verschuldung zu begegnen, und heruntergekommenen Vorstadt-Häusern. Schlussendlich Michael Moore vor der New Yorker Börse, extreme Untersicht auf das Goldman Sachs Gebäude. Die abstrakten statistischen Werte werden an menschlichen Körpern konkretisiert, das affektive Potential der Empörung, das hinter den Zahlen verborgen ist, wird so spürbar.


Clip 1: CAPITALISM: A LOVE STORY (Michael Moore, USA 2009), Min. 00:21:00 – 00:21:47.

Clip 2: INSIDE JOB (Charles Ferguson, USA 2010), Min. 01:15:39 – 01:16:47.

Die Fotos der CEOs von Merill Lynch werden im Splitscreen mit ihren 8-stelligen Jahresgehältern oder digitalen Dokumenten über immens hohe Boni kontrastiert. Der flache, objektifizierte Raum des Fotografischen und der virtuelle, körperlose Raum des Elektronischen ergänzen sich gegenseitig zu blanker und unentrinnbarer Faktizität. Die Verharmlosungen des Finanzlobbyisten wirken bestürzend im Kontrast: Er beurteilt diese Vergütungsentscheidung mit der Note B, also einer 2. Die Schulnoten-Analogie wird durch Fergusons eiskalten Tonfall lächerlich, die Augenbewegungen des professionellen Rhetorikers wirken verdächtig. Eine Grafik zeigt AIGs Milliarden-Verluste – ein augenscheinlicher Widerspruch zur Entscheidung, den verantwortlichen CEO nicht zu feuern, sondern als hochbezahlten Berater weiter anzustellen. Die Begründung im Found Footage einer Sitzungsaufzeichnung: AIG wollte das „intellectual knowledge“ bewahren. Der Vertrauens-Kontrast zwischen den Räumen der Vertreter der Finanzbranche und den elektronischen Räumen der Zahlen, Fakten und Zeichen könnte nicht größer sein.

Der Börsencrash am 15. September 2008 wird ebenfalls hauptsächlich über Körper dargestellt. Eine schnelle Folge von Fotos bestürzter Gesichter in Großaufnahme, unterbrochen von Grafiken, die aus Fernsehnachrichten stammen und den rasanten Fall des Dow Jones, sowie folgende Firmenpleiten animieren. Während des Streicher-untermalten Höhepunkts rasen grün-gelbe elektronische Zeichen diagonal durch die schockierten Gesichter der Börsengänger*innen. Es sind die bekannten Zeichen-Zeilen, wie sie in allen Börsen der Welt und auch im Fernsehen die aktuellen Aktienwerte anzeigen: grobe, digitale Zahlen und Buchstaben; gewöhnlich bewegen sie sich langsam und konstant von rechts nach links. In dieser Montagesequenz strömen sie ungleich viel schneller, es sind viel zu viele zum Mitlesen und sie strömen diagonal und abwärts. Die Banker*innen und Anleger*innen werden bildlich von einem Strudel abstürzender Börsenwerte erschlagen. 


Clip 3: CAPITALISM: A LOVE STORY (Michael Moore, USA 2009), Min. 01:17:40 – 01:18:34.

Clip 4: INSIDE JOB (Charles Ferguson, USA 2010), Min. 00:57:20 – 00:57:50.

Auch hier beherrschen Zeichen den konkreten Raum gelebter Körper. Schriftsprache auf elektronischen Dokumenten belegt den Audiokommentar: Es wurde vor der Finanzkrise gewarnt. Ausgehend vom Bildschirmraum der Grafiken und der Schrift, funktionieren die Gesichter der jeweiligen Autoren bloß als Verankerung in der konkreten Welt. Ihre Einblendung stützt die Abstraktionen, die sie schufen. Der Bildschirmraum der Dokumente und der Klangraum des Audiokommentars dominieren.

Capitalism versucht virtuelle Zeichen, abstrakte Quantitäten und Fachwissen zu verorten und zu verkörpern. Mimik und Gestik tragen die dramatische Bedeutungsebene, die Zahlen und Zeichen zwar bedeuten, aber niemals affektiv vermitteln können. 

INSIDE JOB macht das Gegenteil: Sprache und Zeichen weisen menschliche Körper in ihre Schranken. Abstraktion dominiert Konkretion. Der Bildschirmraum ist glaubwürdig: Zahlen, Grafiken, Dokumente, TV-Nachrichten. Die Gesichter der Banker und Lobbyisten sind verlogen und betrügerisch – ob fotografisch gefroren oder filmisch beobachtet.


5.) Krise der Materialität

Sobchack beschreibt mit der Präsenz des Elektronischen die phänomenologische Dimension von Zeitlichkeit und Räumlichkeit, wie sie mit den Technologien des digitalen Bildes und rasant wachsenden elektronischen Datenstrudeln entstand. Die schwindende Bedeutung von menschlichen Körpern und die damit einhergehende schwindende „material integrity and moral gravity“ (Sobchack 2004: 161) erklärt sie mit der mangelnden Tiefe und Zentriertheit des elektronischen Raumes. Ich möchte dem die gefühlte Unbedeutsamkeit des eigenen Körpers, ja sogar der eigenen Anwesenheit vor dem Bildschirm hinzufügen. Diese ist gerade deshalb so problematisch, weil der Eindruck nicht der Wahrheit entspricht. Obwohl die ethischen Debatten, ob ein Ausstieg aus einem Sozialen Medium, oder das Nutzen einer Daten-schonenden Suchmaschine immer wieder an der schieren quantitativen Übermacht der Daten-Mogule scheitern, ist doch gleichzeitig gerade der virtuelle Bildschirmraum absolut abhängig von seinen Nutzer*innen – Google und TikTok produzieren nicht selbst, sie stellen Infrastruktur und sammeln Daten. Den cyberspace allein, einen abstrakten abgeschlossenen Raum hinter unseren Bildschirmen, der unabhängig von menschlichen Praktiken fortbestünde, gibt es nicht. Dennoch wird die Bedeutung des eigenen Handelns in und mit ihnen – sowohl für den elektronischen Raum, als auch für uns – notorisch unterschätzt.

Eine ganz ähnliche Fehleinschätzung bzw. -Wahrnehmung stellt Karin Knorr Cetina für die Finanzwelt fest. Diese lege nahe, 

„dass die Vorstellung einer räumlichen Umwelt auf den Bereich des Elektronischen ausgeweitet werden kann, indem dieser – zumindest für einige von uns – ein Ort zum Arbeiten und Leben wird. Das Problem solcher Vorstellungen besteht in der Implikation, Zeit vergehe in diesen räumlichen Umgebungen, sei für sie aber irrelevant“ (Cetina 2012: 48).

Die Gleichsetzung von „Lebenswelt und Bildschirmwelt“ vernachlässige die zeitliche Komponente der virtuellen Welt, in der sich Finanzmärkte zu einem großen Teil abspielen. Karin Knorr Cetina vergleicht die zeitgebundene Räumlichkeit des Bildschirmraums mit einem Teppich:

„Aber dieser Teppich setzt sich erst im Prozess des Ausrollens überhaupt zusammen. Die räumlichen Täuschungen, die er mit sich bringt, verhüllen die wesentliche Temporalität der Tatsache, dass sich seine Fäden (die auf dem Bildschirm erscheinenden Textzeilen) erst in den Teppich einweben, wenn wir darauf treten, und sich hinter unserem Rücken (die Zeilen werden aktualisiert und verschwinden) wieder auftrennen” (Ebd.).

Typisch für den elektronischen Raum, macht auch die „Bildschirmwelt“ des Finanzmarkts vergessen, dass wir diesen Raum selbst hervorbringen, dass wir ihn immer ändern, wenn wir ihn betreten, dass er sich stetig wandelt. Zwar sind alle Räume im konstanten Werden und zeitlich – die Vorstellung vom zeitunabhängigen Raum, wie ein ewiger, unzerstörbarer Weltraum-Behälter, ist überholt. Dennoch wird die Zeitlichkeit im elektronischen Raum immer kleinteiliger, kürzer und diskontinuierlicher, ebenso der Raum noch viel fragmentierter und flacher. Er ist nicht immersiv sondern omnipräsent. 

„Correlatively, this transformation of temporality changes the nature and qualities of the space it occupies. As subjective time becomes experienced as unprecedentedly extroverted and is homogenized with a transformed sense of objective time as less irrefutably linear than directionally mutable, space becomes correlatively experienced as abstract, ungrounded, and flat—a site (or screen) for play and display rather than an invested situation in which action counts rather than computes” (Sobchack 2004: 158).

Wir erleben uns selbst nicht als essentiellen Teil dieses elektronischen Raumes, obwohl allein menschliche Praktiken ihn konstituieren. Wir alle sind immer und überall umgeben vom Raum des Elektronischen, während der Arbeit und während der Freizeit, denn überall sind Bildschirme. Wir sind Teil dieses Raumes, wenn wir ein Telefon nutzen oder einen Laptop bedienen. Dennoch haben wir den Eindruck diesen Raum selbst kaum gestalten zu können. So bietet das Internet viele Möglichkeiten, eigene Inhalte medial zu teilen, Apps sammeln auch ungefragt persönliche Daten und Werbung ist algorithmisch individualisiert. Dennoch sind die gefühlten Aussichten, als Individuum an der grundlegenden Form des elektronischen Raumes substanziell etwas zu ändern, gering – und das, obwohl in schneller Folge neue Devices, Features und Algorithmen entwickelt werden und uns oft noch schneller um den Finger wickeln. 

Ähnlich verhält es sich mit der vielbeschworenen Finanzialisierung, die als eine der Ursachen der Finanzkrise anerkannt wird:

„Consumers are confronted daily with new financial products and financial ‘literacy’ is touted as a core competency. For many Americans, the leading stock market indices act as a kind of barometer for the economy as a whole. Gains in the market generate surges in consumer spending even where more tangible indicators of economic vitality, such as job growth or wage levels, lag behind” (Krippner 2005: 173).

Immer mehr Menschen, auch mit durchschnittlichem Einkommen, investieren in Kapitalanlagen mit immer größerem und immer schlechter nachzuvollziehendem Risiko. Die Zeitlichkeit dieses Finanzraumes der Spekulationen und Hoffnungen auf Wohlstand, sowie die Bedeutung der eigenen Partizipation in der Masse, rücken in den Hintergrund. Dabei wurde dieser billionenschwere Raum immer leichter zugänglich – die subprime mortgages auf US-amerikanische Häuser oder letztendlich wertlose Wertpapiere von Lehman Brothers, die kurz vor der Pleite noch zu tausenden an ahnungslose Sparer*innen verkauft wurden, sind nur die bekanntesten Beispiele.

Ich denke, das Problem kann auch allgemeiner als Krise im Verhältnis von Abstraktion und Konkretion beschrieben werden: Der Finanzsektor erschuf immer mehr abstrakten Reichtum. Die Bedeutung von Zeichen auf Bildschirmen für die Weltwirtschaft steigt, während die Bedeutung von materieller Produktion, materiellen Körpern und materiellem Wohnraum abnimmt. Die Finanzkrise machte diese Krise der Materialität eklatant: Verschiedene elektronische Räume, wie der Bildschirmraum der Finanzwelt, die vielen animierten Grafiken, die sie repräsentieren sollen, oder auch die schwer verortbaren TV-Studio-Räume scheinen sich abgekoppelt zu haben von den Räumen gelebter Körper: Bauruinen, stillstehende Fabriken, gepfändete Häuser, Menschenmassen auf der Straße.

Nichts anderes beschreibt die Metapher der Blase – anstatt sich wie eine virtuelle Schalung um den Immobilienmarkt zu legen, oder ihn wie ein Kapital-stellendes Gerüst zu stützen, blähte sich der Raum des Finanzmarktes so schillernd wie eine Seifenblase um über 10 Millionen letztendlich gepfändete US-amerikanische Häuser auf, und das Platzen zerstörte weniger den abstrakten Finanzraum als den konkreten Lebensraum unzähliger Vorstädte und Wohnviertel.

Begreifen wir die Finanzkrise als Symptom des Wandels unseres phänomenologischen Raumes, wirft das ethische Fragen auf: Wie kann Handlungsmacht entstehen in einem Raum, in dem die Präsenz von Körpern überschattet wird von der Präsenz des Elektronischen? Zwar teilen wir die Erfahrungsform eines multimedialen Raumes als zerstückelter, omnipräsenter bildlicher Raum, aber dies führt nicht zu der gemeinsamen Erfahrung einer objektiven, ‘vor-bildlichen’ Realität. Nicht nur mangelnde Intersubjektivität ist die Folge – noch entscheidender ist das Fehlen von Interobjektivität. Diese steht, laut Vivian Sobchack, in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis mit Intersubjektivität. Denn Subjektivität, also ein wahrnehmendes, fühlendes, denkendes und verkörpertes Bewusstsein, können wir gerade deshalb auch in anderen erkennen und nachempfinden, weil wir uns selbst, genau wie alles andere, auch als materielles Objekt wahrnehmen – unsere Körper sind nicht gänzlich unserem Willen unterworfen. Bewusstseinserfüllte Körper sind zugleich subjektive Objekte und objektive Subjekte.

„(A)s intersubjectivity is a structure of engagement with the intentional behavior of other body-objects from which we recognize what it objectivly looks like to be subjective, so interobjectivity is a structure of engagement with the materiality of other body-objects on which we project our sense of what it subjectively feels like to be objective” (Sobchack 2004: 316, Hervorh. im Orig.).

Im gleichen Maße wie wir selbst nicht nur unser subjektives Bewusstsein, sondern auch unsere materielle Körperlichkeit wahrnehmen, müssen wir diese räumliche Verletzlichkeit und zeitliche Begrenztheit auch für andere Körper anerkennen, um ästhetisch wahrzunehmen und ethisch zu handeln. Fehlende Interobjektivität ist ein Symptom der Krise der Materialität: Während wir über ganz viel intersubjektiv akzeptiertes Wissen über Ungerechtigkeit verfügen, teilen wir selten das interobjektive Gefühl, diese Ungerechtigkeit am eigenen Leib zu erfahren.

Während Intersubjektivität die Abstraktion von der eigenen Wahrnehmung des Anderen als Objekt, hin zum Erschließen seiner Subjektivität meint, vollzieht Interobjektivität eine Bewegung vom intentionalen Anderen zurück zur Wahrnehmung des eigenen, konkreten Körpers. Denn obwohl Subjektivität und Objektivität sich gegenseitig bedingen, und niemals zu trennen sind, es ist doch möglich etwas rational zu verstehen, ohne es körperlich nachzuempfinden – so wie wahrscheinlich Glenn Hubbard die unethischen Ursachen der Finanzkrise versteht. Ebenso ist es möglich, etwas körperlich zu spüren, ohne die Ursachen zu verstehen – wie ein Kind, dessen Haus in Folge der Finanzkrise zwangsgeräumt wurde.

Fehlende Intersubjektivität ist weder Ursache noch Folge der Krise der Materialität, die den Raum des Elektronischen im Allgemeinen und den Raum der Finanzwelt im Speziellen prägt. Das neoliberale Subjekt eines globalen Kapitalismus gilt als universell frei und leistungsorientiert – es könnte über seine objektiven (prekären) Bedingungen hinauswachsen. Medialer Austausch sowie der Zugang zu diversen subjektiven Meinungen und situierten Wahrnehmungsweisen war global gesehen vielleicht niemals so zugänglich, wie im Internet-Zeitalter. Es ist Interobjektivität, die uns abhanden kommt.

In der Auswertung von INSIDE JOB und CAPITALISM: A LOVE STORY sollen die Bildräume beider Filme und ihr unterschiedlicher Zugang zur historischen (Finanz-)welt sowohl auf Intersubjektivität, als auch auf Interobjektivität untersucht werden. 


6.) Konklusion

INSIDE JOB und CAPITALISM: A LOVE STORY nutzen die Möglichkeiten des kinematischen Raumes um elektronische Räume der Finanzkrise zugänglich und bewertbar zu machen. Sie orten ihre Zuschauenden im alltäglichen Diskontinuum des Elektronischen, kombinieren Räume mit starkem Bezug zur vor-filmischen Realität mit Räumen, die bloß Zahlen und Zeichen animieren, und schaffen Bildräume, die über die Dauer der Filme klare Haltungen angesichts der Finanzkrise hervorbringen. In der Ansprache der Körperlichkeit ihrer Zuschauenden könnten sie allerdings nicht verschiedener sein.

CAPITALISM: A LOVE STORY lädt seinen verkörperten Blick affektiv auf, und vermittelt eine klare, wertende Haltung, die nicht versucht mit Objektivität zu überzeugen, sondern gerade durch unverhohlene Subjektivität tiefe Einblicke in unsere geteilte historische Welt vermitteln will. Selbst die abstraktesten Räume wie statistische Grafiken und animierte Aktienwerte werden in Capitalism an Körper gebunden und verortet. Wirkmacht entsteht gerade durch Körperlichkeit: Es sind die filmischen Räume Moores körperlicher Anwesenheit, wo die mächtigen Räume der Finanz- und Politikwelt zugänglich werden, wo eine Konfrontation stattfindet. Dabei wird die Objekthaftigkeit des personifizierten Filmkörpers von Michael Moore deutlich: Outfit und Figur weisen ihn als Mensch aus der konkreten Welt aus – er ist kein polierter Schauspieler einer alltagsfernen Film- und Fernseh-Welt. Seine wenig elegante Leiblichkeit kämpft in ihrer menschlichen Begrenztheit gegen verschlossene Türen und Sicherheitsbeamte. Keine Superkräfte und keine Allwissenheit versetzen ihn in die Lage gegen mächtige Institutionen zu kämpfen. Moores Körpereinsatz in den filmischen Körper-Räumen aus Capitalism ist lächerlich naiv, nicht heldenhaft. Er ist verletzlich. Es ist diese dort erfahrbare Interobjektivität, die die anderen filmischen Räume, den der Welt und den des Geistes, verbindet. 

Mentaler Raum als chaotisches Mosaik aus ironischer Sprache, emotionaler Musik und fragmentierten heterogenen Bilden, lädt zur Identifikation ein. Besteht nicht unser aller mentaler Raum ebenfalls zu einem Großteil aus Found Footage – also aus Medien? Dass dieser subjektive filmische Raum aber tatsächlich etwas über unsere historische Welt aussagt, bzw. auch aktiv in sie eingreift, verdankt er seiner verkörperten Zuschaueradressierung. Wir begegnen der Welt auf Augenhöhe, im Bewusstsein der geteilten körperlichen Beschränktheit von Michael Moore, vom Filmkörper, von uns Zuschauenden. Eine zutiefst menschliche Interobjektivität wird spürbar, getragen durch Affekte des Vertrauens zu Moore und Mitgefühl mit den unterprivilegierten Menschen, die er in ihrer materiellen Not besucht. Affektivität widerspricht hier nicht der Fähigkeit zu urteilen, Selektivität ist kein Hindernis für Glaubwürdigkeit. 

INSIDE JOB hingegen erzielt Objektivität durch Entkörperung. Der Film urteilt zwar ebenfalls streng über die historische Finanzwelt, doch der Blick, der uns Zuschauenden geboten wird, ist körperlos und übermenschlich. Er ist nicht Teil dieser Welt, sondern überblickt sie distanziert und allmächtig. Er kennt kein Mitgefühl für Schuldige und kann selbst den professionellsten Rhetorikern hinter die Fassade blicken. Rückblicke auf TV-Material, Einblicke in elektronische Abstraktionen, und Überblicke über artifizielle Landschaften kombinieren sich zu einem Blick, der keinen Ursprung hat, er ist überall und nirgendwo, genauso wie die Stimmen von Matt Damon und Charles Ferguson. Sprache herrscht über die Bilder, wird häufig gegen sie ausgespielt. Gerade weil Kommentator und Interviewer nie sichtbar und somit nicht verortbar sind, ist ihre Position nicht hinterfragbar, nichts lässt an ihrer Verlässlichkeit und ihrem Wissen zweifeln. Explizit wertend wird ihre Sprache selten – die Momente sind dafür umso wirksamer. Dabei kommt es oft zu einer  Diskrepanz zwischen Bild und Ton. Die Mimik der Interviewees und der Fotografierten wird angesichts der sprachlichen Aussagen von Charles Ferguson und Matt Damon hinterfragt, ihre Glaubwürdigkeit in Zweifel gezogen. Die Worte von Politiker*innen und Profiteur*innen der Finanzkrise werden kontrastiert mit Zahlen und Schriftsprache, die ihren Aussagen widersprechen: Abstrakte Räume ermächtigen sich über konkrete, Bildschirmräume zeigen die ‚Wahrheit‘ wo konkrete räumlich verortete Menschen lügen. Der filmische Raum von INSIDE JOB macht die Finanzkrise überblickbar, verdichtet ihre entferntesten Bereiche, und macht uns Zuschauende für gut 100 Minuten zu Finanzexpert*innen, die sogar Glenn Hubbart durchschauen können. Der körperlose Bildschirmraum der Dokumente, Grafiken und Texttafeln wird durch seine Einbettung in den vertrauten Raum des TV-Found Footage, den affektiven Raum des Interviews, und den schwebend körperlosen Raum des transzendentalen Überblicks zugänglich - allerdings nur durch eine übermenschliche Position.

Während CAPITALISM: A LOVE STORY seinen phänomenologischen Filmkörper an Michael Moore personifiziert, ruft der transzendentale Blick in INSIDE JOB psychoanalytische Kinotheorie in Erinnerung. Baudry kritisierte „ein Bild, das die Welt widerzuspiegeln scheint, aber ausschließlich in der naiven Umkehrung einer stiftenden Hierarchie“ (2003: 34). Doch der elektronische Raum des 21. Jahrhunderts hat wenig gemein mit dem Kino als Apparat und die Finanzkrise hat keine vor-bildliche Realität. Vielmehr wurde hier eine dem kinematischen Raum (früher) angekreidete Eigenschaft für eine Ermächtigung im elektronischen Raum nutzbar gemacht – das beängstigende Machtgefälle zwischen scheiternden Finanzabstraktionen und den konkreten Zuschauenden umgekehrt. Durch die Entkörperung des Kamerablicks wird die Welt für das Auge begründet. Unbewusst nehmen wir Zuschauende uns als ihr Schöpfer wahr. „Die Macht des Subjekts (scheint sich) zu vergrößern“ (Baudry: 34). Dies ist in Bezug auf die Finanzkrise nicht nur wünschenswert, ist doch das Gefühl von Ohnmacht die vielleicht wichtigste Erklärung für ihre Konsequenzlosigkeit. Wir waren und sind auch tatsächlich Schöpfer*innen der Abstraktionen, die die Finanz(über)macht ermöglichen. 

Allerdings bestätigt der körperlose Bildraum von INSIDE JOB die Übermacht des Elektronischen und des Abstrakten, anstatt sie zu kritisieren. Die Affektwirkung dieses sachlich und distanziert anmutenden Raumes ist schwächer, denn er appelliert an die Rationalität seiner Zuschauenden, nicht an körperliches Mitgefühl. Der Bildraum in INSIDE JOB ist göttlich – allwissend, über alles erhaben, und unerreichbar. Er lässt Glaubwürdigkeit und Objektivität in einem körperlosen, nicht verortbaren Raum entstehen, gebaut aus Abstraktionen.

In Capitalism verhält es sich genau andersherum: Je konkreter und verkörperter, desto vertrauenswürdiger wird der filmische Raum. Schlussendlich bleibt es eine ethische Frage, welcher Bildraum sich besser eignet zum Urteilen über die Finanzkrise – der gottgleiche distanzierte körperlose Blick von oben, der vorgibt alles zu sehen und zu wissen, aber dabei in eine faktisch unmögliche Position einlädt und dem Bedeutungsverlust von Materialität und Körperlichkeit im elektronischen Raum unseres Alltags mit einer filmischen Form von Entkörperung und Abstraktion begegnet. Oder der begrenzte, affektive, menschliche Bildraum eines konkreten gelebten Körpers, mit dem sich filmisch identifiziert werden kann, der aber auch die Begrenztheit seiner Macht und seines Wissens nicht leugnen kann. 

Der Bildraum in INSIDE JOB überschreitet die Grenzen abstrakter Räume, wie den virtuellen Raum riesiger Zahlen und komplexer Zusammenhänge der Finanzmärkte, und den affektiven Raum der Verantwortlichen der Finanzkrise. Der Bildraum in Capitalism überschreitet Grenzen konkreter Räume, wie den Hauptsitz von Goldman Sachs und den provisorischen Wohnwagen einer Familie nach der Zwangsräumung. Angesichts der immensen Ausmaße der Finanzkrise, die abstrakte Räume genauso beeinflusst wie konkrete, mediale Räume ebenso wie private, bleiben noch einige Grenzen einzureißen. Eine Diversität von Bildräumen – samt der Einbindung von Bildschirmräumen – die viele unterschiedliche Zugänge zur Polit- und Finanzwelt ermöglichen, bleibt angebracht. Dabei darf der Bedeutungsverlust von Körpern und Materialität im omnipräsenten Raum des Elektronischen aber nicht außer Acht gelassen werden – es braucht filmische Strategien der Verkörperung, die Handlungsmacht spürbar machen und trotzdem den Überblick behalten.


Bibliografie

Baudry, Jean-Louis: Ideologische Effekte erzeugt vom Basisapparat. In: Robert F. Riesinger (Hg): Der kinematographische Apparat. Münster 2003.

Kappelhoff, Hermann: Der Bildraum des Kinos: Modulationen einer ästhetischen Erfahrungsform. In: Gertrud Koch (Hg.): Umwidmungen - architektonische und kinematographische Räume. Berlin  2005.

Kappelhoff, Hermann: Kognition und Reflexion: Zur Theorie filmischen Denkens. Berlin 2018.

Klein, Naomi: How power profits from disaster. The Guardian (2017). In: https://www.theguardian.com/us-news/2017/jul/06/naomi-klein-how-power-profits-from-disaster (letzter Zugriff: 28.3.2021).

Knorr-Cetina, Karin: Von Netzwerken zu skopischen Medien. In: Herbert Kalthoff / Uwe Vormbusch (Hg.): Soziologie der Finanzmärkte. Bielefeld 2012.

Krippner, Greta R.: The financialization of the American Economy. In: Socio-economic Review 3 (2005), S. 173–208.

Nichols, Bill: Introduction to Documentary. Bloomington 2017.

Sobchack, Vivian: Carnal thoughts: Embodiment and moving image culture. Berkeley, California 2004.


Filmografie

BLOOD FEAST. Herschell Gordon Lewis, USA 1963.

CAPITALISM: A LOVE STORY. Michael Moore, USA 2009.

INSIDE JOB. Charles Ferguson, USA 2010.

LIVE IN ANCIENT ROME. William Deneen & John Eadie, GB 1964.